26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Andreas Thamm

Kerben

Am Anfang wussten wir nicht so recht, dann baute ich etwas auf, später rasten wir durch Polen. Du hattest etwas mit dem Wortwitz am Laufen und noch dieses eine Mal etwas vor dir. Man trägt so etwas mit sich herum; wie die Mütze, unabsichtlich schief auf dem Kopf, wie die Reste vom Tabak am Zahnfleisch oder das Geräusch der Maschinen am Trommelfell. Zieh eine, hattest du gesagt, die beiden Tickets aufgefächert und dann, hopp hopp, in eine Richtung gewunken, aus der wir das Rattern schon hören konnten. Wir kauten Pistazien, deren Reste zu lange in den Backenzähnen kleben blieben, du nanntest mich beim Namen meines Bruders.

Ich würde mir einen Bart wachsen lassen, aber erst, wenn die Haare grau wären, ich würde ihn pflegen wie einen Vorgarten. Ich würde mir Rituale aussuchen, aus dem Schatz an Ritualen, der mir zur Verfügung stand, würde Tee aufsetzen zu bestimmten Uhrzeiten und an einem Wochentag das Haus nicht verlassen. Ich würde den Tabaksaft als langen Faden neben die Schalen der Pistazien spucken und mir mit den letzten Fingern die fleischige Nase reiben, aus der dann ein paar Haare wachsen würden wie das Gras aus einem Gullydeckel. Die Mäuse verlassen das sinkende Schiff, hast du an jeder Station gesagt und mit dem Kopf nach draußen gedeutet, wo die ehemaligen Passagiere ihre Köpfe drehten und aus den Kapuzen glotzten, als bereuten sie auf einmal, gegangen zu sein. Du nanntest dich Raucherabteilungsleiter und stecktest dir eine an.

Das muss, sagtest du, der Tag gewesen sein, als du sie kennengelernt hast, aber du würdest dich nicht erinnern. Ich hatte euch in der Küche gesehen, die Köpfe in den Dampf getaucht, ich hatte euch auf dem Sofa gesehen, zu dem ihr Canapé sagtet, ich hatte euch im Garten gesehen. Ich war in die Pflaumen getreten, später fand man deren Kadaver in den Teppich getrocknet. Von Jugend an musstest du deine Sinne trainieren wie ein Wahnsinniger; da saß eine Angst in deiner Brust, du könntest das alles verlieren. Du brauchtest keine Brille, um aus dem Fenster zu sehen und einige Dörfer fielen vorbei, als wären wir vertikal unterwegs. Man sieht nur, sagtest du, mit den Augen gut, weil dafür sind die schließlich da. Du hast immer alles behalten, was einem geschenkt wird, egal ob von Natur aus oder zum Namenstag, du hattest die Furchen unter den Augen und ein Insekt im Nacken. Ich wachte auf und sah das Tier in deiner Handfläche, dessen Eingeweide womöglich nach außen gekehrt waren.

Viele saßen zusammen und lachten aus bestimmten Gründen, und wenn sie dir zu viel Wein erlaubten, glühte deine Nase rot auf. Wenigstens finden wir so heim, hast du gesagt, wenn sie uns den Weg leuchtet, und dann hast du gelacht und es noch einmal gesagt und noch einmal, bis du der einzige warst, der lachte. Dann packte dich jemand unter den Armen. Wir waren noch nicht weit gekommen, ich dachte die Strecke in Abschnitten; den Abschnitt der Dörfer hatten wir hinter uns gelassen, jetzt nannte ich sie Siedlungen; in meinem Kopf lösten sie sich auf, als würde die Erinnerung die Dinge erst porös machen, zersetzen. Wenn wir zu lange geschwiegen hatten, hauchtest du die Scheibe an und maltest Spiralen auf das beschlagene Glas. Ihr lagt zusammen in den Gräben, bis sie leergefegt waren. Erst kommt das eine, dann das andere, sagtest du, und: manche halten durch, andere nicht. 

Sie hatte die Tüten bei sich, je eine links und rechts; sie hatte die Taschen voll Wolle und Garn und den Körper voller kleiner Knoten, ungefährlich, sagte euer Arzt, eigentlich schon im Ruhestand, eigentlich, und er hatte Recht. Und dann hatte sie dich und du wolltest nicht lüften. Du wolltest lachen und ihr durch die Haare fahren, die ich schon borstig fand, die Pantoffeln von den Füßen durchs Zimmer werfen und ihr einen der hundert letzten Klapse auf den Hintern geben. Du sagtest, das sei der Tag gewesen, an dem du sie kennengelernt hast, aber sie dich noch nicht, und du könntest dich nicht erinnern, oder nur wenig und das reiche eben nicht aus, um mir was zu erzählen. Da hingen dir das Haar in die Stirn und die Hände aus den Ärmeln. Und ich hab ohnehin nie alles wissen wollen, doch ich weiß, dass sie die Matchboxautos über dem Kühlschrank hatte, wo man nicht hinkam, und dass man weniger schläft, je älter man wird, dass man anfängt zu glauben, irgendwann schafft sich der Schlaf eh ab, stirbt praktisch vor dem Körper ab, weil da irgendetwas im Ungleichgewicht ist. Das bringt uns noch um, sagte sie ohnehin zu allem, das war die Annahme, die man auf alles anwenden konnte, aber weder der Russe noch der Farbfernseher noch das Mobiltelefon haben das hingekriegt. 

Und ab und an hielt der Wagen und jemand sagte uns durch den Lautsprecher hier sei Aufenthalt. Und ab und an deutetest du nach Giebeln und Linien in der Architektur und sagtest Dinge, die mir bewiesen, dass du doch nicht mehr wusstest als ich, oder dass dir das alles abhanden gekommen war. Andere blieben sitzen und auch wir begriffen irgendwann, dass es meistens nichts zu sehen gibt. Wir stöhnten heimlich, wenn mal wieder Aufenthalt war, so als hätten wir es eilig, hin zu kommen, dabei wussten wir nicht so recht. Wir trieben da auf etwas zu, dass wir weder formulierten, noch zu Ende dachten, wir konstruierten kein Bild davon in unserem Kopf, weil es erstmal reicht, sich im Schlafwaggon breit zu machen. Wenn Züge aneinander vorbeifahren, denkt man, man könne die Passagiere, des anderen Zuges sehen, dabei sieht man nur sein eigenes, schattenhaftes Spiegelbild. Freut euch des Lebens, hast du gesungen, Großmutter wird mit der Sense rasiert, und deine Stimme vibrierte als streiche jemand mit einem Geigenbogen darüber: Aber vergebens, und dann deutetest du nach mir, weil du dich wieder erinnern konntest, wie ich mitgesungen hatte: sie war nicht eingeschmiert. 

In eurem Esszimmer konnte man den Tisch vergrößern, wenn die andern alle kamen. Ich setzte ein zusätzliches Brett ein. Jetzt fallen sie wieder über uns her, sagtest du, wie die Heuschrecken. Die Bilder haben sich übereinander geschoben, als Kleinkind saß ich erhöht, alle hatten sie ihre Köpfe dabei. Sie trugen ihre palavernden Köpfe durch die Tür ins Esszimmer, der Körper knickte unter den Köpfen zusammen, wenn sie sich um die Tafel formierten; das gehörte in den Ordner der Kuriositäten, die vielen Menschen mit ihren so bekannten Köpfen. Aus den Eindrücken fügte sich mir mit der Zeit eine Familie zusammen. Wir sind zum Beten aufgestanden. Wir haben uns an den Händen gehalten. Wir haben im Chor gesprochen. Wir haben hinübergeschielt, wenn einer still war. Wir haben uns gegenseitig einen guten Appetit gewünscht, piep, piep, jemand war lustig und sagte guten Hunger, ich dachte an den lieben Gott und ob er uns jetzt beim Essen zusieht, weil er ja praktisch angerufen und um Aufmerksamkeit gebeten worden war. Und wenn wir sie alle wieder losgeworden waren, faltetest du die Hände überm Bauch, als wäre das Unwetter endlich vorübergezogen, und während aus der Küche noch die Spülgeräusche zu uns herüber drangen, schliefen wir vor dem Fernseher ein, jeder mit seinem eigenen Kopf auf dem Hals und drin irgendetwas von Vögeln oder dem Abendprogramm.

Ich konnte das ja nicht mal aussprechen, was auf unseren Fahrkarten stand, und du nicht mehr. Früher war das alles parat gewesen, meintest du, und es drängte mich ins Polster, jedes Mal wenn du vom Abhandenkommen sprachst. Das waren zuerst nur Namen, und dann wartet man eben, sagtest du, bis jemand anders den Namen nennt, der dir fehlt, und dann ist er wieder da, für ein paar Stunden wenigstens. Nur Namen, und die Orte, wo wir im Sommer mal hingefahren waren. Einmal fiel es schwer, den Bus zu nehmen. Irgendwann kennt man sich mit dem Telefon nicht mehr aus, als wäre man gerade aufgewacht. Das waren zuerst nur die Anderen, die Fremden und so Sachen, sagtest du, bis es die eigene Geschichte befällt und du warst dir nicht mehr sicher, wann der Eiermann in eure Straße kommt und wo deine Tanten lebten oder ob. Die Kreuzworträtsel, sagtest du, die Kreuzworträtsel und die vielen Bücher und was man nicht alles tut, ist ja egal, hat alles nix genutzt, das Gehirn ist älter anscheinend als man selbst. Je weiter wir eindrangen, desto brauner wurde alles, was vorm Fenster vorüberzog und ich hatte die Füße auf dem Polster und du sie in deinen Schuhen, die Schaffner kamen nur selten und dann zogen sie nicht mal die Augenbrauen nach oben, sondern nickten nur gelangweilt, dass ihnen die Bartstoppeln in den Falten am Kinn kratzen mussten. 

Die Köpfe waren zu einem großen zusammengeschmolzen. Der Schmelzkopf sagte, das gehe nun langsam zu Ende mit dir, Bestimmtes sei eine Frage der Zeit, ob sie nicht langsam genug durchgestanden habe. Sie sagte nein. Der Kopf bedauerte uns deinetwegen, ich nahm mir vor, mir dich nicht verderben zu lassen. Sie sagte, es sei schon noch alles gut. Ob ihr nicht der Junge zur Last falle; sie strich die Wachstischdecke zurecht, es werde jetzt langsam Zeit. Sie brauche ja nur Bescheid zu sagen. Erst als der Kopf gegangen war, nahmst du wieder Worte auf. Später faltetest du die Hände überm Bauch, wir schliefen auf dem Canapé ein. Man sieht sich die Muscheln nie wieder an, die man nach dem Urlaub ins Einmachglas steckt, es geht nur um den Prozess des Mitnehmens und Archivierens, als würde man irgendwo eine Kerbe hinterlassen, die sich selbst genügt. Wir machten uns einen Spaß daraus, die Hofeinfahrt zu fegen. Du warst der einzige, den ich kannte, der einen so alten Reisigbesen besaß. Ich hörte die Borsten über das Pflaster knirschen.  

Du wähltest unser Ziel, weil es eben nicht nur darum ging, weg zu kommen. Mal zu sehen, was noch übrig ist, ob du etwas wiedererkennst. Je näher wir kamen, desto öder, desto leerer die Abteile. Wir haben uns an der Oder entlang gehangelt und manchmal blitzte sie durch die Bäume. Wir aßen die letzten Brote und hofften auf den Energiereichtum des niemals enden wollenden Pistazienvorrats. Das muss der Tag gewesen sein, sagtest du, als du sie kennengelernt hast und dann hieß es zum Aufbruch packen und es hieß, das Nötigste sei eh schon zu viel und jede Minute sprach gegen euch. Das muss der Tag gewesen sein, sagtest du, und du hast deinen Blick in ihren Nacken geheftet und nicht mehr losgelassen bis Berlin. Deine Hände sind knorrig geworden, wie aus altem Holz und die Haut an ihrem Hals mit der Zeit immer dünner, als umflattere sie den Kehlkopf im Wind, so als könnte man sie ihr bereits abziehen. Wie ein Hund seist du dir vorgekommen, der sich bettelnd vor ihre Türe legt, bis sie endlich aufmachte und dir was hinwarf. Und später hättest du nicht lange suchen müssen, bis du sie wiedergefunden hast, da warst du dann auch endlich zu Hause und konntest damit beginnen, Speicher frei zu räumen. Sie sagte, du hast mir gerade noch gefehlt, und meinte es genau so. 

Sobald es ging, bist du Mercedes gefahren. Wenn du nach Hause kamst, rauschte es noch in den Ohren und es rauschte bis spät in die Nacht. Du hast den wachsenden Köpfen vorgelesen und nie etwas erzählt, bis sie alle ausgezogen waren und dann musstet ihr mich aufnehmen, weil ihr in der Stadt geblieben wart. Ich legte schichtenweise eine Erinnerung an, aber die Erzählung begann erst hier. Wir synchronisierten uns aus Notwendigkeit. Wir aßen am Abend gemeinsam und wärmten unsere schneekalten Füße am Kachelofen. Da hattest du schon nichts mehr zu tun, außer im Garten und dein Speicher leerte sich mit der Zeit, als gäbe es jetzt nichts mehr aufzubewahren. In den Vorstadtstraßen gab es kaum Kinder, außer zu Besuch, und kaum Frauen mit langen Haaren. Wenn am Sonntag die Glocken der Kirche läuteten, saßen wir schon drin und du sprachst eine Lesung von fünf Broten und zwei Fischen, ehe du dich wieder zu uns setztest, und manchmal wünschte ich mir, man könnte hier applaudieren und war stolz.

Jetzt aber bald, sagtest du, und fragtest noch einmal beim Schaffner nach; er nickte. Ich erkenn’ das schon wieder, aber kann sein, dass ich mich täusche und deine Schuhe schlugen gegeneinander und du riebst die Hände am Polster trocken. Viel zu oft ließt du die Sätze, die mit Ich weiß noch begannen in einem Husten sterben und ich versuchte mir vorzustellen, dass auch ich irgendwie von hier käme, immer an der Donau entlang, weiter nach Osten, wo die Bahnhöfe nur noch Schuppen sind, wie zu Hause im Garten. Ich knackte die Schale mit den Daumennägeln, du kautest stumm deinen Tabak und riebst dir mit fleischigen Fingern die haarige Nase. Ein Räuspern kam nicht mehr gegen das Geräusch des Zugs an. Ihr Hals war dünn geworden mit der Zeit, wie eine Folie, die Uniformierten hatten die Abdrücke darauf beschrieben, sie hatten dich umstanden und die Mäuler waren tiefe Löcher ihren Köpfen, sie hatten versucht, nach mir zu greifen, aber jetzt war ich zu stark, um mich festhalten zu lassen und sie blieben stumm und waren voll Entsetzen und Anklage und ich versuchte, ihnen nicht zu glauben und ich versuchte dich nicht mehr zu fragen, aber ich habe die Abdrücke nicht gesehen, am Hals, und die entleerten Augen. 

Und dann bist du wieder geflohen, aber diesmal hattest du mich, du und ich, sagtest du und du fächertest die beiden Tickets auf, als wären es fünf, und winktest, hopp hopp, in die Richtung, aus der wir das Rattern schon hören konnten. Man bewegt sich immer wieder hin und her, sagtest du, sein ganzes Leben lang, wenn man mal ehrlich wäre, und wir beide spürten dabei die Blicke der Augen des großen Kopfes in unseren Nacken, aber wir waren schon eingestiegen. Und der Zug wurde langsamer vor Oppeln und ich wusste, hier müssen wir raus und den Bus nehmen. Und wir stiegen in den Staub vor diesem Backsteinpalast und ich erwartete, dass du etwas wiedererkennst. Wir nehmen den Bus, oder, wollte ich noch einmal wissen und sagtest nein. Die Taxifahrer klopften auf die Dächer ihrer Taxis und in unserem Rücken wartete der Zug, als hätte dich jemand gehört. Lass uns zurück fahren, Junge. Deine Hände waren knorrig geworden, wie die Rinde eines alten Baumes, aber wenn du mich am Oberarm packtest, schwemmte mich ein Schmerz, denn du warst stark geblieben. Ich glaubte dir nicht und nicht den anderen, ich konnte mir dich nicht mehr vorstellen. Wenn du gewollt hättest, hätten deine Hände noch zerstören können, aber ich glaube, du malst dir etwas aus. Ich glaube, du bist dir nicht sicher.   

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