26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN
Marc Sahli
Eine Gemeinschaft ist nur so stark wie ihre Basis
Oder die Corona des Eyjafjallajökull
Kapitel 1 – Der Anfang
Im April 2010 hatte ein isländischer Vulkanausbruch die europäische Aviation für Tage zum Erliegen gebracht. Meine Sicht der damaligen Dinge:
Ich musste alt-Bundesrat Leuenberger Recht geben, eine solche Zäsur hätte gut getan, leider war sie viel zu kurz; es gab & gibt kein Menschenrecht, jederzeit in der Weltgeschichte umherfliegen zu können. Es hätte auch aufgezeigt, dass wir vom Flugverkehr viel zu sehr abhängen, dass Strassen-, Schienen-, & Wassernetze viel zu wenig ausgebaut sind, ja überhaupt alles zu anfällig vernetzt in der Globalisierung ist.
Vieles ist selbstverständlich geworden & die Auswirkungen auf die Wirtschaft wären absolut teragigantesk & hätten nicht abzusehende Folgen gehabt, eben eine Zäsur. Ich hätte mich darauf sogar irgendwie hämisch gefreut, & war mir bewusst, dass es eben Engpässe im Beschaffugnswesen gegeben hätte, abgesehen von Luxusgütern wie Spargeln aus Mexiko & Rosen aus Südafrika. Ehrlich gesagt: ist das denn auch immer nötig? Damals lebte ich im Ausland & meinte, mich sogar zu freuen, meine Familie in der Schweiz unter Umständen nie mehr sehen zu können – wie vor 100 Jahren, ausgewandert ist ausgewandert & zu Hause geblieben ist zu Hause geblieben. Damals hoffte ich, dass irgendein Wendepunkt unser so bequemes Leben durchschnitten hätte & uns aus der Lethargie herausgerissen hätte. Denn was wir haben, ist nicht selbstverständlich, & das muss uns wieder & wieder vor Augen geführt werden.
10 Jahre später haben wir wiederum so einen Einschnitt, eine primitive organische Struktur bestimmt unser Verhalten, reisst uns aus unserer Wohlstandslethargie, einer Lethargie, die in Hamsterkauf-Hyperaktivismus umschlägt. Nun betrifft es nicht mehr nur die Aviatik, das Klima, es ist ganz, ganz nah, miskroskopisch klein, allmächtig, in uns drin & ängstigt uns deshalb so sehr. Was unsichtbar ist, wirkt umso bedrohlicher.
Gäbe es keine Tests, würde niemand merken, was los ist & wir hätten mehr oder weniger Grippepatienten wie jedes Jahr. Ich will damit sagen: machen Sie sich durch den medialen Hype nicht selbst verrückt. Wenn etwas zu gross ist, ist man wie ein Esel vor dem Berg. Entschleunigen Sie! Freuen Sie sich an der spriessenden Natur, der Sonne, ein Spaziergang soll schliesslich auch gesund für das Immunsystem sein. Ich hoffe einfach, dass «die da oben» keine versteckte Agenda verfolgen, sich genügend Gedanken dabei machen, weshalb sie die Wirtschaft & damit Milliarden ja gar Billionen an die Wand fahren, & riskieren, dass die Arbeitslosenquote sprunghaft ansteigen wird, Firmen & Existenzen vernichtet werden.
Zum Schluss noch einer: eine rund 70-jährige Wienerin wird gefragt, was sie gegen Corona mache. Sie antwortete: «Nix, wanns mi putzt, dann putzt’s mi. I bin eh scho vü z’alt.»
Ganz zum Schluss. Bitte Hamsterkäufe unterlassen, wo sollen all die Tiere hin? Mir ist noch kein köstliches Rezept mit Klopapier & Pasta an einer Ethanol- & Propanolsosse aufgefallen.
Einer geht noch: Dass wir mit dem Virus, wie mit jedem anderen Virus auch, werden leben müssen & somit weitere Erkrankungen in den nächsten tausend Jahren & hunderte Todesfälle pro Jahr – wie bei jeder Krankheit – sicher sind, wie das Amen in der Kirche, ist wohl jedem/jeder klar. «Der Tod hat nicht das letzte Wort, Corona auch nicht.» (Gottfried Locher)
Kapitel 2 – Alle mittendrin
Der Mensch gewöhnt sich an vieles, hoffentlich auch ans Lesen
Weil sie nichts mehr erleben, haben sie nichts mehr zu erzählen, so Mirjam Aeschbacher zum Lockdown & der Beziehung zu ihren FreundInnen. Der Bildschirm vergrössere sogar die Distanz. In der Tat: Digitalisierung in Ehren, aber Telefonkonferenzen, Livestreams ersetzen nicht die menschliche Begegnung, das Fühlen des Gegenübers, seiner Bewegungen, seiner Ausstrahlung. Aber so liest man wegen der erzwungenen Distanzierung: die Jungen können mit Alleinsein & Langeweile nicht umgehen. Das verleitet mich zur Aussage: wo geistige Windstille herrscht, kann nicht plötzlich eine Frühlingsbrise blühende Auen durchstreifen.
Man muss das Alleinsein als Chance begreifen, sich selbst kennenlernen, aus sich selbst schöpfen können, sich mit sich selbst verbinden & seine Bedürfnisse kennen lernen. Die Ablenkung von aussen lenkt uns von uns selbst ab. (L. Lorenz). Die Balance zu finden ist eine innere Gratwanderung; denn sonst machen Instagram & Facebook wirklich irgendwann krank.
Eine innere Gelassenheit, die uns unabhängig macht vom aufgeregten Weltbetrieb, das haben wir verlernt. Wer kann, wie der Schriftsteller Peter Bichsel, einfach dasitzen («Ich kann gut dasitzen & nichts tun»), sich langweilen, beobachten & tagräumen, Wein trinken & Klassiker lesen? Äusserlich passiert nichts, doch was für ein Leben, welch Reichtum an Empfindungen, welche innere Bewegtheit, welche Freiheit! Ohne konsumierbare Erlebnisse sind wir offenbar hohl, hilflos, depressiv. Für mein Leben im Kopf & Herz bin ich selber zuständig (Manfred Papst, NZZ, Ludwig Hasler, Philosoph). & die Literatur von Gerhard Meier beweist, dass selbst das Dorf Niederbipp, sein «Amrain», zu Weltliteratur führen kann. Amrain war das Zentrum der Welt & man nimmt es ihm ab. Ein dörflicher Kosmos, Traumwelt ohne Grenzen.
Lesen Sie wieder mal ein Buch oder eine Bezahlzeitung. Ich weiss bis heute nicht, wie man sich nur über Twitter, Games, Youtube, Tiktok & Schminkvideos informieren kann. Das reicht nicht. Das ist kein lebenswertes Leben. Nina Kunz: «Solange ich lese, ergibt mein Leben irgendwie Sinn.»
Meine eigenen langjährigen Erfahrungen machen plötzlich Sinn. Mein Hirn kann sich bereits Erlebtes wieder runterladen & das Programm laufen lassen: das Resilienzprogramm. Ich stelle fest, dass mein Leben, seit ich 2014 zurück in die Schweiz kam, sich eigentlich vom jetzigen Corona-Modus nicht stark unterscheidet. Vielleicht etwas krisenresistenter bin ich schon, weil ich bereits 8 Monate in einer Krisensituation gelebt & gearbeitet habe: damals während der Göldi-Hamdani-Qadhafi-Krise (2008-2010). Jetzt in der Corona-Affäre fällt auch das Bahnfahren, weg, & ich bin zuhause in der Heimtelearbeit auf mich allein gestellt. Auch das habe ich bereits während 5 Jahren erlebt: jeden Tag trennten mich nur 20 Treppenstufen von Privatleben & Arbeit. Immerhin hatte ich damals Bürokolleginnen & -kollegen, was im Homeoffice wegfällt. Ich vermisse sie irgendwie, doch. Jedenfalls ist das, was jetzt passiert, für viele eine grenzwertige Erfahrung.
Was will ich sagen damit? Ich weiss es selbst nicht. Doch vielleicht. Es ist zu hoffen, dass Menschen verstehen, wie es sogenannt «sozial Schwachen», tagtäglich & jahrein- & jahraus ergeht, wenn man den Beizenbesuch (der jetzt ja gar nicht mal möglich ist) sich vom Mund absparen muss, sich Bekannte von einem verabschieden, wie wenn man eine ansteckende Krankheit hätte. Sozialhilfebezug macht einsam. Auch das habe ich bereits selbst erlebt. Der Bewegungsradius wird, wirtschaftlich bedingt, kleiner. Nun bedroht das Virus uns alle. Alle erleben das auf ihre Weise & zeitgleich. Alle sind im gleichen Film von «Tentin Quarantino». Physical Distancing, nicht Social. Umsomehr müssen wir als Gesellschaft zusammenhalten & das durchstehen, egal wie grenzwertig es im Moment ist.
Was will ich damit sagen? Ich weiss es selbst nicht. Doch, vielleicht. Hoffen wir, dass die Mitmenschen, in der Schweiz seit mehr als 70 Jahren im relativen Wohlstand lebend & in einer Wochenende für Wochenende & Ferien für Ferien in einer Bespassungslethargie lebend (weil man nichts mehr erlebt, hat man sich nichts mehr zu erzählen), begreifen, dass alles, was wir erarbeitet haben, nicht selbstverständlich ist. Zwischen «oben» & «unten» ist eine dünnere & porösere Trennung als ein Blatt Toilettenpapier. All diese Erfahrung macht uns hoffentlich dankbarer & stärker vielleicht auch altruistischer. Mit weniger zufrieden sein, auch. Respekt, Demut, Dankbarkeit fällt mir ein. Damit könnte man leichter durchs Leben kommen, garniert mit einer Portion Fatalismus, um die Grenzwertigkeit auszuhalten.
Was will ich noch sagen? Ich weiss es nicht, oder vielleicht: «Für mein Leben im Kopf & Herz bin ich selber zuständig». Die Resilienzplatte abrufen können nur die, die schon ein gewisses Alter & viel erlebt haben; so zum Beispiel kann man sich erklären, dass die älteren Mitbürger fast beunruhigend fatalistisch & unvorsichtig sind. «Seen that, done that». Die jüngeren Mitmenschen müssen das noch lernen. Seien wir nachsichtig mit ihnen, weil ihnen fad ist, wenn sie nichts erleben. Sie können nichts dafür.
Noch was, um zum Anfang zurückzukommen: lesen Sie ein Buch. Lesen bildet. Lesen lässt die Hirnsynapsen spriessen, mehr als jeder Frühlingsregen die Pilze & vermehren, mehr als das Virus es kann. Lesen lässt uns ganz still & allein etwas erleben; danach haben wir etwas zu erzählen, zum teilen, weitergeben. Grenzen überschreiten; innere, eigene. Was umso schöner ist, da ja lesen wie schreiben eher einsame Tätigkeiten sind. Lesen entspannt & reduziert Stress. Lesen erweitert die Allgemeinbildung & fördert die Kreativität, lässt träumen.
Ansonsten sitze ich einfach da, bin mir selbst genug & langweile mich gerne. Natürlich mit einem Glas Wein.
Das Leben richtet sich nicht nach unseren Wünschen. Dass etwas ein Ende hat, darauf kann man wetten & hoffen, aber dass etwas «gut kommen» soll, darauf hat man keinen Anspruch.
Kapitel 3 – Ostern im Ausnahmezustand
Worte überprüfen
Auf das Wort «früher» ist kein Verlass mehr. Wenn wir heute von früher reden, ist das vielleicht ein paar Wochen her. Dank der Corona-Zäsur sind alle gleich, ein Grossvater wie auch sein Enkelkind, alle leben darin. Auch ein Kleinkind hat ein «früher», die Zeitachse ist einfach viel kürzer & nun ist sie für uns alle gleich & gleich kurz. Früher gab es etwas wie Frisöre, Weiterbildungskurse, Kleider- & Schuhläden, Fitnessstudios, das Pendeln zwischen Arbeit & Zuhause, eine Stosszeit, die Blechlawine, obwohl zum Beispiel die Musikkassette oder die Wählscheibe – «über kreisförmig angeordneten Zahlen des Telefonapparates angebrachte drehbare, runde Scheibe mit Löchern, mit deren Hilfe die Telefonnummer eines Teilnehmers gewählt wird» – doch noch älter sind an liegengebliebenen & noch nicht entsorgten Worten. Die Dudenkontrolle beruhigt mich. Frühjahr, Kirschblüte, Forsythien, Primeln, alles noch da, nur die Blumensträusse in den Läden sind weg. Restaurants auch. Den erwachenden Bienen & Hummeln lauschen, in den ungewohnt eingebläuten Himmel schauen. Doch, doch, ein Tisch ist ein Tisch, darauf ein Löffel, vielleicht eine Gabel & ein Messer, alles noch da. Ich habe mich dessen vergewissert. Alles halbwegs normal. Wände, die verdammten vier Wände & die Decke, die hoffentlich nicht auf mich fällt. Hoffnung stirbt schliesslich zuletzt. Noch ist nicht aller Tage Abend, noch ein Löffel für Papi, einen fürs Mami, an alles noch erinnert, alle Worte noch da. Alpenrosen im letzten Tram, wenn es nicht gegen den Himmel fliegt. Gefolgt von Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Aufgang, Untergang, Vollmond. Am See. Wasser. Spaziergang. Die Kuh am Waldrand. Ist auf die Worte überhaupt noch Verlass?
Vereinsversammlung, Märkte, Open-Air, Fussballspiel in der Fankurve anfeuern, YoungBoys, SCB, gibt es das noch, als Wort & überhaupt? Wenn ja, wann? Ferne Erinnerungsworte wie Stau am Gotthard, Dichtestress. Manche Worte vermisst man nicht. Existierten sie eigentlich je? Ich habe auch viele vergessen, sind zugeschüttet von Sedimenten, neue kommen dazu: Covid, Coronafrisur, Corona-Party, Social Distancing, Besuchsverbot, Tracking, aber auch Rücksichtnahme, Altruismus? Alle in einem Boot. Osterhase, Schokolade, zwiebelhüllengefärbte Ostereier, wachsendes Kraut & Löwenzahn. Das Unbegreifliche zulassen. Gibt es etwas wie Auferstehung, Gottes Schweigen am Kreuz? Ich wünsche allen trotz allem frohe Ostern!
Kapitel 4 – Leben bedeutet u.a. Gemeinschaft
Was, wenn wir bloss noch humaner Fortsatz eines technischen Beobachtungssystems sind? Rettung suchend vor dem Unsichtbaren sassen wir vor dem Blaulicht der Bildschirme, die Erleuchtung nicht erlangend & übersiedelt von der Strasse, dem Marktgewusel, von Grossveranstaltungen, dem Eventismus ins sterile Homeoffice. Alle mussten neue Grenzen stecken, im Leben, im Kopf.
Im Netz der Kraken strampelnd, die da heissen: Amazon, Google, Youporn, Netflix, Facebook, Zoom & Skype. Wir schrien nach einem Kapitän in unsicherem, trübem Gewässer. Wohl bricht eine zweite Welle über uns herein, & wir werden in Schockstarre davorstehen, wie das Mäuschen vor dem Habicht. Die Welle wird kommen. weitere werden folgen, das ist der Lauf der Natur, welcher Art die Wellen auch immer sind.
Eigentlich wollte ich den positiven Aspekt der Coronamassnahme-Lockerungen betonen: endlich wieder den Haarwuchs zähmen. Blumen & Pflanzen sind zwar nicht systemrelevant aber halt doch irgendwie lebensrelevant & Freunde, Familie treffen von Angesicht zu Angesicht, beim Kaffee im Restaurant & nicht digital, wo sie im Bildschirm nicht fassbar waren, Ton & Bild eingefroren, & das «hörst du mich, hallo?» über allem waberte. Die Krise ist zwar nicht nur schlecht: weniger Konsumzwang, weniger sozialer Druck, weniger Ablenkung, mehr Zeit für sich.
Aber……
Wenn es der sogenannten Sicherheit dient, sind wir plötzlich angesichts der Seuche zu Schritten bereit, die in Zeiten einer normal funktionierenden Demokratie unmöglich umzusetzen wären.
«Sicherheit gleich Gesundheit» glauben wir & applaudieren Trackingdetektiven. Die Ausnahmezone wird sich wohl erweitern, entgrenzen zum politischen Autoritarismus, obwohl: …vieles tönt eigentlich sogar schrecklich vernünftig, angesichts der Menschenmassen, die «endlich wieder» leben wollen, irgendwie auch verständlich. Die Grenzerfahrung war wohl nicht lange genug.
Jetzt stehen Geld & Leben auf dem Spiel. Ein zweiter Lock-Down ist nicht machbar & es geht auch nicht darum, Lebensschutz gegen Wirtschaft zu verrechnen. Wir brauchen die Wirtschaft, um Leben zu schützen.
Alle wollen so schnell wie möglich zurück zum globalisierten konsumgetriebenen Lebensstil, zur Spassgesellschaft, ja Lustbefriedigung, was schon am Ausdruck Hashtag# staytheFUCKhome sichtbar wird. Wir werden vielleicht feststellen, dass wir nicht nur nichts dazugelernt haben, & nicht nur Gefangene eines Systems sind, sondern nun zusätzlich auch eines Virus’. Wir stehen am Beginn einer Entwicklung mit unabschätzbaren Folgen.
Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson sagt: der bisherige Lebensstil, dass wir rund um den Globus fliegen & uns an grossen Events treffen, wird nicht zurückkehren. Auch die soziale Nähe wird nicht mehr die gleiche sein, so wie das Aids-Virus die sexuelle Freizügigkeit beendet hat. Es gibt historische Ereignisse, die unsere bisherige Normalität zerstören. Dazu zähle er diese Pandemie.
Ob er Recht hat oder nicht, wird die Zukunft weisen. Eines ist jedoch sicher: da müssen wir nach wie vor durch. Alle zusammen. Eine andere Wahl haben wir nicht.
Eine Gemeinschaft ist nur so stark wie ihre Basis. Hoffen wir einfach, dass die Massnahmen & Empfehlungen des Bundesrats etwas in den Menschen & ihren Köpfen bewirken. Es kommt auf uns alle an.