26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN
Simon Muff
Kein Pandemie-Tagebuch
Meine Frau und ich bewohnen je ein Stockwerk, wir fühlen uns jung damit, wie zu WG-Zeiten. Theoretisch können wir uns jeden Abend fragen »Zu dir oder zu mir?«
Mit den Jahren merkten wir dann, es tut manchmal gut, oder Not, oder … wenn man sich zurückziehen kann. Aus dem Weg gehen, haben wir nicht nötig, da wir beide einen Job im Außendienst haben. 2020 eher hatten, ›Homeoffice‹, Fuck Anglizismen! Pandemie stammt wenigstens aus dem Griechischen, auch wenn die Geschichtenerzähl-Wahrheitsdefinierer im Mythos der Pandora wieder mal der Frau Dummheit und oder Bosheit angehängt haben.
Wir lebten harmonisch und zufrieden zusammen, ›zu mir oder zu dir?‹ eben, bis ich mir wohl im Auto einen Klimaanlagenschnupfen einbrockte, der Grenzen und Werte für mich in ein neues Licht hustete.
Ich hatte es zuvor schon als Befreiung empfunden, den Mundschutz abzulegen, wenn ich den kaum noch existenten öffentlichen Raum verließ. Nachdem ich beim Gegenüber nur die Augenpartie sehen kann, fällt ein Großteil der Naherkennung im Gehirn flach, ich benötige mehr Konzentration, nehme mir mehr Zeit. Und siehe da: Ich habe sie. Mal was Gutes an Korona; ein Beweis des Allgemeinplatzes ›Zeit hat man nicht, man nimmt sie sich.‹
Just ›begegnet‹ man den Nächsten wieder im Sinne des Wortes, die sozialen Verflechtungen treten deutlicher hervor. Das Sprechen unter der Maske fällt mir schwer, ich überlege vorher, ob und wie welche Mühe sich rechtfertigt. Vom ›3000 Wörter pro Tag‹ Unterschied der Geschlechter mal zu schweigen, können schöne immerhin Frauen tragen, was sie wollen, denn nichts entstellt sie, auch keine Gesichtsmaske. Bei Männern ist das anders, fiel mir auf, als die einzige mir passende Gesichtsmaske, die meine Frau mühevoll aus einem Sortiment der ihr bekannten Selbstnäherinnen besorgt hatte, die Farbe Rosa trug. Aus Prinzip sicherte ich mir noch eine schwarze Maske. Nach einigen Minuten Schwarz tragen, verrutscht sie meist und der Druck des Haltegummifadens klappt mir ein Ohr um. Ich will nicht wissen, wie lächerlich es aussieht, bis durch hektisches Fingern alles wieder sitzt, ich erleichtert die warme, abgestandene Luft einatme, nur um in zwei drei Minuten dasselbe Problem zu lösen, wie Sisyphos den Hügel hinabstolpernd und meine Hände zu den Ohren greifen. Wenn ich danach im Auto die Maske abnehme, denn öffentliche Verkehrsmittel sind pandemie-technisch ›out‹, ich bekäme Ärger, fürchte eingeschränkte Bewegungsfreiheit zu Hause aufgrund freiwillig verhängter Quarantänemaßnahmen, beim Abziehen der Maske eben, scheint es mir, als ich einen Maulkorb herunterreiße: Endlich frei! Erleichtert sauge ich die erwärmte Klimaanlagenluft ein, schmecke die mit Aerosolen des Interieurs durchsetzte Freiheit.
Dann springt mich der Gedanke geradezu an, dass besonders das Kulturleben, ein Anker unserer Gesellschaft, auf dem Grund liegt, eingehakt an einem Riff. Die Ankerkette des Schiffs unseres öffentlichen Lebens, beladen mit Abstrakta aus Staat, Bürger, Gesetz, neoliberalen Märchen, stürzt sich ins Wasser, in die Dunkelheit zu einem Meeresboden hin voller Lügenartefakte. Die Wellen schwappen ins Boot und es droht zu kentern, während die Ankerkette durchtrennt wird und der Nachen, eher einem Holzfloß ähnelnd, nach rechts abtreibt. Grenzwertig, so zu ankern. Milliarden für Ausbeutung, während die Verfechter des Zwischenmenschlichen an der Ankerkette am Grund sich festklammern, das Boot zu halten, bis ihnen die Luft ausgeht, vergessen, von Algen bedeckt.
Zurück zu den Grenzwerten: Aufgrund meines Schnupfens bestand meine bessere Hälfte nun darauf, dass ich auch zuhause Maske trüge, in den gemeinsam benutzen Räumen. Zu was Instant-Messenger-Systeme alles taugen: Ich meldete mich per Nachricht an, ein menschenfreier Korridor wurde geschaffen, der Aerolose wegen. Zuvor dachte ich, ich atme nur, weit gefehlt. Aerosole erzeuge ich! Dazu muss ich ergänzen, ich bekomme des Öfteren, Niesattacken, insbesondere morgens. Eine Dauer von ein bis zwei Minuten mit bis zu vierzigmal Niesen ist keine Seltenheit. Dem hält keine Gesichtsmaske aus Papier stand. Dem zufolge wurde ich auf mein Stockwerk verbannt. Zugegebenermaßen beflügelte auch meine Neugier die Bereitschaft, mich testen lassen. Schließlich wollte ich meine Bewegungsfreiheit zurück. Was ich nicht bedachte, wenn das Ergebnis positiv ausfiele, dehnte sich die heimische Quarantäne von zwei Wartetagen aufs Resultat, auf die gesamte Vierzehntagedauer aus. Meine Frau muss ich wirklich loben: Essen aufs Stockwerk, perfekte Rundumversorgung.
Testtag: Stau, Parkhaus, Teststation finden, Stäbchen im Hals, würgen, Formulare. Da streckte die Morgensonne ihre Finger nach den Kuppeln der Frauenkirche aus, und in Erwartung eines positiven Befunds, sozusagen als Präventiv-Quarantäne-Belohnung, setzte ich mich auf einen Espresso in ein Straßencafé. Wieder Formulare, Telefonnummer, … nur ein anderer Tisch war besetzt. Ein Mann mittleren Alters, schütteres Haar, erstes Bier um zehn Uhr.
Gegenüber öffnete das Restaurant-Café und die Außenbestuhlung, gerade bereitgestellt, füllte sich. Abgelegte Masken, gezückter Schmink-Kontroll-Spiegel. Elegante Hüte auf ältlichen Damenfrisuren, Humphrey-Bogart-Imitate auf fettig-dünnem Künstlerhaar. Teure Sakkos, mondäne Kleider, abgespreizte Finger verscheuchen die Aerolose beim einstudierten Höhenflug der Kaffeetasse zum Lippenstift. Und doch meine ich, eine gewisse Art Dankbarkeit zu fühlen, oder Zusammengehörigkeit, wie sie von den Tischen auf den Boden tropft, über den Bordstein fließt und sich ausbreitet und Raum gewinnt, öffentlichen Raum, den Viren zum Trotz.
Eine neue Zusammengehörigkeit? Abweichungen sieht ›man‹ grenzwertiger. Eines nicht zu fernen Tages kodieren Viren vielleicht Informationen? Eine Impfung für den treuen Staatsbürger vertreibt Zweifel und Sorgen, eine fürs Kind lehrt Sprechen oder gleich eine Fremdsprache? Kein Studium mehr nötig, kein Lernen, inhärente Wunscherfüllung, die Viren lagern sich an den Neuronen an und geben Nachrichten weiter, bilden neue Denkmuster. Kodieren die Lebenserwartung aufgrund der gesammelten Sozialpunkte. Nur ein Scherz, bloß keine Verschwörungstheorie!
Es gibt keinen Zufall, alles hängt zusammen, oder esoterisch: Alles ist in allem enthalten.
Die Freiheit des Menschen besteht im Handeln gegen die eigene Vernunft. Wenn der Schrei des Adlers schallt, kündet er dem Menschen die Freiheit der Winde in den Höhen der Ungebundenheit. Allein im Blau seines Blickes sieht der König der Lüfte, dass er im Kreise fliegt.
Jedoch generiert Macht Wissen, da sie Wahrheit definiert. Es gibt keine ideologiefreie Erkenntnis.
Wieder Verschwörung? Nun, Geschichte und Gesellschaft sind nicht planbar. Das Internet fragmentiert die Öffentlichkeit. Es entstehen Echoblasen und Filterkammern.
Verschwörungstheorien setzen ihre Voraussetzungen als Dogma, benutzen ein mechanistisches Weltbild, um ihre Theorie vom Ende her zu erzählen. (Bleibt in diesem beschränkten Weltbild zu fragen: Warum werden die Wissenden und Renegaten nicht beseitigt, wenn die Verschwörer so mächtig sind?) Komplexitätsreduktion, um Identitätsgefühl zu vermitteln, den gesunden Menschenverstand in den Vordergrund rücken, um von mangelndem Fachwissen abzulenken. Überdeckung logischer Mängel erfolgt durch formale Kohärenz, die Meinungen (!) Dritter werden als vermeintliche Belege angeführt. Letztlich ersetzen Verschwörungstheorien die seit der Aufklärung verlorengegangenen Götter, um dem Menschen Halt in einer komplexen Welt geben. Der antipluralistische Populismus findet seine Vereinfachung im Prinzip ›Volk‹ gegen ›Elite‹ und untermalt dies mit Nostalgie. Quo Vadis Pandora?
Zurück zur sehnsüchtigen Erwartung eines Serums, die ich für mich selbst so sehr erhoffe, wie ich die Immunisierung fürchte, denn ich habe schon einen Impfschaden. Globalisierung, Dienstreisen, Impforgien, na ja alle paar Monate mal drei Tage Fieber, muss gehen!
Der Einsatz eines Serums soll uns das gewohnte Leben wiedergeben. Ja, für jedes einzeln gerettete Leben fühle ich Dankbarkeit. Aber zurück zum neoliberalen Postkapitalismus? Nein, bitte kein Gießkannenprinzip-Steuergeldausschüttungen für kranke Industrien. Das Zeitalter der individuellen Mobilität geht vorüber, die Rohstoffe zur Neige, Überkapazitäten-Reduktion bleibt tabu, Grundeinkommen, Nachhaltigkeit, öffentlicher Personenverkehr schleppen sich mühsam voran. Mir scheint, viele Verantwortliche ziehen ein Leben in Luxus vor, anstatt sich um ihr Bild in Geschichtsbüchern zu sorgen.
Kehren wir vor der eigenen Haustür? Ist das nicht eine Ausrede? Ja ja, die drei Affen …
Und die angeblich stützende Mitte der Gesellschaft? Sind das nicht die Kulturschaffenden? Kultur als Mörtel, als Kit, als Klebstoff, als Kettenglied des Sozialen?
Oder nur ein Pleonasmus?
Ein aus der Zeit gefallener Anachronismus
Frisst die Kulturindustrie.
Seelen robben mühsam voran,
Korona nagt am Packeis,
schwindet Lebensraum von Apoll und seinen Musen,
treibt er dahin, ein Eisbär auf der Scholle,
dessen Brüllen, aus der Zeit gefallen,
der arktische Wind verweht.
Der Rest des Tages? Parkhaus, im Auto: Desinfektion, zuhause: mein Zimmer, Telekonferenzen, E-Mail, Schlafen. Der Ausschnitt des Fensters zeigte vorbei ziehende Wolken, weiß, fett, später grau. In der Nacht fiel Regen, die gereinigte Luft atmet sich am nächsten Morgen leichter.
In der Isolierung denke ich an E.A. Poe’s Erzählung ›die Maske des roten Todes‹. In Zeiten der Pest isoliert sich ein Fürst mit seinem Hofstaat in seinem Schloss, feiert rauschende Feste; Karneval, bis ein Gast als ›roter Tod‹ die Maske abnimmt, seine Pestbeulen zeigt, und die Feiernden zu sich bittet.
Da lobe ich mir Boccaccio, in gleicher Situation handelt das Dekameron wenigstens von der Liebe, auch wenn auch stets ohne Happyend: Sie kriegen sich nie!
Von Camus und der seitenlange Listen füllenden SF-Literatur ganz zu schweigen, frage ich mich, wie weit uns institutionelle Angst treiben kann?
Wie im Mittelalter? Die einzige Desinfektionshilfe bestand in Niederbrennen, bis zu den Hexen. Schuldige benötigt das Gemeinwesen! Da erscheint der Brauch, den Sündenbock aus dem Dorf zu treiben, geradezu kultiviert. Klärt sich eine Infektionskette, beginnt auch heute noch das Kesseltreiben. Schluss mit lustig, da fliegen schnell mal die Steine. Die Politik heuchelt Überraschung, pocht auf Werte und Grenzen, gerne blendet man das Prekariat und dessen Notlage aus. ›Homeoffice‹ macht’s möglich. Wie lange noch brodelt der Kessel, tanzt der Deckel auf dem Feuer ausbeuterischer Ungleichheit, angeheizt mit kapitalfaschistischen Interessen? Wem gehört der öffentliche Raum? Dem staatlichen Gewaltmonopol in Uniform, oder der Gesellschaft, die den Staat bildet? Kein Pardon für Gewalt, nie! Aber wen wundert es?
Kameltreiber mit Kriegsrhetorik, Karussellstrategen planen Krampfmaßnahmen, Quarantänezonen je nach Kassensturz, pochen auf Konsensgesellschaft, Klopapier-Koexistenz, Kassandrarufe der Kreativwirtschaft verhallen klassenlos ohne Koitus, keimfrei im Kollaps. Quo vadis Pandora? Quo vadis Grenzüberschreiterin?
In der Nacht hatte ich einen Alptraum von einem Seelenkessel: Teufel kochen herbeiströmende Seelen zu einem dicken Brei ein, den sie in Reinkarnationsflaschen abfüllen. Ein Fließband befördert die Gefäße übers Fegefeuer ins Paradies. Dort greifen sich die Engel die Flaschen und transportieren zur Erde, um sie abzuwerfen und eine neue Individualseele, wie es sie nie zuvor gegeben hat, erwacht zu neuem Leben.
Zum Start des Tages schob sich eine graue Wolkendecke über die Sonne, gelegentlich grell durchstochen von den Fingern aus Licht. Tag der Erlösung oder Tag des jüngsten Gerichts? Ist es nicht einerlei? Ist nicht der Sonnenaufgang Beginn einer Abenddämmerung? Ist nicht der Morgenstern auch der Abendstern? Der Stern, der uns zu lieben mahnt?
Die Nachricht, eine erlösende E-Mail, bleibt aus, lässt auf sich warten, ziert sich. Ich fühle mich wie ein Ertrinkender in einer Schleuse. Eingefahren in das Reich der Isolation, steigt das Wasser und hebt mich empor. Strudel schäumen, ich rudere mit den Armen. Werde ich lange genug schwimmen können? Was werde ich auf gleicher Höhe auf der anderen Seite der Schleuse erblicken? Der Klos im Hals bereitet mir Schluckbeschwerden.
Ich vertreibe mir die Zeit mit Fernsehen aus der Dose, wie schon die Tage zuvor. Wenn mich die Einsamkeit aus zigtausend lichtemittierenden Diodenaugen anstarrt, wenn bei aktuellen Nachrichten die hundertfache Auswahl an Gedankenbrei mein Gehirn aussaugt, dann starrt mich aus Facettenaugen über heraushängendem Saugrüssel die öffentliche Meinung an.
Bilder des Tests tauchen auf, die Decke der Zelt-Zelle beim Test: Abgeplatzter Putz an zwei achtlos gebohrten Löchern blickte zurück. An befestigten Haken hielten Schnüre die glatte weiße Seitenwand, welche die Nachbarstation abtrennten, damit kein Austausch die Abgeschiedenheit der öffentlichen Meinung stört.
Ich schalte den Apparat ab und greife nach dem Mobiltelefon. Beim Weiterwischen der Zeitung auf dem kleinen Bildschirm erscheint ein Foto der neuen EU-Kommission.
Darüber kommt ein Bedienfeld zu liegen, das verkündet »Weiteren Inhalt laden«.
Der Knopf befindet sich direkt über dem Kopf der Kommissionschefin. ›Inhalt laden‹, frage ich mich, ob ihr das hilft? Inhalt, ja da liegt er – der Knopfdruck für eine neue Politik.
Allein, wem fällt das noch auf, wo die K(n)öpfe zu liegen kommen?
Wie könnte ein postkapitalistischer Neustart aussehen? Mit verantwortungsvollen Politikern? Ich muss lachen, gut, dass mich niemand sieht.
Ideen gäbe es ja: Bürgerinitiativen statt Wertekonsensus, man unterstellt die sogenannten ›Experten‹ den Laiengremien, ein Hoch auf den gesunden Menschenverstand und seine mangelnde Sachkenntnis! Dann erlaubt man nur noch Genossenschaften statt Kapitalgesellschaften. Begründung?
Man kann die philosophische Welt in Vor- und Nach-Herakliter einteilen, anstatt Sokratiker. Der erschuf einen Humanismus aus logischen, aus sophistischen Gründen, wenn auch mit massiver Hilfe des Xenophanes. In unserer pluralistischen Gesellschaft kann eine Toleranz der Wertetraditionen entstehen. Das Ziel ist das Zusammenwirken kleiner Gemeinschaften in einer prinzipienlosen Gesellschaft, denn ›die Qualität der Menschen geht den Staat nichts an.‹ Menschlichkeit und ihre Polarität: Vorstellungskraft und Lüge, Leidenschaft und Tod, Genuss und Gier. Allein die Praxis zählt, nicht der Relativismus oder gar der Rationalismus. ›Objektivität ist das Resultat einer erkenntnistheoretischen Kurzsichtigkeit, sie ist keine philosophische Leistung.‹
Eines Tages blicken wir zurück auf diese Tage, Monate, Jahre. Ich insbesondere auf meinen Entschluss, mir kurz vor dem Lock-Down einen Anzug zu kaufen. Allein ich tat es nicht, er hätte danach auch nicht mehr gepasst.
Das gute alte Telefon hat mich dann gerettet, ich rief an. Quo vadis Neustart? In denselben Grenzwerten?