26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Kerstin Hübner

Ein perfekter Tag

Die beiden hatten mich in ihre Mitte genommen und duldeten gelassen meine hopsenden Tempowechsel. Keine drohende Spannung strömte von der schwieligen, sehnig kräftigen Hand, die meine Rechte fest umschloss, durch mich hindurch und hinüber zu der weichen, unruhigen Hand, die ich mit meiner Linken umklammerte. Die Welt war in ein unwirklich helles, blendend fröhliches Licht getaucht. Das Grün an beiden Seiten des Weges war von märchenhafter Giftigkeit. Die Saale, obschon ihres natürlichen Bettes beraubt und in eine seelenlose Gerade gezwungen, spiegelte das beißende Licht so bewegt wider, dass sie zu neuer Lebendigkeit erwacht schien. Wie viele Male hatten wir diesen Weg schon zurückgelegt, sonst nur wir beide, meine Hand fest in ihrer, und wie musste ich sonst meine Füße antreiben, um mit ihrem von Pflicht getriebenen Takt Schritt zu halten, doch nie hatte die Böschung in diesem Grün geleuchtet, nie die Saale blau geglitzert, nie hatten Blumen am Wegrand gestanden. Als ich meine rechte Hand dem festen Griff ungestüm entriss, um die Blumen zu streicheln, gab sie mich frei, während Sebastian an meiner Linken bereitwillig mitkam, meinem Impuls folgend. Dass er bei uns war, war vielleicht das Märchenhafteste an diesem traumgleichen Vormittag, war wohl der eigentliche Grund dafür, dass plötzlich die Sonne alles warm umhüllte entlang dieses Asphaltwegs, der sonst an jedem Tag jeden Jahres in ein verwaschenes Grau getaucht gewesen war. Er ging heute nicht zur Schule, hatte Ferien, begleitete uns, würde den ganzen Tag in meiner Nähe sein. Seine Gegenwart änderte alles. Seine Gegenwart bedeutete, dass uns heute keine Gefahren auflauerten.

Wir kamen an der Stelle vorbei, an der ich Mama immer einen heimlichen Seitenblick zuwarf, voller Angst, dass ihr hier nochmals die Beine den Dienst versagen würden und sie sich wieder ins Gras knien würde, weinend, um dann so von Verzweiflung geschüttelt zu werden, dass sie mich vollständig vergaß. Und dass mein Erschrecken, meine Hilflosigkeit, wieder panisch werden würde, weil ich davon überzeugt war, dass sie nie wieder aufstehen, nie wieder für mich da sein, dass sie einfach aufhören würde, meine Mama zu sein. Die Erinnerung daran war auch heute lebendig, doch zu weit weg, um bedrohlich zu sein. Heute gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass sie wieder in einen solchen Zustand geraten konnte, und wenn doch, wäre Sebastian ja da. Er wüsste, was zu tun ist. Er tat immer, was zu tun war.

Das große Haus, zu dem wir unterwegs waren, war nun von weitem zu sehen, es lag direkt an der Saale. Ich fragte mich, ob sich Sebastian mit mir auf das breite rote Treppengeländer setzen würde, einen unbeobachteten Augenblick nutzend, um mit weit aufgerissenen Augen und zusammengepressten Lippen hinunter ins Erdgeschoss zu sausen, und dabei hoffentlich unbemerkt zu bleiben. Es war streng verboten, aber unwiderstehlich, und ich glaubte mich zu erinnern, dass ich es irgendwann von ihm gelernt hatte – von wem sonst? 

Und ob wir heute zu unserem Stück Brot etwas Butter bekommen würden, weil er dabei und weil heute alles anders war? Mich konnte Mama mit einem verstohlen in der Küche abgeschnittenen trockenen Stückchen Brotes regelmäßig zufrieden stellen – die Unerlaubtheit machte es so köstlich. Aber Sebastian hatte immer so viel Hunger, dass es kaum denkbar war, ihn so sparsam abzufertigen. 

Was ich fühlte – aber nicht wusste – war, dass er als Neffe dieser Hausbewohner einen gewissen Sonderstatus innehatte, anders als ich natürlich, und anders als Mama – die Frau, die der Bruder zum größten Unverständnis aller geheiratet hatte, diese Frau, die ins Unglück hineingeboren worden war, die eine entfernte Verwandte aus dem Waisenhaus geholt und zu sich genommen hatte, um ihr, noch bevor sie dem Kindheitsstadium entwachsen war, den Status des Dienstmädchens zuzuweisen. Dass ihr das Unglück für immer anhaften würde, und dass damit auch der Bruder auf dem Weg des Unglücks gefangen war, hatte sich gezeigt, als ihr erstes Kind, kaum hatte das kleine Mädchen Laufen gelernt, dem Zahnfieber erlegen war.

Das waren Zusammenhänge, von denen ich nichts wusste und die ich auch nicht hätte durchblicken können. Aber dass es diese grundlegenden Unterschiede und Grenzen gab, war so deutlich fühlbar wie die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner nackten Haut. 

Als wir vom Weg entlang der Saale durch das Gartentürchen auf das Grundstück einbogen, zeigte sich ein Anblick, der meine Hoffnungen sogar noch übertraf – ich hatte ja gleich gewusst, dass heute ein perfekter Tag war. Ein Gartentisch stand bereit, darauf ein Teller mit einigen Stückchen Butterkuchen, dazu noch Süßigkeiten und eine Flasche gelber Limonade. Ein großes buntes Handtuch lag auf dem Rasen und der Pool war mit Wasser gefüllt. 

Solange Mama damit beschäftigt sein würde, das Haus zu putzen, sollten wir Kinder die Zeit im Garten verbringen; außer Sebastian und mir war da noch die Tochter des Hauses, Sebastians Cousine, die auch Ferien hatte. Ich erinnere mich nur an ihre langen Haare und vor allem an ihre Brüste, die noch im Entstehen begriffen waren und dennoch schon rund und prall das Oberteil sprengten. Die kostbare Zeit mit Sebastian hätte ich lieber allein mit ihm in diesem Paradies zugebracht. Die Langhaarige verschwendete allerdings sowieso keinen Gedanken daran, sich an unseren Spielen, unserem Miteinander zu beteiligen. Wir waren in ihre Sphären eingedrungen und wurden dafür von ihr mit verächtlicher Herablassung bedacht. Möglicherweise galt die Verachtung der Pubertierenden einfach unserer Kindlichkeit – oder sie hatte sie von ihren Eltern übernommen, die ihre Auffassung, dass der Bruder nicht standesgemäß geheiratet hatte, demonstrativ und unübersehbar zur Schau trugen.  

Ihrem entschiedenen Widerwillen zum Trotz hatte man das Mädchen beauftragt, sich um uns zu kümmern; zumindest um mich, die Kleine, die noch nicht schwimmen konnte. Gelangweilt nahm sie mich auf den Rücken, um einige Runden mit mir zu schwimmen, während ich mich ehrfurchtsvoll an ihren Schultern festhielt. Dann ließ sie mich am Poolrand zurück und verschwand im Haus, um zu telefonieren. Ich folgte ihr mit meinem Blick, fassungslos. Sie durfte das Telefon benutzen, das ich schon oft im Wohnzimmer der Familie gesehen und kaum zu berühren gewagt hatte, durfte eigene Telefonate führen. Der Daseinszustand dieses Mädchens war für mich unerreichbar, soviel war klar. 

Die einzige weitere Erinnerung, die mir an diesen Tag noch geblieben ist, ist die der völligen Orientierungslosigkeit. Kein Oben und Unten mehr, stattdessen haltlose Unendlichkeit, dazu ein Erschrecken, dumpf zuerst, dann schneidend. Weder kann ich mich daran erinnern, was mich bewogen hat, loszulassen, noch daran, wie Sebastian, der damals Achtjährige, es geschafft hat, mich aus dem Pool zu ziehen. 

Möglicherweise war es dieses Gefühl von Unzulänglichkeit, ein Gefühl, das von Geburt an in jeder meiner Zellen wohnte und beim Anblick des langhaarigen Mädchens so übermächtig geworden war, dass mir die Kraft einfach aus den Händen gewichen ist, weil ich nicht die war, die ich sein wollte und sein sollte. Das war eine Tatsache, die mich vollständig durchdrang. Etwas an mir war falsch, und zwar grundsätzlich falsch, und der Zustand der Richtigkeit war absolut unerreichbar. Die Überlegung, dass es der Tod war, der mich dem ersehnten Status der wahren Tochter näherbringen würde, hatte mich sicher nicht zum Loslassen bewogen. Zu solchen Schlussfolgerungen war ich damals gar nicht imstande, zumal es auch noch kein Wissen gab über das Mädchen, das meine Pflegeeltern im Kleinkindalter verloren hatten, das sie in mir wiedererkannt hatten, und das ich dennoch niemals sein konnte. Dieses Wissen gab es nicht; es gab nur Fühlen. Es gab wiederkehrende Träume von diesem Mädchen, das alles richtig machte und einfach richtig war, und meine bodenlose, hoffnungslose Scham neben ihr, die ich aus den Träumen mitnahm in den Tag. Allein ihre Gegenwart im Traum ließ mich ein Ausmaß an Scham fühlen, das nicht den geringsten Raum ließ für irgendeine Existenzberechtigung meiner Person.

Einige Monate später, so erinnere ich mich, stand ich an dem Holzzaun, der den Hof hinter dem Haus meiner Großmutter vom Grundstück meiner Pflegefamilie trennte. Mama stand auf der anderen Seite des Zauns, und zugleich eine komplette Etage tiefer als ich, da sich der Hof des Nachbarhauses auf Kellerniveau befand. Sie stand, klein, in sich zusammengesunken, und weinte, tonlos, sprachlos. Natürlich hatte sie immer gewusst, dass auch ich nicht bleiben würde, dass ich nur auf begrenzte Zeit der Familie den Anschein von Vollständigkeit verleihen konnte. Ich, inzwischen sechsjährig, blickte auf sie hinab und wusste kein Wort zu sagen. 

Dass eine große Veränderung bevorstand, hatte man mir mitgeteilt, aber was das bedeuten würde, für mein Leben, für unser aller Leben, davon ahnte ich nichts. Meine Mutter hatte mir angekündigt, dass ich bald in einem großen Haus mit ihr und dem Mann, den ich von nun an ‚Papa‘ nennen sollte, zusammenleben dürfe, und dass ich dann alles haben würde, wovon ein Mädchen meines Alters träumen konnte, sogar noch mehr, hatte sie mir auch erzählt. Dass das bedeuten würde, mein Zuhause und meine Familie zu verlieren, lag auf der Hand und war daher wohl nicht erwähnenswert. Worte waren indes ungeeignet, mich auf das, was kam, vorzubereiten, denn es lag außerhalb meiner kindlichen Vorstellungskraft. 

Angst fühlte ich erst, als ich tatsächlich eines Tages im Auto saß, das mich in mein neues Zuhause bringen würde, und meine Mutter mir vom Beifahrersitz aus ein breites Lächeln präsentierte, während ich meine Großmutter, die auf dem Gehsteig neben dem Peugeot stand, zum ersten Mal weinen sah. Mama hatte sich nicht blicken lassen.

Von nun an trennten mich viele hundert Kilometer von meiner Heimat, sodass ich erst etwa ein Jahr später wieder die Wohnung betrat, die seit meiner Geburt mein Zuhause gewesen war. Begriffe wie Befangenheit oder Verlegenheit waren mir sicher noch fremd, aber von dem Gefühl, das sie bezeichnen, war ich vollständig durchdrungen. 

Es war ein warmer Sommertag, und wir durften draußen im Hof spielen. Sebastian, der eine Badehose anziehen sollte, wand sich und nahm sie schließlich mit ins Badezimmer. Mama schüttelte den Kopf. „Also was mit dem los ist …“, sagte sie und zuckte die Schultern. Ich saß in der Küche und spürte, dass jedes Wort, das ich sagen könnte, irgendwie verkehrt war. Als Sebastian vor dem Küchenfenster auftauchte und nach mir rief, kletterte ich von dem Küchenstuhl, auf dem ich gewartet hatte, auf die Fensterbank, und wollte nach draußen springen; die Küche war ebenerdig. Mit einem ungewohnt barschen Ausruf hinderte Mama mich an meinem Vorhaben, weil die Fensterbank kaputt gehen könne. Ich erschrak und versuchte, mich zu rechtfertigen: „Ich dachte, Marmor ist fest und bricht nicht.“ Ich sah einen tiefen Schmerz in ihrem Gesicht, einen Schmerz, den ich schon so oft in ihren Zügen gelesen hatte. Zum ersten Mal nahm ich aber auch Zorn darin wahr. „Marmor!“ rief sie. „Als ob wir hier Marmor hätten!“ Ihre ganze Verachtung für ein Leben, das ihr verwehrt geblieben war, legte sie in diesen einen Satz. Und ich verstand: Ich war zu einer Fremden geworden, unwiderruflich. Ich sprach einen fremden Code. Neue Wörter hatten sich ihren Weg in meinen Wortschatz gebahnt, ohne dass ich die Assoziationen kannte, die sich damit verbanden. Ich war noch nicht in der Lage, zu erklären, dass ‚Marmor‘ ein für mich neues Wort war, dem ich bisher nur eine vage Bedeutung zuordnen konnte, dass sich meine Botschaft keineswegs mit dem deckte, was bei ihr angekommen war. Dass sich für mich keine Prahlerei mit diesem Begriff verband, und dass es in mir auch noch keine Identifikation gab mit materiellen Dingen, mit denen man hätte prahlen können.

Der Graben, der zwischen uns entstanden war, schien unüberwindbar. Besonders spürbar war er bei unseren Telefonaten, die daher immer seltener wurden. Wir sprachen nicht mehr dieselbe Sprache, fühlten schmerzlich die Distanz, und versuchten dabei auch noch, unser Leid voreinander zu verbergen. Ich erzählte ihr nicht von meiner Sehnsucht nach Rückkehr in die Familie, sagte ihr nicht, dass sie für immer meine Mama bleiben würde.

  

Zu meiner Konfirmation schickte sie mir ein Päckchen hautfarbener Nylonstrümpfe. Ein solches Kleidungsstück zu tragen, wäre mir nie in den Sinn gekommen, und ihr Geschenk zeigte, wie wenig Einblick sie in mein Leben hatte. Ich verstand aber auch, dass sie sich bemüht hatte, etwas von meiner Welt zu erahnen und mir ein Zeichen der Akzeptanz zu senden. Die Nylonstrümpfe blieben unausgepackt, bekamen aber einen Ehrenplatz und waren eine stumme Mahnung, die Verbindung wiederherzustellen und sie um Vergebung zu bitten für meinen Verrat. 

Ich wünschte, ich hätte dieses Vorhaben nicht aufgeschoben. Gerade als ich ein Alter erreicht hatte, in dem es mir immer machbarer schien, jede Form von Distanz zwischen uns zu überwinden, hatte sie ihrer Sehnsucht nicht länger standhalten können und war ihrer kleinen Tochter nachgefolgt.

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