26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN
Franziska Schramm
Robert, der Vollspast
Robert ist ‘n Vollspast, das weiß jeder in der Klasse. Und daran ändert auch nichts, dass die Dutschke sagt, er sei nur zu 20 Prozent behindert. ‘N Scheiß ist der. ‘N Scheiß. Wie der schon durch seine Brille durchguckt und so behindert aussieht. Und wie er immernoch in der Pause die Brotzeitdose von Mama auspackt, Leberwurstbrot oder so. Und dann darauf rummalmt und kaut und die Krümel kleben in seinen Mundwinkeln, da brauchste mir doch nicht mit 20 Prozent kommen. Was die sich überhaupt dabei gedacht haben, den in unsere Klasse zu stecken, wo der doch einfach in seiner Förderschule hätte bleiben können, nur wegen der Inklusion, die die Dutschke seit neuestem hochhält, als wäre das eine Deutschlandfahne bei der WM. Und dann habe ausgerechnet ich mich neben den setzen müssen, mitten im Schuljahr hat mich die Dutsche da hinbeordert, weil sie dachte, ich könnte dem helfen, hat mir nen langen Vortrag gehalten über meine Intelligenz und Empathiefähigkeit und was weiß ich noch, appellieren wolle sie an mich, hat sie gesagt, appellieren, aber das war ganz klar eine Anordnung, ich sollte nett zu dem sein, damit die anderen auch nett zu ihm sind, aber der haben sie echt ins Gehirn geschissen, wie soll das denn aussehen, Nettsein, soll ich ihm dem Sabber aus den Mundwinkeln wischen und sagen: Fein hast du das gemacht, Robert, so toll dein Pausenbrot gegessen.
Ich weiß nicht, wie sich die Dutschke das vorstellt, dass ich ihr vielleicht auch noch dankbar bin, dass sie mich von Alex weggesetzt hat, dass ich meinen Platz räumen musste. Alex hätte sich doch kaputt gelacht, wenn ich auf einmal vor der Dutschke kusche. Ständig hat die uns doch auf dem Appellierradar, Lena soll nicht so viel whatsappen und Miri sich nicht ständig in den Haaren rummachen, dabei machen die doch gar nichts. Bei Alex probiert sie es auch mit dem Anappellieren, klar, aber der lässt die Dutschke jedes Mal auflaufen, der Alex weiß, wie das geht, der hat da ein Talent für, wie er die angrinst und wie die Dutschke dann rudert, das zeigt doch einfach wieder mal, dass die überhaupt keine Ahnung hat. Nettsein, das kann man sich vielleicht in der Fünften noch leisten, da kann man noch nett sein zum Vollspasten der Klasse, oder sich zumindest raushalten, man kann den vielleicht sogar noch verstehen und ihm das nicht total übel nehmen mit seiner Rumspasterei, aber irgendwann musst du dann Position beziehen. Da kannst du nicht mehr zu den anderen sagen: „Lasst den, der tut doch nichts.“ In der Neunten weißt du, dass es egal ist, ob der was tut oder nicht, dass allein seine Anwesenheit ein Ärgernis ist, eine Provokation. Und dann irgendwann musst du dich entscheiden, wo du stehst und ich war an jenem Donnerstag oben auf dem Dach der Turnhalle, klar.
Was dann passiert ist, dafür kann ich nichts. Wahrscheinlich bin ich sowieso der allerletzte, der etwas dafür kann, das ist eigentlich ein kosmisches Gesetz, das so etwas passiert, wenn man Robert, den Vollspast in seiner Klasse hat, ich weiß nicht, ob überhaupt irgendjemand was dafür kann, auch wenn Lena geheult hat und Alex seinen Brief geschrieben hat, wessen Schuld soll es schon sein, da kann die Dutschke noch so vorwurfsvoll und bestürzt tun und sich fragen, ob wir eigentlich Gefühle hätten, aber eigentlich fragt sie sich das gar nicht, sie appelliert wieder mal nur. Ich weiß nicht, wie die sich das vorstellt, mit den Gefühlen, bestimmt guckt sie Marienhof und Verbotene Liebe und glaubt das auch noch, dass Gefühle dann sind, wenn sich der Typ und die Tussi in die Augen sehen und dann der Cliffhanger kommt, aber in Wirklichkeit ist es ganz anders. Lena sieht mir nicht mehr in die Augen, auch nicht, wenn wir uns vor der Schule am Fahrradständer begegnen, normaler-weise sieht sie mich an und lächelt und sagt „Naaa?“ und dann geht sie schon mal rein, während ich noch die Kippe austrete.
Überhaupt der Fahrradständer, die Turnhalle und dahinter die Hecke, in der wir seit Monaten heimlich rauchen, ‘n Scheiß weiß die Dutsche darüber, woher soll die auch wissen, wie das ist, die hat früher bestimmt auch nur auf dem Pausenhof rumgespastet, Möhren und Gurken aus der Tupperdose geknabbert und in irgendeiner Ecke Gummitwist gespielt, aber naja, so läuft das eben nicht. Ich hab mir das hart erarbeitet hinter der Hecke, wo jederzeit ein Lehrkörper auftauchen kann, ausgerechnet da seelenruhig zu stehen und zu rauchen, das musst du erst mal bringen, in der linken Hand die Kippe, die du lässig baumeln lässt, du nimmst sie nach oben, ziehst, blickst in die Runde, kurzer Blick nach oben und dann den Rauch ausatmen, dabei noch ‘nen Spruch machen, so dass Miri kreischt und Lena empört „Woa neee, echt, Nico, ey!“ schreit. Dann Blick zu Alex, kurzes Grinsen, aber nicht zu viel und die Hand wieder runternehmen, die Kippe in den Fingern kurz hin und her flippen und dann wieder ziehen. Das kann die Dutschke nicht wissen, wie lange das dauert, ich hab mir das hart erarbeitet und ich lass mir das nicht kaputt machen, nicht von der und nicht von Robert, dem Vollspast.
Wir haben Robert gesagt, wir würden eine Party machen, auf dem Dach der Turnhalle, wir haben ihm gesagt, es wär‘ geheim, aber weil er so ein korrekter Typ ist, sei er eingeladen. Und Robert hat durch seine Brille durchgeglotzt und sah aus, als würde er sich gleich in die Hose machen, aber Alex hat ihn umgarnt: „Komm schon, Kumpel, du musst dabei sein, das wird voll fett, das kannst du dir nicht entgehen lassen, Kumpel.“ Und irgendwie hat es funktioniert und Robert fing an zu grinsen: „Ehrlich, Mann, ehrlich?“ Und Alex schärfte ihm ein, dass er keinem auch nur ein Sterbenswörtchen sagen dürfe und Robert nickte und Lena lächelte harmlos und Miri täschelte Roberts Schulter und ich spielte Alex‘ Echo: „Jou, Kumpel, das wird voll fett.“ Als Robert abgezischt war, kriegte sich Alex nicht mehr ein: „Alter, wenn der kommt. Alter, wenn der echt kommt!“ Wir wussten alle, was passieren würde, wenn er kommt. Wir kannten das aus Filmen und Büchern und überhaupt wussten wir, was Sache ist.
Was die Dutschke nicht weiß, ist, wie wir auf das Dach der Turnhalle gekommen sind, das ging dann im Aufruhr unter, die Dutschke war so in Erregung, dass sie das naheliegendste nicht wissen wollte. Der Schlüssel stammt von Lenas Bruder aus der Zwölf und das ist gut, dass keiner das wissen wollte, schon allein wegen Lena. Die war gut drauf, am Donnerstag-abend auf dem Dach, überhaupt habe ich Lena selten so gesehen, mit einem breiten Grinsen und offenen Haaren und einem weißen Tanktop und pinken Hotpants, obwohl es dafür eigentlich noch zu kalt ist, aber sie hatte sich eben in den Kopf gesetzt, so richtig feiern zu wollen, schließlich sei meteoro-logischer Sommeranfang und sie hatte Sekt dabei. Miri brachte zwei Flaschen Wodka, Eiswürfel und sogar eine Decke mit; an so etwas hatten Alex und ich nicht gedacht. Wir waren allesamt aufgekratzt, weil Robert tatsächlich gekommen war, wir redeten irgendwas und Lena stieß ab und zu kleine Schreie aus, wenn sie Wodka verschüttete oder Alex ihr einen Eiswürfel in den Nacken hielt. Robert saß in der Dämmerung wie ein glücklicher Buddha und grinste, wir drückten ihm die Sektflasche in die Hand, eine Kippe in die andere und machten Fotos, von Robert auf dem Dach, Robert auf dem Dach, wie Alex die ganze Zeit grölte, Robert auf dem Dach, das fanden wir gut.
Vielleicht hätte es tatsächlich eine coole Party werden können und vielleicht war auch Roberts Anwesenheit gar nicht so schlimm. Aber vielleicht war das auch genau das Problem. Robert, der Vollspast, war mittendrin, er lallte und erzählte Geschichten, dass er mal Schauspieler sein möchte, wie Romy Schneider, sein großes Vorbild, und Miri sagte: „Wer zur Hölle soll das sein?“, und Lena sagte: „Ich glaube, ich kotz‘ gleich.“ „Der fickt doch seine Mutter“, sagte ich zu Alex, und der nickte, wir prosteten uns zu und grinsten. „Komm schon, Robert, du fickst doch deine Mutter, gib‘s zu.“ Alex filmte die Runde, Mut-ter-fik-ker, Mut-ter-fik-ker, skandierte er und ich machte mit und die Mädels johlten. Es war klar, dass das nicht genügen würde, dass wir weiter gehen würden, es war klar, dass alles nur eine Frage der Zeit war. Ich habe die Videoaufnahmen auf meinem Handy, irgendwer leuchtet Robert ins Gesicht, der sagt: „Ich ficke meine Mutter“, und dann die Zunge im Mund kreisen lässt.
Dass Robert auf dem Weg nach Hause zusammengeklappt ist, dass sie ihn ins Krankenhaus gebracht und ihm den Magen ausgepumpt haben, haben wir nicht mitbekommen. Wie denn auch. Aber am nächsten Morgen in der Klasse wusste es jeder und die Dutschke lief aufgeregt hin und her. Sie sei zutiefst entrüstet und bestürzt über die Verantwortungslosigkeit unseres Tuns, ob wir denn gar kein Herz hätten, ob uns denn tatsächlich alles egal sei, warum wir denn, wenn schon keine Gefühle, noch nicht mal Anstand hätten, sie sei erschüttert und über alle Maßen entsetzt und ihre Hände flatterten wie kleine Vögel hin und her. Während die Dutschke wirbelte und ruderte und appellierte, informierte das Direktorat unsere Eltern, in der Pause standen sie vorm Sekretariat. Miris Vater im Anzug, seine Frau stöckelte nervös auf und ab. Lenas Mutter telefonierte hektisch und schaute alle drei Sekunden auf die Uhr. Meine Mutter war auch da, sie stand ganz still, in sich zusammen-gefallen wie ein Kartoffelsack ohne Kartoffeln. Ich weiß, dass sie Hoffnung gehabt hat, dass es auf der neuen Schule besser wird. Sie hat sich gefreut, dass ich mit Leuten in meiner Freizeit abhänge und sie hat geschwiegen, wenn ich mit Vieren oder Fünfen nach Hause gekommen bin, „Hauptsache, Nico, du bist gesund“, war monatelang ihr Standardsatz.
Tatsächlich weiß der Direx aber ‘n Scheiß. Die Dutschke weiß auch ‘n Scheiß. Sie hat keine Ahnung, dass wir es geschafft haben, dass Robert tatsächlich seine Hosen runterlässt. Sie weiß nicht, dass ich es gefilmt habe, den betrunkenen Robert mit baumelnder Unterhose zwischen den Knien, wie ihm die Spucke aus dem Mund läuft und er in den Nachthimmel ruft: „Ich ficke meine Mutter.“ Die Dutschke hat keine Ahnung, wie Alex und ich Robert anheizen, „Komm, Kumpel, zeig uns deine Eier, jawohl, zeig uns, wie du deine Mutter fickst!“, und Robert, der ruckige Bewegungen mit seiner Hüfte macht, vor und zurück, und seine behaarten Eier baumeln hin und her. Die Dutschke weiß nicht, dass ich nach Roberts Schwanz greife, dass ich rufe: „Ja, Kumpel, fick sie!“, und anfange ihn zu melken, die Dutschke weiß nicht, wie Roberts Gesicht aussieht, wie sein Schwanz auf einmal steif wird in meiner Hand, wie Miri aufkreischt, wie Lena mich plötzlich zur Seite schubst und mir das Handy aus der Hand schlägt, „Sag mal, spinnst du?!?“, schreit sie, und das Handy klackert über den Beton. „Hört auf damit, hört bloß auf!“, sie klingt wütend und panisch. Die Dutschke weiß nicht, wie still es plötzlich ist, wie Robert völlig verquer in die Gegend glotzt, „komm“, sagt Lena zu Miri und zerrt sie am Handgelenk hoch, „komm, wir gehen“, und wie die beiden dann tatsächlich ihre Sachen zusammenkramen und verschwinden. Wie Alex und ich mit Robert alleine auf dem Dach zurückbleiben und die Party vorbei ist. „War doch witzig, oder?“, versuche ich und klinge lahm dabei, Alex sagt nichts.
Am Montag in der Pause verschwinden wir hinter der Turnhalle in der Hecke, aber es hat sich etwas verändert. Alex‘ Gesicht ist hart. Er sieht mich nicht an. Ich rauche, aber ich weiß, dass es nicht echt aussieht, dass meine Fingerspitzen zittern und ich den Rauch zu kurz in der Lunge behalte. Ich weiß, dass ich das Video nicht rumzeigen brauche, Robert und seinen Schwanz, ich weiß, dass wir nicht darüber lachen werden, ich weiß, dass Alex übers Wochenende diesen Brief geschrieben hat und Lena geweint hat und Miriams Vater seine Beziehungen hat spielen lassen. Ich weiß, dass all das nichts nützt. Ich weiß, dass sich gerade etwas verschiebt, weil die Sonne auf einmal unerwartet vom Himmel knallt, weil wir schwitzen, obwohl grade mal viertel nach elf ist, weil die Wolkendecke aufgebrochen ist und man jetzt schon über einen neuen Rekordsommer spekuliert. Ich weiß, dass sich gerade etwas tut, ich weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sich die Aufregung um Robert gelegt hat. Zwei, drei Wochen vielleicht. Und dann wird dieses Wort auftauchen, Schwuchtel, es wird einmal ausgesprochen sein und sich wie ein Lauffeuer verbreiten, und ich weiß, dass auch die Dutschke nichts dagegen tun kann, mit ihrer Appelliererei, dass sie nach Gefühlen und Anstand fahnden kann, so viel sie will, weil das alles nichts nützt, weil es egal ist, ob jemand was tut oder nicht, weil wenn jemand ‘ne Schwuchtel ist, dann ist das ein Ärgernis, eine pure Provokation, Nico, die Schwuchtel, wird es dann heißen. Und die Dutsche kann nichts dagegen tun, Gefühle hin oder her.