26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Ingrid Maria Kloser

Aufwachen

Gestern bin ich ins Auto gestiegen und über den Brenner gefahren. Ich bin von dem Stuhl aufgestanden, auf dem ich wochenlang saß, und ging fort. Unterwegs blieb ich an keiner der Raststätten stehen, ich fuhr und fuhr, immer diesen Ort vor Augen. Die langen Reihen gestreifter Liegestühle, die Sonnenschirme mit den Fransen, die im Wind flattern. Zur Straße hin der Eismann, der manchmal laut Gelati! ruft, und gleich daneben die Pizzabude, die ein, zwei in der Sonne Wartenten mit ihren Sonnenhüten. Ich fuhr, bis ich die Hotels sehen konnte, die Straße wiedererkannte, die sich zwischen Strand und Ort dahinzieht und die wir so oft überquert hatten. Da erst blieb ich stehen. 

Es ist Winter. Ich gehe am Strand. Vom Meer her weht ein kühler Wind, der Plastiktüten über den Boden treibt. Ich habe Strümpfe und Schuhe ausgezogen, der Sand ist kalt. Die Rippen stechen in die Fußsohlen aber der Schmerz beruhigt mich, so als würde jeder der Stiche mir zurufen, es gibt dich noch, du lebst. Neben meinen Füßen flattern und kreischen Möwen. Die flachen Wellen, ihr weißer Saum schnappt nach meinen Zehen. Im Sand stelle ich mir die Spuren zweier Menschen vor, zweimal zwei Linien aus Schritten, erstaunlich regelmäßig voreinander gesetzt. Ein Traum, eine Fata Morgana, denn so war es nicht. Nie lieferten unsere Spuren dieses Bild, denn beim Gehen grub sich die Hand meiner Schwester in meine und zerrte mich hin und her. Ich versuchte ihr Stütze zu sein, konnte aber die ruckartigen Bewegungen, die ihre mühsamen Schritte eben mit sich brachten, nicht ausgleichen. Damals an diesem Meer, das wir unser Meer nannten, ich barfuß und im Badeanzug, sie in einem leichten Sommerkleid und mit Plastiksandalen an den Füßen, meine Schwester und ich. 

Die Hotels stehen wie einsame Monster nebeneinander. Ich halte die Schuhe in den Händen, in jeder Hand einen, die Socken stecken in den Schuhen. Überall Möwenkreischen und der Boden ist übersät mit winzigen Muscheln. Es sind die, wie wir sie damals fanden. Einmal eine große, die wir uns ans Ohr hielten, wie Pepe uns das gezeigt hatte. Meine Schwester in ihrem leichten Sommerkleid mit Strohhut, das rostfarbene Haar zusammengebunden, doch die Locken waren nicht zu bändigen. Wir standen, die Füße im seichten Wasser, und horchten auf ein verheißungsvolles Rauschen im Ohr, eine Stimme, die unsere kindlichen Wünsche zu erfüllen versprach. Bis wir erschrocken feststellten, es war spät geworden, und wir uns wieder in Bewegung setzten. Sie hatschend, wie unser Vater ihr Gehen, ihr sich über den Sand ziehen, nannte. Ich, die ganze Zeit über ihre Hand fest umklammernd. 

Damals waren wir jeden Sommer da, wir wohnten in einer Pension hinter den großen Hotels. Am Strand baute unser Vater aus vier Stöcken und ein paar Badetüchern ein Schattenzelt. Die Stoffhüte zusätzlich auf den Köpfen, lagen wir im Zelt auf unseren Luftmatratzen. Jeden Morgen baute er uns dieses Haus und verschwand, manchmal den ganzen Tag, und meine Schwester und ich, wir wussten nicht, wo er war. Gegen sechs Uhr abends packten alle Badegäste ihre Sachen zusammen und verließen ihre Liegen. Gegen sechs kam unser Vater zurück, zog die Stöcke aus dem Sand, schnappte meine Schwester und packte sie auf den Rücken. 

Es gab aber Tage, da war es nicht so. Der Strand wurde leer, und leerer und meine Schwester fing zu schluchzen an. Ich versuchte sie zu trösten, dabei zitterte mein eigenes Herz. Er wird schon kommen, er kommt doch jeden Abend zurück. Zum Glück gab es Pepe. Er besuchte uns tagsüber in unserem Schattenzelt und Pepe konnte zaubern. Er schob Muscheln hin und her, ließ sie in seinen Händen verschwinden, und unten aus seinem Hosenrohr kamen sie wieder hervor. Pepe der Zauberer, der Clown, brachte uns zum Lachen. Er hob die weinende und zitternde Schwester auf den Rücken und sie klammerte die Arme um seinen Hals. So marschierten wir in unsere Pension, vorbei an verlassenen Liegestühlen und Strandpersonal, das bereits mit großen Rechen über den Sand wischte. Plastikbecher und Tüten in dafür vorgesehene Eimer stopfte. In der Halle vor dem Lift stand ihr Rollstuhl. Pepe schwang sich mit einem Arm auf die Portiertheke und fabrizierte einen Handstand, sein Gesicht wurde rot und er zwinkerte uns zu. Er hat gewartet, bis meine Schwester nicht mehr weinte, und bis sie sogar lachen musste. 

In der Nacht kam unser Vater ins Zimmer. Er war laut und ich musste meine Schwester schütteln, sie aufwecken, da er es wollte. Er setzte sich auf den Bettrand und erzählte uns eine Geschichte, die wir nicht hörten. Meine Schwester, die ihre kalte Hand in meine grub, und ich. Er starrte in unsere Gesichter, hat geredet und geschrien, und ich hielt die Hand meiner Schwester. Einmal klopfte jemand an die Wand und unser Vater hämmerte zurück. Einmal läutete das Telefon, und unser Vater nahm den Hörer und knallte ihn auf die Gabel. Es ist mein Leben, mein Leben, seine Worte hingen noch eine lange Weile in der Luft, bis sie sich endlich entschlossen, durchs offene Fenster zu verschwinden.  

Der Arzt im Krankenhaus holte mich zu sich. Er sagte, man könne nichts mehr tun, die Kollegen und er wären machtlos. Man habe alle Register gezogen, es liege nur an meiner Schwester, sie müsse sich entscheiden zu leben. Nur sie allein könne ihr Leben retten, das klinge vielleicht komisch. Es wäre aber so und nicht anders. Der Unfall, oder was sie in diese Lage gebracht hatte, lag nun schon Wochen zurück. Giftige Gase waren ausgetreten und hatten ihre Lunge in einen lebensbedrohlichen Zustand versetzt. Künstliches Koma als Therapie. Ich verstand nie alles, wenn sie mich in ihre Besprechungszimmer in der Klinik holten. Sieben Wochen saß ich neben meiner Schwester. Die Kastanienbäume vor den Fenstern verfärbten ihre Blätter und ließen sie schließlich los. Die letzten beiden Wochen lag meine Schwester auf der Intensivstation. Sie kämpfe, die Ärzte nickten mir zu, als müsste ich mich für dieses Leben entscheiden, als könnte ich mehr tun, als nur hier sitzen und warten. 

Das Gesicht meiner Schwester war aufgedunsen und kaum zu erkennen, wenn man es nicht wirklich kannte. Und ich kannte dieses Gesicht, ich musste nur in den Spiegel blicken, ident die wasserblauen Augen, die zarten Nasen. Lippen, oben geformt wie zwei Bergspitzen. Und wären da nicht ihre Beine, wir könnten jeden hinters Licht führen, da niemand die Kleinigkeit in unseren Gesichtern kennt, die uns beiden wichtig ist, da sie uns ein Gefühl von Individualität vermittelt. Sie lag wegen der wunden Stellen auf einem Wasserbett, auch ihr Körper war aufgedunsen. Die Finger geschwollen und während ich neben ihr saß, starrte ich abwechselnd in das fremde Gesicht, auf diese Hände, oder an die Wand. 

Die Fotos an der Wand, wir beide mit Sonnenhüten und mit weißer Creme beschmierten Nasen, schmiegen die Wangen aneinander. Im Schattenzelt halten wir Pizza Margherita auf Papptellern in den Händen. Pepe, nach hinten gebeugt, das Gesicht dem im Wind zappelnden Drachen zugewendet. Im Moment der Aufnahme schickt er einen Kuss. Muscheln, die zwischen den Fotos kleben. Man hatte mir gesagt, ich solle diese Dinge bringen, erfreuliche Dinge, die ihr guttun. Und ich starrte auf alles, und es kam mir albern vor, aber dann wieder glaubte ich zu wissen, wie sie es mochte. Und einmal, da bildete ich mir ein, sie habe die Zehen bewegt, genau in dem Moment, als ich die große Muschel an ihr Ohr hielt. Da habe ich laut gefleht, wach auf, lass mich nicht allein. 

Es ist wärmer heute. Der Wind hat nachgelassen, und wenn die Sonne durch die Wolken bricht ist es schwer auszumachen, wo sie einen Spalt gefunden hat. Im Sand wieder der weiße Saum, einmal links und einmal rechts von meinen Füßen. Ich habe in einer der wenigen Pensionen geschlafen, die um diese Jahreszeit geöffnet sind. Das Frühstück, die italienischen Brötchen, der dünne Kaffee. Ich bestrich diese Brötchen für uns mit Butter, damals. Die Erdbeermarmelade in den kleinen Plastikbehältern schmeckte nach etwas anderem und meine Schwester lachte mit vollem Mund. Ich musste die Türe schließen. Unser Vater stand draußen, er frühstückte nie. Er stand in dem seichten Wasserbecken vor dem Haus und trank aus einem Becher Kaffee. 

Es hat Tage gegeben, da ist unser Vater nicht verschwunden. Er baute das Schattenzelt und blieb, nach einer Weile hievte er meine Schwester auf die Schulter, trug sie wie einen zusammengerollten Teppich ins Wasser und ließ sie auf eine Luftmatratze gleiten. Sie krampfte wie üblich, wenn sie erschrak, und sie sah aus wie ein krummer Stecken. Dort hat sie es leichter, hatte er gesagt und dabei mit dem Daumen auf das Meer gezeigt. Ich sah den Kopf meiner Schwester, der in den Wellen versank und verkroch mich im Zelt. Das Gesicht in ein Kissen vergraben wiederholte ich immerfort und immer lauter die Worte unseres Vaters. Dort hat sie es leichter! Später brachte er Pommes und gebackenen Fisch, den meine Schwester erbrach. 

Die Tage danach lag sie auf der Liege und rührte sich nicht. Sie schielte seitlich durch den Spalt zwischen den Handtüchern und beobachtete den Drachen, wie er im Himmel zappelte und wenn der Wind sich drehte, in den Boden schoss. Sie träumte von Vanilleeis, und ich rannte mit dem Geld, das unser Vater mir jeden Morgen zusteckte, bevor er verschwand. Ich rannte über den glühenden Sand und holte Vanilleeis, einmal, zweimal, dreimal am Tag. Die gelbliche Flüssigkeit rann über die Waffeln, tropfte über unsere Finger und wir schleckten so schnell wir konnten. Ich holte Pizza Margherita, die wir von Papptellern aßen, immer nur Pizza Margherita. 

In einem der Sommer an unserem Meer wollte Pepe uns mitnehmen, wollte uns seinen Freunden vorstellen und uns alles zeigen. Die Jongleure und Tänzer, die Clowns und Zauberer. Er hatte ein Auto ausgeliehen, für den Rollstuhl und meine Schwester und für mich. Aber unser Vater schüttelte den Kopf, meinte, du kannst gehen, und zeigte dann auf meine Schwester, ohne sie anzuschauen, sie nicht. Wir sind geblieben ohne zu murren, zu schreien, zu weinen. Es machte keinen Sinn, das wussten wir. Aber sie hat weder gegessen noch getrunken, das zerronnene Eis tropfte über ihre Finger und über das Sommerkleid. Sie starrte in den Himmel, beobachtete den zappelnden Drachen, lauschte dem herben Geräusch, wenn der Wind gegen Abend stärker wurde. 

Ich suche Pepe, frage die Leute im Ort, habt ihr den kleinen Mann gesehen, der mit den großen Schuhen, dem Drachen, der Zaubermuschel. Aber niemand weiß etwas. Ich frage weiter und weiter, verbissen, als hinge alles an diesen Fragen. Habt ihr Pepe gesehen, kennt ihr den kleinen Mann mit dem Drachen, ihr müsst ihn doch kennen, auch wenn das schon eine ganze Weile her ist. Ich stelle mir vor, wie er plötzlich vor dem Bett mit den weißen Laken, dem aufgedunsenen Körper steht. Wie er sich mit einer Hand auf das Bettgestell hievt und einen Handstand fabriziert. Wie er das Unmögliche fertig bringt, sie aufweckt und das fremde Gesicht zum Lachen bringt.   

Sie hat von einem eigenen Leben geträumt. Sie träumte von einer eigenen Wohnung, in Gedanken richtete sie das Wohnzimmer, das Schlafzimmer nach ihrem Geschmack und ihren Möglichkeiten ein. Sie konnte sich alles genau vorstellen, den Teppich, die Vorhänge, die Lampen und die großen Pflanzen in den bunten Übertöpfen. Sie zappelte und ihre Wangen waren gerötet, wenn sie davon sprach. Aber wie sollte es gehen? Natürlich, die Schule, die Uni, auch das schaffte sie. Aber wie sollte es danach zuhause weitergehen? Wer sollte ihre Brote streichen, im Park ihre Hand halten, sie fest umklammern? Wer sollte zum Italiener laufen, sich um den Vorrat an Vanilleeis kümmern, diesen riesigen Vorrat, der nie ausgehen sollte, nie ausgehen durfte!

Wir stritten und ich schrie, hast du denn nicht alles, was soll daran falsch sein, wenn wir beide, ein Leben lang – ich hörte meine eigene plärrende Stimme – zusammenbleiben? Sie hat nie geschrien, ihre Reaktion kam einem stummen Protest gleich, gewaltlos aber gewaltig und bedrohlich in seiner Existenz. Die Tage danach lag sie auf dem Bett und stierte aus dem Fenster. Ihr Gesicht war nicht angestrengt, eher gleichgültig und in Wirklichkeit wusste ich nicht, was hinter der vertrauten Stirne vor sich ging. Ich wollte es auch nicht wissen, es machte mir Angst. Komm doch zum Essen, bat ich sie, indem ich mich vor ihr Bett stellte und dieses Gesicht betrachtete, das meinem so ähnlich ist. Sie blickte weiter zum Fenster und sagte dann mit veränderter aber klarer Stimme: du stehst vor meinem Himmel. 

Himmel und Meer rinnen heute am Horizont ineinander, die trennende Linie ist nicht auszumachen. Ich habe angerufen und man sagte mir, ihr Zustand wäre unverändert. Ich bat, man solle alles von den Wänden nehmen, alles, nur der Drache könne bleiben. Das Foto war an dem windstarken Tag entstanden, als sich seine Schnur in der Fahnenstange der Strandwache verhedderte und es aussah, als würde er nicht mehr loskommen. Aber dann löste sich plötzlich und wie von fremder Hand alles auf und er stieg und zappelte, noch wilder, noch übermütiger und mit einem Geräusch nahe dem Zerreißen. Der Arzt meinte, ich solle nicht aufgeben, die Situation könne sich jede Stunde ändern. Aufgeben? Ich gebe nicht auf, ganz im Gegenteil. 

Am Strand wieder der Wind. Da hinten die Dünen und noch weiter hinten Venedig. Ich versuche, mir ein Bild meiner Schwester auszumalen. Sie erhebt sich aus dem Rollstuhl, geht ihre paar Schritte, dabei schiebt sich ihre Hand in eine andere. Bei diesem Gedanken reiben meine Hände nervös ineinander, als wollten sie sich zu Wort melden, als könnten sie etwas verhindern, das nicht zu verhindern ist. Sie geht wankend in ihrem leichten Sommerkleid, die Füße in den Plastiksandalen, sie spricht mit ihrer klingenden Stimme aber ihre Worte sind für mich nicht zu hören. Zu weit weg sind die beiden, diese seltenen Spuren hinterlassend. Hin und wieder bleibt meine Schwester stehen und zeigt auf einen Punkt in der Luft, sie zappelt und rudert mit den Armen, setzt dann wieder einen Schritt vor den anderen. 

Den Venedig Traum habe ich alleine geträumt. Venedig mit seinen tausend Treppen und Brücken und schmalen Gassen war für sie keinen Traum wert. Aber ich lief nachts leichtfüßig über die Stufen, ließ mich mit einer Gondel durch die Kanäle rudern und von einem Straßenkünstler zeichnen, so wie ich das auf Postkarten gesehen hatte. In Gedanken sah ich mein Zimmer mit Blick auf das Meer. Ich stellte einen Stuhl auf den kleinen Balkon und rührte mich nicht von der Stelle, blickte auf dieses Meer, das nicht unseres war und fixierte seine Wellen, als könne ich es auswendig lernen. Man kann es schaffen, flüsterte ich in meinen Träumen, man wird eine Ewigkeit gehen müssen, aber man kann es schaffen. 

Weiter weg flattert ein Drache, ich kann nur den Drachen und die Schnur erkennen, die sich hinter den Dünen verliert. Kein Mensch ist zu sehen und ich gehe und gehe immer weiter. 

Share on TumblrEmail this to someoneShare on StumbleUponPin on PinterestShare on Facebook
Leave A Comment