26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Solveig Schlembach

Verschollen

Alan und Louisa schlenderten durch den Charity-Hope-Park. Ihnen voran flitzte Finn, ihr 5jähriger Sohn. Er sammelte Steine und Zweige, kletterte hinter Käfern her und freute sich, als ein Schmetterling in seiner Nähe gaukelte. Louisa griff nach Alans Hand. Sie kräuselte ihre Nase. “Schön hier.” Alan gab ihr einen leichten Schubs. “Das sagst du jedes Mal.” Louisa kicherte. “Weil es stimmt!” “Eigentlich ist es jedes Mal dasselbe”, erwiderte Alan. Es war eines ihrer Lieblingsstreitgespräche. “Eigenbrötler”, befand Louisa und drückte sich an Alans Schulter. Wenig später deutete sie mit dem Finger. “Sieh mal. Muss neu sein.” Direkt vor ihnen stand eine steinerne Skulptur. “Sieht ja scheußlich aus”, kommentierte Alan. Louisa zuckte die Schultern. “Ist eben moderne Kunst.” Das war eher etwas nach ihrem Geschmack, schließlich hatte sie Innen-Architektur studiert und interessierte sich für Kunstobjekte jeder Art.

Die Skulptur, die, eingeflankt von turmhohen Manna-Eschen, auf der Wiese thronte, war etwa zwei Meter hoch, aus glattem rötlichen Gestein und wies mehrere unförmige Löcher auf. Finn turnte darum herum, fingerte mit seinen Fingerchen in den Höhlungen des Steines herum und warf seinen Eltern einen neugierigen Blick aus großen leuchtenden Augen zu.

“Finn, komm da weg”, rief Louisa. Und leiser: “Wer weiß, wie viele Hunde da schon dran gepinkelt haben?”

“Und ob es nur Hunde waren”, gab Alan zu bedenken und grinste dazu.

Aber Finn, abenteuerlustig geworden, zog sich an der Skulptur empor, steckte seinen Oberkörper durch die nächst gelegene Öffnung und purzelte hinüber auf die andere Seite des Steines.

“Mein Gott, Finn!”, stöhnte Louisa, in Gedanken schon den heimischen Wäscheberg vor Augen. Alan gluckste leise, ließ die Hand seiner Frau los und lief davon, um seinen Sohn zu bergen. Er umrundete den Stein. Kam stirnrunzelnd wieder zum Vorschein und rief alarmiert: “Ist er bei dir?”

“Nein, wie denn?”, gab Louisa erschrocken zurück.

“Das darf doch nicht …” Alan lief noch einmal um den kompletten Stein herum, und hastete gleich weiter, den nächst gelegenen Baumriesen entgegen. Louisa rief bereits in jammerndem Tonfall. “Finn? Bitte Schatz, mach keinen Unfug! Komm zu Mami!” Die ersten Fußgänger drehten sich um und beäugten neugierig das junge Paar. Rentner blieben stehen, ignorierten ihre Hunde, die ungeduldig vorwärts drängten. “Was ist denn los?”, fragte eine Frau mit rotem Hut. Alan antwortete nicht, lief weiter, rufend, bittend, allmählich zweifelnd. Auch Louisa entfernte sich von der Stele. In der Nähe war ein Bach, fiel ihr eben siedend heiß ein und sie wusste genau, was selbst ein flaches Gewässer mit Kleinkindern anstellen konnte …

Ein junger Mann blieb stehen, auch er hatte einen Sohn an seiner Seite. Einen kleinen Mann, jünger als Finn, mühsam auf einem Laufrad balancierend. Der Mann blieb stehen, erfasste mit einem Blick seinen Sohn und machte doch ein paar helfende Schritte auf Louisa zu. “Was ist passiert?”, fragte er sanft und griff nach ihrem Arm. “Ich habe keine Ahnung!”, rief Louisa panisch. “Gerade eben war mein Baby noch da!” Die Verzweiflung in ihrem Blick wurde zu der des jungen Vaters. Der absolute Alptraum war eingetreten: Ein kleines Kind war verschwunden! Louisa fühlte sich hilflos, zutiefst verwundet. Ohne Fassung.

Alan kam zurück und verzog gequält das Gesicht. “Jemand muss ihn mitgenommen haben!” Er musterte kurz den anderen, erkannte in ihm einen Seelenverwandten und warf einen Blick auf das andere Kind, den unversehrten Sohn.

“Unser Sohn krabbelte durch diesen Stein!”, erklärte Alan hastig und deutete zurück zu der modernen Geschmacklosigkeit, als die er die Skulptur jetzt empfand.

“Sollen wir die Polizei rufen?”, fragte der junge Vater.

In diesem Moment wurde ein neuer Ruf laut. Eine Frau schrie in heller Panik einen Namen: “Samantha!”

Alan und Louisa liefen los, der Verzweiflung einer anderen Mutter entgegen. Louisa fasste nun ihrerseits nach der Fremden und wisperte panisch: “Was ist passiert?”

“Meine Tochter war gerade noch hier! Sie spielte an diesem scheußlichen Stein und jetzt …” Der Rest des Satzes ging in ungläubigem Geheul unter.

Alan umrundete wieder den Stein und steckte – sämtliche Naturgesetze anzweifelnd – seinen Arm durch die obere Öffnung.

“Was treibst du da?”, rief Louisa wütend. “Kannst du ihn sehen?” Alan bewegte seine Hand auf und ab.

“Natürlich sehe ich deinen dämlichen Arm! Was soll das überhaupt?”

Die andere Mutter war zu Boden gesunken. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte hemmungslos. Alan dachte sekundenlang darüber nach, wie sie das tun konnte? Aufgeben. Jetzt, nach dieser kurzen Zeit! Hatte die andere ihn bei seinen Bemühungen beobachtet? Hatte sie erkannt, dass hier Kräfte am Werk waren, die man nicht beherrschen konnte? Was, um Himmels Willen,war hier bloß los?

“Maman?” Ein kleiner Junge kugelte plötzlich auf der Wiese herum, unweit der abstrakten Stele. Louisa, die eben noch neben der anderen Mutter gekauert hatte, sprang auf die Füße und lief los. Sie stolperte, fing sich im Lauf ab und warf sich nach vorn.Gerade wollte ihr Alan nachbrüllen: “Was tust du da bloß? Das ist nicht unser Sohn! Kannst du nicht erkennen -” Doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Denn der Kleine, unübersehbar sein Kind, hatte längst die Arme um Louisa geschlungen.Die schluchzte auf und hielt den kleinen Sohn fest an sich gedrückt.

Alan kam bei den beiden an, sank zu Boden und umfasste seine Familie. Ihm war, als würde die Anzahl seiner Arme nicht ausreichen, um die beiden festzuhalten. Und auchsein Herz fühlte sich längst nicht groß genug. Louisa hielt den Kleinen jetzt auf Armeslänge von sich und fragte: “Finn?” Denn das Kind, ihr Sohn, schien geschrumpft. Maximal drei Jahre alt. Sein Haar war heller und es fehlten auch ein paar Zähnchen. Wie war das möglich?

“Louisa, er ist es doch, oder?”, hauchte Alan.

“Natürlich ist er es!”, schnappte Louisa und dachte bei sich, so etwas konnte auch nur ein Vater fragen. Ein Mann, der dieses Kind nie in sich getragen hatte, dem die allerengste, die feine Verbindung zwischen Mutter und Kind fehlte. Einfach fehlen musste.

“Aber …”, stammelte Alan. “Er ist viel kleiner. Und überhaupt.” Alans Stimme erstarb. Finn, sein Sohn, musterte ihn aus hellen Augen. Dann streckte er seinen Zeigefinger aus und berührte sanft Alans Nase. Er murmelte: “Dede?”

Alan runzelte die Stirn und sagte: “Dad.” Der Kleine grinste schelmisch und verbarg sich an Louisas Schulter.

“Samantha?” Die Stimme der anderen Mutter schnappte plötzlich über. Sie rappelte sich auf, lief ein paar Schritte und beugte sich über ein Baby, dass plötzlich auf der Wiese erschienen war. Es war ein Mädchen, komplett in eine rosa Rüschenscheußlichkeit von einem Kleid gehüllt.

Alan lief zu ihr hinüber. “Ist das Ihre Tochter?”, fragte er atemlos.

“Ja, das ist sie. Auf jeden Fall ist sie das!” Die Frau hob glücklich ihr Kind in die Höhe und drückte es an sich. Dann sah sie zweifelnd zu Alan auf und flüsterte: “Ehrlich. Ich kapiere überhaupt nichts! Meine Tochter war eben noch acht Jahre alt!”

Alan machte große Augen. “Unser Sohn hat zwei Jahre verloren, mehr oder weniger …”

“Was ist hier bloß los?”

Der zweite Vater, diesmal hielt er seinen Dreijährigen fest an der Hand, gesellte sich zu ihnen. Er hielt ein Handy ans Ohr. “Die Polizei ist auf dem Weg hierher.” Alan sah zu ihm auf. “Wir müssen den Stein abdecken! Nicht, dass noch mehr Kinder verloren gehen!” “Ja, laufen Sie!”, drängte Samanthas Mutter. Noch immer hielt sie ihr Kind auf dem Schoß.

Alan setzte sich in Bewegung. Inzwischen waren auch Louisa und Finn bei Samantha und deren Mutter angekommen.

Louisa ließ sich erschöpft ins Gras sinken. “Hi. Ich bin Louisa.” 

“Maggy”, machte die andere.

“Oliver”, erklärte Oliver. “Und das ist mein Sohn Jo.”

Jo´s Laufrad lag in der Nähe. Achtlos in der Wiese zurück gelassen. Wieso mache ich mir darüber Gedanken?, fragte sich Louisa müde. Finn sagte etwas zu ihr. Louisa verstand kein Wort.

“Was ist, Schatz?”

Finn wiederholte seine Worte. Und als Louisa ihn verständnislos anstarrte, fing er an zu jammern.

“Ich verstehe ihn nicht!”, sagte Louisa. Panik kroch in ihr hoch. Was war mit ihrem Kind passiert?

“Er spricht französisch”, erklärte Oliver.

“Können Sie ihn verstehen?” Louisas Blick wurde flehend.

Oliver zuckte die Schultern. “Vielleicht ein paar Brocken?”

Er fragte Finn etwas. Der antwortete stockend.

“Er hat Hunger.”

“Ah. Okay.” Louisa kramte in ihrer Umhängetasche und holte einen Müsliriegel daraus hervor. Finn schlug in ihr aus der Hand. Samantha krabbelte vom Schoß ihrer Mutter und machte sich auf den Weg zur Leckerei.

“Oh mein Gott! Ich fange von vorne an”, entfuhr es Maggy.

“Wenigstens brauchen Sie Ihrem Kind keine neue Sprache beizubringen!”, rief Louisa

entnervt.

“Nein. Ich muss bloß Windeln kaufen”, überlegte Maggy laut. Sie war Louisa nicht böse.

Sie alle steckten schließlich in dieser unglaublichen Geschichte.

Wo die Polizei bloß blieb?

Oliver hatte eine Idee. “Würden Sie bitte Jo bei sich behalten?”, fragte er Maggy, die er für die Vernünftigere der beiden hielt. “Ich möchte etwas ausprobieren.” Maggy nickte und angelte nach Jo, der sich gerade eine Eichel in den Mund stopfte. Wo er die wohl her hatte? In der Nähe wuchsen keine Eichen.

Oliver lief davon, schnappte sich das Laufrad und steckte es kurzerhand durch das Loch der Stele. Dort blieb es stecken, so wie er es beabsichtigt hatte. Für den Moment war das steinerne Monster also gesichert. Die übrigen Öffnungen waren zum Glück zu klein, um hindurch zu klettern. Befriedigt kehrte Oliver zu den anderen zurück.

“Was ist mit dem Hinterteil passiert?”, erkundigte sich Maggy. Sie fand den jungen Mann

sympathisch. Und so allein-erziehend, wie sie nun einmal war, konnte sich vielleicht eine

lockere Freundschaft ergeben? …

Oliver sah zurück zur Stele. Tatsächlich, das Vorderteil des Laufrades war zu sehen, der hintere Teil nicht.

“Also zur Hälfte verschollen?”, gluckste Maggy.

Oliver bewunderte sie dafür, die Dinge schon wieder leicht zu nehmen. Aber was baumelte da am Hals ihrer Kleinen?

Jetzt bemerkte Maggy es auch: An Samanthas Hals schmiegte sich ein silberner Anhänger. Es war eine Marien-Figur. Als Maggy sie umdrehte, erkannte sie lateinische Schriftzeichen auf der Rückseite.

“Ihre Kleine war wohl in Italien?”, scherzte Oliver. Aber so richtig lustig fand das keiner der drei.

Alan kehrte zurück. “Wo warst du denn?”, fragte Louisa misstrauisch, denn schließlich war es Oliver zu verdanken, dass die Steinstele außer Gefecht gesetzt war. Vorerst.

“Ich habe ein anderes Elternpaar beruhigt, die hinten bei der Picknickwiese nach ihrem

Kind gerufen haben. Zum Glück falscher Alarm!” Alan setzte sich ins Gras. Ihm war schwindlig. Teils vor Glück und teils vor Aufregung.

“Und, was macht unser Kleiner?” Alan fing erleichtert seinen Sohn auf, der ihm gerade in die Arme stolperte.

“Dede”, sagte Finn wieder und grabschte nach Alans Sonnenbrille.

“Dad”, wiederholte Alan geduldig.

“Er spricht jetzt französisch!”, erklärte Louisa spöttisch.

Alan hatte Nachsicht mit ihr, das alles war schließlich zu viel. Die Parkaufsicht näherte sich im Laufschritt.

“Sind Sie das Pärchen, das ihr Kind vermisst?”, fragte einer der beiden Männer, ein grauhaariger Typ mit Schnauzbart.

Alan winkte ab. “Ist wieder aufgetaucht.”

“Meine Tochter war auch verschwunden!”, meldete sich Maggy. “Wann kommt die Polizei?” Sie blinzelte gegen die untergehende Sonne.

“Ist verständigt.” Der zweite, ein junger Mann mit kahl rasiertem Schädel, aber gutmütigem Blick, nickte. Dann deutete er mit dem Finger. “Sind das wirklich Ihre Kids? Ich hab gehört …”

Jetzt nahmen die glücklichen Eltern ihre Umgebung allmählich wieder wahr: Tatsächlich, in einiger Entfernung hatten sich Trauben von Menschen gebildet. Man unterhielt sich aufgeregt, deutete mit Fingern und Handy´s. Louisa verdrehte die Augen. “Können Sie nichts dagegen unternehmen?” Ihre Finger piekten in Richtung der Schaulustigen.

“Was glauben Sie denn?” Der Ältere verzog nun seinerseits genervt das Gesicht.

“Hauptsache, Ihren Kleinen ist nichts passiert!”

Sein Kollege horchte auf. Endlich war sie im Anmarsch. Die Polizei. Freund und Helfer in der Not. Peter Durham, FBI-Sonderermittler aus Chicago, schloss die Akte. Inzwischen war das moderne Kunstwerk aus dem Park entfernt. Man hatte es eingelagert, tief im geheimen Bunker unter Arizonas Wüste. Es hatte sich heraus gestellt, dass die Stele 800 Jahre auf dem Buckel hatte. Ein europäischer Bildhauer hatte sie hergestellt. Sein Name längst in den Annalen der Zeit verloren.

Nur eines hatte man heraus gefunden: Auch er war und blieb nach Beendigung seiner Arbeit plötzlich verschollen.

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