1. Platz beim 27. Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerb
Schnee von gestern von Andrea Behrens
Weißt du noch? Der Tag, an dem ich deine Seele fand und sofort wieder verlor?
Du hattest sie in einem alten Arbeitshandschuh versteckt, auf einer Parkbank im Lessingpark. Ausgerechnet im Lessingpark, wo die Penner rumlungern, die Heimatlosen, Ruhelosen. Praktisch jeder hätte ihn da mitnehmen können. Es war ein guter Handschuh, echtes Leder und feste, orange Nähte. Schmutzig, das ja, und er roch wie etwas, das oft nass geregnet und in der Sonne getrocknet, als Putzlappen benutzt, vollgepinkelt und von winzigen Völkern bewohnt worden war. Aber ein Handschuh ist ein Handschuh, und wer im Lessingpark verkehrt ist nicht zimperlich, das weiß man ja. Also war es ein Glück, dass er noch da war.
Ich hatte das Haus verlassen, um halb fünf, und war links gegangen, die Nietzsche runter, über das sonnenfleckige Pflaster. (An Sonnabenden, Dienstagen und Mittwochen gehe ich links, es war Dienstag). Ich sah auf den Fußweg, ich trat nicht auf die Ritzen, ich sah nicht zu dem Fenster zurück, zweiter Stock links, das unser Fenster gewesen war, bevor es zu meinem Fenster wurde. Du weißt, warum. Das Fenster, ohne das Bild, das da hinein gehört, ist nur noch ein leerer Rahmen, ein schwarzes Loch. Das Bild, das in das Fenster gehört, zeigt einen Mann mit Brille und schwarzem Bart. Der Bart lässt ihn aussehen wie Captain Haddock aus Tim und Struppi, hat jedoch den Vorteil, sein fliehendes Kinn (deine Worte) zu verbergen, und der immer an etwas nippt oder abbeißt oder saugt (Bourbon, Knäckebrot, Zigarette). Er schaut dabei herab auf die Straße, doch niemals zu mir, er schaut mir nicht hinterher, weil er nicht zu dieser Sorte Mann gehört. Ohne diesen Mann ist das Fenster ein leeres Loch, eingerahmt von unbewohnten Balkonkästen, Backsteinen und verblichenem Markisenstoff. So wie die ganze Wohnung nun ein leeres Loch ist, eine eckige Kulisse aus Raufaser und Furnierholz, in der ich herumstolpere und mich fremd fühle, zwischen deinen Leitz-Ordnern, Hanteln, Stofftaschentüchern und Brillenbändchen, sinnlose Requisiten. Das Haus, die Birken davor, der Himmel darüber stapeln sich um das Loch herum und ich wundere mich, dass sie nicht hineinfallen, dass sie sich nicht verändern, all die Jahre lang.
Eine Weile schaffte ich es, nicht auf die Ritzen zu treten und dabei meine Schritte zu zählen, dann musste ich einem Bengel auf einem Roller ausweichen und von vorne anfangen. In der 44a standen im Erdgeschoss alle Fenster auf Kipp, jemand spülte Geschirr und pfiff dabei die Titelmusik von Jeopardy, ich hörte ein Faxgerät anspringen, wahrscheinlich versehentlich angerufen, denn wer verschickt heute noch Faxe, keiner. Ich roch den Müll aus den Tonnen. Ich weiß, warum Müll immer gleich riecht, überall auf der Welt, du hast es mir erklärt. Chemisch gesehen, hast du gesagt, besteht alles, was mal gelebt hat, aus denselben Bausteinen. Kohlenstoff. Wasserstoff. Stickstoff. Und noch ein paar anderen Atomen. Ob abgeknipster Fingernagel, verblühte Tulpe, vergessenes Schulbrot, platt gefahrener Frosch: Die Bausteine sind immer ähnlich und werden zu einem ähnlichen Geruchsbouquet verwandelt. Halitosis mortem, der Mundgeruch des Todes. Ha-zwei-Es. En-Ha-drei. Zeh-oh-zwei. Ha-zwei. Zeh-ha-vier. Auch ich und du und Müllers Kuh. Eines Tages.
Da wo die Nietzsche zur Lessing wird, hört das Pflaster auf und der Asphalt fängt an. Keine Ritzen mehr, bloß ein rauer Flickenteppich aus grau und grauer, staubig, schorfig, rau wie Hühnerfüße. Je näher ich dem Büdchen auf dem Lessingplatz kam, desto mehr Müll, Kippen und platte Kaugummis sprenkelten den Boden. Jahrzehntealtes Sediment aus zermahlenen Scherben, Tabakkrümeln und Kronkorken, festgetreten von Säufersohlen, gesprenkelt von Schnaps, Bier und Rotze. Marlies stand vor dem Zeitungsständer und ordnete ihre Magazine. (Was sollte sie sonst auch groß tun, denn das Geschäft lief ja nicht mehr). Zwei ihrer pakistanischen Verehrer lungerten an den Stehtischen herum. Sie winkte mir zu, doch ich hatte keine Lust auf ihre Geschichten, ihren Leberwurstatem und ihren bitteren Kaffee, deshalb schaute ich in die andere Richtung und überquerte den Platz wie jemand, der eine eigene Welt besitzt und tief in ihr versunken ist.
Ich sah den Handschuh schon von weitem. Du hattest ihn mit dem Daumen nach oben drapiert, sodass es wie eine Anhaltergeste aussah. Ganz dein Humor. Ich fand es nicht besonders witzig, doch ich war froh dich gefunden zu haben, so froh, dass ich leise lachte. Natürlich war die Bank schmutzig. Traubendreck und zermatschte schwarze Beeren klebten darauf, doch ich setzte mich trotzdem. Wir waren lange getrennt gewesen, vier Monate lang. Ja, ich war so froh, dass ich sofort losplappern wollte, doch ich wollte nicht zeigen, wie aufgeregt ich war, also sagte ich wie jedes Mal „Hast nichts verpasst“ und du sagtest wie jedes Mal „Hoffe nur es ist Bourbon im Haus.“
Über uns raschelte der Wind in diesen dürren Bäumen, deren Namen ich immer vergesse und wir beide waren zusammen. Plötzlich war wirklich Sommer. Die Luft war dick und warm und voller Staub und Flusen und Mücken. Die Studenten lagen auf den Wiesen. Sie trugen abgeschnittene Jeanshosen und die Frauen bunte, kurze Röcke. Rot lackierte Zehennägel schauten vorne aus ihren Schuhen heraus. Nur die Penner trugen ihre lange Hosen, langen Bärte und zogen nicht einmal ihre langen Mäntel aus. Damit sie ihnen niemand klauen konnte, wahrscheinlich. Irgendwo in den Straßen klingelte ein Eiswagen.
Weißt du noch? Es begann zu schneien. Aus dem ausdruckslosen Himmel lösten sich winzige farblose Fetzen, die leise und nachdenklich zu uns runter schwebten. Zuerst nur wenige, dann immer mehr. Eine Schicht aus hellem Flaum legte sich über uns wie leichter Schlaf. Die Bank wurde traumstrandweiß. Keiner konnte uns mehr sehen. Der Wind spielte mit den Bäumen wie mit riesigen Pusteblumen. Baum-wolle, dachte ich und du sagtest Quatsch, Samenfasern der Pappelfrüchte. Die bestehen nur aus Zellulose und besitzen keine Stickstoffatome und folglich keine Proteine. Deshalb sind sie hypoallergen und werden von der Zeitschrift Ökotest für Allergiker empfohlen. Ich schaute mich um, auf die Wege, die Wiese, die Bänke, ob sie von Allergikern genutzt wurden um ein Vollbad in Pappelsamen zu nehmen, doch nein, wir waren jetzt allein. Vögel verwenden sie für den Nestbau, sagtest du. Doch auch Vögel waren keine zu sehen.
Hast du mich vermisst? fragte ich. Ich wusste, dass das eine dumme Frage war und dass du sie nicht beantworten würdest. Aber vier Monate sind eine lange Zeit, jedenfalls für die, die übrig geblieben ist. Vier mal dreißig oder einunddreißig Tage und vier mal dreißig oder einunddreißig Nächte. Wobei die Nächte doppelt zählen müssten, wenn es nach mir ginge. In der Nacht, wenn es dunkel ist und still, finden dich die Gedanken, vor denen du bei Tag weglaufen konntest. Sie finden dich alle. Wenn Mitternacht vorüber ist, fordern sie dich zum Tanz auf. Und du kannst nicht Nein sagen.
Ich vermisse dich, sagte ich.
Ich bin doch da, sagtest du.
Nein, sagte ich, zu viel fehlt.
Gesang aus dem Bad: Fehlt.
Atmen und Murmeln in der Nacht: Fehlt.
Eine Hand, mit fünf warmen Fingern dran, die meine halten, wenn die doofe Frau im Krimi ausgerechnet in den Keller geht, wo der Mörder auf sie wartet: Fehlt!
Körper sind trügerisch. Damals, in der Klinik, meinte ich, wenn ich dich nur fest genug halte, kannst du mir nicht verloren gehen. Ich dachte, dass der warme Körper in meinen Armen mir ein Versprechen geben könnte, mit all seiner Masse, seiner Wärme, dem Pulsieren unter der Haut, den unzählbaren magischen Reaktionen, die im Verborgenen passieren, ganz ohne dass wir uns jemals darum kümmern müssen. Als wäre er wie die Erde unter meinen Füßen oder der Himmel über meinem Kopf. Aber das stimmt nicht. Körper verschwinden und sie tun es so vollständig, dass nichts bleibt. (Abgesehen von Ha-zwei-Es, En-Ha-drei, Zeh-oh-zwei, Ha-zwei und Zeh-ha-vier, irgendwo unten in der lautlosen Schwärze unter Granit, Wurzeln und Bodendeckern, immergrün, winterhart).
Nach den Körpern verschwinden ihre Abdrücke in der Welt. Kleidung verliert den Geruch seiner Träger. Kissen finden in ihre alten Formen zurück. Haare rutschen in den Abfluss. Die Welt zuckt mit den Achseln und dreht sich weiter.
Und das ist nur der Anfang. Wenn uns aufgeht, dass die Abdrücke auf den Dingen verschwunden sind, geht es ans Eingemachte. Dann verschwinden die Erinnerungen. Jeden Tag eine, mindestens. (Die genaue Zahl kann man das nicht wissen, weil Erinnerungen nicht durchgezählt sind. Deshalb nennt man sie zahllos. Zahllose Erinnerungen). Heute weiß ich zum Beispiel noch genau, wie dein Kiefer beim Gähnen geknackt hat. Wie sehr du Motten gehasst hast, und Rollkragenpullover. Welche Zahlenfolge du beim Lotto getippt hättest, wenn Lotto kein Blödsinn wäre, auf den nur Leichtgläubige hereinfallen. Wenn ich will, kann ich deine Stimme in meinem Kopf etwas sagen lassen, zum Beispiel: Das glaubst du doch wohl selber nicht, und es klingt, als wärst du da. Wenn ich möchte, kann ich das Geräusch hören, dass dein Bart gemacht hat, wenn du mit dem Daumen darüber gerieben hast. Mit dem Strich, gegen den Strich, mit dem Strich. Immer drei Mal. Doch der Geruch deiner Haut, das Gefühl, sie zu berühren, der Geschmack deiner Küsse kann kein Wille mehr lebendig machen. Sie sind die Träume vergangener Nächte, Echos verklungener Lieder. Sie sind mir entglitten. So verlassen Geliebte einander auf die grausamste aller Arten, scheibchenweise, jeden Tag ein Stück mehr.
Jetzt denk mal an was Anderes, sagtest du. Und wie immer, wenn ich mal an etwas anderes denken wollte, dachte ich meine Liste bemerkenswerter Wörter. Teewagen, dachte ich. Geigerzähler. Artischockenherzen. Wackelkontakt. Funkstille. Herbstzeitlose. Als mir die bemerkenswerten Wörter aus gingen, schaute ich in den Mülleimer neben der Bank. Oreo. Chio Chips. Benson & Hedges.
Ich schloss die Augen und wünschte mir, es ginge ein Paar an uns vorüber. Ein Liebespaar, zwei Studenten vielleicht. Es tut mir gut zu sehen, dass diese Art von Geschichten sich trotz allem wiederholen. Dass sie nicht aussterben wie Telefonzellen oder Tanztees oder Butterbrotpapier. Nenn mich sentimental, ist mir egal. Die Liebe darf nicht von der Erde verschwinden. Ohne sie wären wir alle am Ende. Du sagst manchmal, Liebe lohnt sich nicht, doch da liegst du falsch. Liebe lohnt sich, auch wenn sie manchmal vertrackt ist und am Ende immer weh tut. Liebe ist schön. Schöner, als der schlimmste Schmerz schlimm sein kann.
Weißt du noch? Was dann passierte? Der Pappelschnee fiel immer dichter. Die Zwischenräume zwischen den Flocken wurden kleiner und das Sonnenlicht tropfte träge hindurch wie geronnene Milch. Es roch nach ungemachten Betten, nach Betonstaub und Vergangenheit. Möglicherweise habe ich ein bisschen geweint, doch die Pappelsamen kümmerten sich darum. Sie umflatterten mein Gesicht wie Motten eine Straßenlaterne, setzten sich auf meine Wimpern, strichen über meine Wangen und kitzelten mich, bis ich wieder lächelte. Möglicherweise machte mich das übermütig. Möglicherweise ein bisschen zu sehr. Jedenfalls, ich nahm den Handschuh, er war leicht, leicht wie Samenkapseln oder Seidenkokons, wie halb verwehtes Laub, ich schob die Finger der rechten Hand in die Öffnung und tastete nach dir. Ohne Aufforderung und ohne um Erlaubnis zu fragen. Ich hielt dich, wie ich etwas Frischgeschlüpftes halten würde, vorsichtig und zuversichtlich zugleich. Es war ein gutes Gefühl dich so zu halten. Ich wollte dich mitnehmen, einfach so, über die Wiese, über die Wege. Wie ein Liebespaar sollten wir durch den Park laufen, Hand in Hand, uns umeinander drehen, tanzen! Leute, seht her: Captain Haddock und sein Mädchen. Seht ihr, wie leicht sie ihre Schritte setzen? Seht ihr das Leuchten um sie herum? Das sind zwei, die im Himmel füreinander gebacken wurden. So etwas gibt es heute gar nicht mehr.
Wie gesagt, es war Übermut im Spiel. Die Flocken wirbelten wie verrückt, als würde ein Riese die Welt schütteln, wie eine Schneekugel mit allem drin, den Bäumen, den Bänken und Wiesen und uns. Alles um uns herum, zum Tanzen aufgefordert, begann sich zu drehen, erst langsam, dann immer schneller. Die Farben verwischten zu streifigen Schlieren, kreiselten um uns herum. Ich kreiselte mit, ich lachte, ich schrie! Sonnenstrahlen blendeten mich, ich schloss die Augen und sah alles, was vorher hell gewesen war in dunkel und alles, was vorher dunkel war in hell. Halt mich! schrie ich, halt mich fest! Und ich sah in dein Gesicht und ich fühlte, wie du mich fest hieltest, fest umschlungen, so fest, als könnte keine Kraft des Universums uns jemals wieder auseinander reißen. Im nächsten Moment schlug mich etwas von hinten nieder, so dass die Luft aus meinen Lungen zischte wie aus einem kaputten Luftballon. Mein Hinterkopf, der Rücken, die Beine wurden kalt und klamm. In der darauffolgenden Stille, die so eng war, dass weder Schmerz noch Angst in ihr Platz hatten, verhandelte ich hart mit meiner Lunge um die nächsten Atemzüge, einer nach dem anderen. Zeit verging. Zwischendurch, als es mühsamer wurde, dachte ich an den Tod, wie an etwas, das in Reichweite liegt, sodass ich nur die Hand danach auszustrecken brauchte. Wie die Brille auf dem Nachttisch, oder das Wechselgeld, das auf der ausgestreckten Hand der Kassiererin liegt.
Als ich die Augen öffnete, war die Welt geblümt. Kleine violette Veilchen auf einem sahneweißen Grund. Ich roch Leberwurst und Kaffee. Marlies hielt mich im Arm wie ein Baby, drückte mich an ihren geblümten Busen, legte mich wieder ab, guckte dann streng auf mich runter. Ihre Doppelkinne zitterten, als ihr Mund sich bewegte. Er ging auf und zu, immerzu. Ihre Lippen waren mal ganz breit und mal ganz klein und rund, doch was sie sagte, war in diesem Moment nicht interessant genug oder zu weit weg. Ich sehnte mich zurück nach der Stille zwischen den Sternen. Außerdem wusste ich sowieso, was kam. Was nämlich immer kommt: Hätte nicht rennen sollen. Hätte nicht trinken sollen. Mal lieber was Anständiges essen. Überhaupt was essen. Wasser trinken. Medikamente nehmen. Hättehätte Fahrradkette. Viel zu mühsam, ihr zu erklären, dass es darum schon lange nicht mehr ging: ein gutes Leben führen, gesund sein, funktionieren. Das, liebe Marlies, war Schnee von gestern.
Marlies stellte mich mit dem sicherem Griff auf die Beine, den sie mit Generationen ihrer Stammtrinker geübt hat. Sie klopfte an meinen Klamotten rum, während ich den Handschuh aus dem Rinnstein zog. Er war noch staubiger geworden, er stank und er war vollkommen leer. So leer wie ein Bett, in dem niemand mehr schläft. Ein Paar Schuhe, die niemand mehr trägt. Eine Wohnung im zweiten Stock links. Sie bestand darauf, mich nachhause zu bringen. Ich wartete im Hausflur, bis sie um die Ecke verschwunden war. Dann ging ich langsam wieder raus, dieses Mal nach rechts (auch wenn Dienstag war) und machte mich wieder auf den Weg, um den Teil deiner Seele zu suchen, der bei mir bleiben wird, für immer.