26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Simon Bethge

Exochrone Verschiebung, oder: vom Rceht auf Kroerutkr

II

Tony ist sehr betrunken. Er ist immer sehr betrunken, wenn wir ihn besuchen kommen. Und strenggenommen auch dann, wenn wir es nicht tun. 

Er sitzt in seinem Bungalow mit dem grauen Linoleumboden, den tiefen schwarzen Ledersesseln, den Tierfellen. 100 Quadratmeter Garten, die er alle paar Tage bewässert, wenn er es schafft, den Schlauch anzuschließen. Draußen, draußen in der Nähe von Maschen, eine winzige Siedlung, hier sagt man sich durch Hecken gute Nacht. 

Neben dem offenen Kamin steht ein Schrein. Eigentlich ist es nicht mehr als ein Holzbrett auf zwei Ziegelsteinen, darauf ein Blumenkranz, zwei metallene Fässchen mit Räucherstäbchen, und Ingrid. Das braungerahmte Bild von Ingrid, mit Trauerwinkel rechts oben. Tony hat es selbst geschossen, damals in Kapstadt. Es zeigt die kleine Frau im Safaridress. Schelmisch-faltig grinst sie in die Kamera, das Jagdgewehr reicht ihr bis zum Schlüsselbein. 

Eine beeindruckende Aufnahme. Und so gar nicht wahr.

Sie stehen in der Küche, mein Vater und er. In einer Pfanne brutzeln dicke Gambas, Knoblauch, Rosmarin und passierte Tomaten. Es riecht, wie es riechen muss. Tony schwankt und lallt ein bisschen, man sollte meinen, er hätte eine Toleranz aufgebaut bei all dem Zeug, was er und andere in den 80ern geschluckt haben. Mein Vater redet Englisch mit ihm. Jetzt versucht er, den Salat zu waschen, aber Tony verbietet es ihm. Er sei der Gastgeber, er habe das zu tun. Keine Widerrede. Mein Vater nickt und lässt ihn machen.

Mama wäre lieber nicht hier, aber wo sollte sie hin, wo sollte sie sein, wenn nicht da, wo man sie hinbeordert? Ihr ist der große Mann mit den langen Zähnen zuwider. Er hat keine Manieren, ist immer etwas zu laut und etwas zu nah. Tony versteht das nicht. Tony würde sagen, das hat er so gelernt. Es macht Eindruck und nimmt ein, was eingenommen werden will. Aber Mama will nicht eingenommen werden, und ich auch nicht. Wir wollen nur das Essen hinter uns bringen. Währenddessen, sagt mein Vater, kann er kontrollieren, was Tony trinkt und wie viel davon.

Ich nehme sie mit auf die Terrasse. Sollen die Männer ruhig unter sich sein. Ich greife eine Zigarette aus dem Spender auf dem Mahagonitisch und stecke sie mir an. Durch den Rauch sehe ich, wie Mama mit dem Finger über die Abdeckung des Grills fährt, langsam und gleichmäßig, und dann ihre Kuppe begutachtet.

„Hier fehlt“, sagt sie, „die weibliche Hand.“ Aber nicht ihre, versteht sich.

Die Gambas dampfen bis zu uns. Vom Geruch wird mir übel, er ist viel zu meerig. Dann singt Ella Fitzgerald im Wohnzimmer. Ingrids Musik.

„Lina, komm mal“, ruft mein Vater von hinter der Trennwand, wo sich die Küche befindet. In der Hoffnung, gleich zurück zu sein, lehne ich die halbgerauchte Kippe behutsam außen an den Aschenbecher und verhindere so, dass sie allzu schnell abbrennt. Feuer steigt schneller nach oben, und wenn oben nichts ist, steigt es fast überhaupt nicht.

„Was gibt’s?“, frage ich.

„Der Tony will dir was zeigen. Ich hab dir doch von den Messern erzählt.“ Hat er in der Tat. Sie befanden sich in einem Lager auf Long Island, einer dieser Mietschuppen mit Rolltor, nehme ich an, wie sie im Fernsehen ab und zu aufgebrochen werden. Irgendwann nach Ingrids Tod fiel Tony ein, dass er so einen besaß. Die Miete wurde per Dauerauftrag bezahlt, deshalb blieb seiner vom Aufbrechen verschont. Papa und er sind rüber und haben gesichtet, ob etwas von Wert darin vergessen worden war. Sie fanden allerhand seltsames Zeug: einen angelaufenen Revolver, mit dem Leder des Holsters geradezu verwachsen; Fotoalben, in denen das Gesicht einer bestimmten Person immer wieder durchgestrichen war; eine Tischlampe mit einem Schirm aus Crêpe, gehalten von den starken Porzellanhänden eines stilisierten Elvis — sie ging auf dem Rückflug kaputt; und eben die Messer. Jagd-, Bowie- und Springmesser, Spydercos und Butterflys. Eine ganze Armeekiste voll haben sie mitgebracht. Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie mir anzusehen.

Tony gibt mir einen Wink, ihm zu folgen; mein Vater kann nun ungesehen die anbrennenden Gambas wenden und Nudelwasser aufsetzen. Der große Mann mit den langen Zähnen führt mich in eine Art Kabuff. Ein Staubsauger steht hier, ebenso ein Leichtmetallregal mit diversen Boxen darauf, die allesamt auf Englisch beschriftet sind. Fünfundzwanzig Jahre wohnt er jetzt hier, das heißt Deutschland, fast ein Drittel seines Lebens, und kann kaum alleine einkaufen.

Im untersten Fach steht die Kiste mit den Messern. Tony hat Probleme, sich hinzuknien, und als er sich behelfsmäßig an der Wand abstützt, furzt er. Es ist ein kurzes, nasses Geräusch, dem er keine Beachtung schenkt.

Meinen Ekel hinunterschluckend sehe ich ihm über die Schulter. Tatsächlich liegen etwa dreißig verschiedene Messermodelle in dem Kasten, viele stumpf oder angerostet.

Ich muss sie anfassen. Ich muss wissen, warum sie hierzulande verboten sind. Tony nimmt dieses und jenes in die Hand, wendet sie herum, fängt Geschichten ihre die Herkunft an und bricht mitten im Satz ab. Die Öffnungsautomatik des Springmessers, das er mir reicht, ist kaputt. Mit den Fingern pule ich die Klinge aus dem Griff, Stück für Stück, die Gefahr einer Sepsis im Hinterkopf. 

Insgesamt doch irgendwie enttäuschend. Ich traue mich nicht, ihn zu fragen, ob ich eins behalten kann, immerhin wird er keine Verwendung für alle haben, wenn überhaupt. Aber es ist nicht an der Zeit.

Zurück im Wohnzimmer bemerke ich, dass nun auch Mama dazu übergegangen ist, sich zu betrinken. Sie hält das Weinglas am Stil, als habe sie Angst, es sonst fallenzulassen, und trinkt den Riesling in kleinen, ungeduldigen Schlucken. Mein Vater will das nicht. Er will nicht auf zwei Menschen aufpassen müssen. Oder auf drei, denn nun schenke auch ich mir ein. Bob Dylan löst Ella ab, Tony wirft die Tagliatelle mit grober Hand ins Wasser, ich kehre zu meiner Zigarette zurück und spüre seinen Blick im Nacken.

Einmal war ich alleine hier. Da war Ingrid noch am Leben und kein Blutkrebs in ihr. Ich weiß nicht mehr, womit ich ihr geholfen habe, bloß, dass ich es nicht so gewissenhaft getan habe, wie mein Vater es versprochen hatte. Immer wieder haben wir Raucherpausen eingelegt, zu zweit oder zu dritt, und falls sie gesehen hat, wie Tony mich auch damals ansah, so hat sie es nicht angesprochen.

Die Nudeln sind fertig. Wir decken den Tisch, Mama und ich, dann bringen die Männer den Rest. Wir setzen uns.

Tony schmatzt viel, während er von einem Fasan erzählt, der sich vor Kurzem in seinen Garten verirrt habe. Das Tier sei durch eine der Hecken gekommen, während er im Gartenstuhl lag und döste. Er habe den Vogel erst bemerkt, als dieser eine Jack Daniel’s-Flasche umstieß, die auf der Terrasse stand. Mit der Gabel, von deren Zinken etwas Soße auf seine Jeans tropft, deutet er durch die Glasfront zum Rasen.

„There it stood“, sagt er, „big brown bird, really big, and a beautiful coat. I didn’t move at all.“ Er ist ganz fasziniert von seiner Geschichte und versucht, das Gurren oder Glucksen nachzuahmen, mit dem der Vogel über den Rasen stolziert sei. Er klingt dabei wie nichts, das möglicherweise existieren kann. Mama, die neben ihm sitzt, rückt ein bisschen zur Seite — gerade so viel, dass ich es bemerke und mit meinen Füßen die ihren streife, um zu sagen: Alles gut, nur noch eine kleine Weile, dann sind wir weg.

Tonys Bewegungen werden ausladender. Seine Gabel beschreibt die Flugbahn des Fasans, der, wie er nun erzählt, nicht mehr aus dem Garten herausgefunden habe. John Lee Hooker löst Bob ab. Der Vogel sei immer unruhiger geworden, seine Geräusche immer lauter und Tony immer genervter. Er habe versucht, ihn zu fangen, aber bald einsehen müssen, dass er dafür zu alt war. 

„I was frustrated, you know. So I sat down again and told myself, to hell with this motherfucking bird. I yelled at it, but it still didn’t calm down. So I took the bottle and“, er tut, als würde er energisch einen Gegenstand fortschleudern, „hit it right in the head. Can you believe that? They say you can kill two birds with one stone, but I killed a bird with a Single Barrel.“ Er lacht und legt den Arm um Mama und lacht weiter und zieht sie an sich. Mein Vater lässt ihn machen.

Ihr Englisch ist zu schlecht, um etwas zu entgegnen, und so presst sie die Lippen aufeinander und tut, als würde sie lächeln. Ich streife wieder ihren Fuß. Es ist bald vorbei, sagt die Berührung. Er ist bald vorbei.

Später räumen wir ab, und ich gehe noch einmal hinaus, um eine Zigarette zur Verdauung zu rauchen. Zum Abschied nimmt mich Tony zu fest in den Arm, aber ich ertrage es und sehe, dass auch meine Eltern es ertragen.

I

Es schweigt. Sie schweigen. Und sind. Und sind.

Ich war.

Ein Foto neben dem Kamin; ich lächle für immer.

100 Quadratmeter Stille, draußen und drinnen.

Eine Fliege kommt durch die offene Terrassentür, verirrt sich in den Riesling und ertrinkt.

Die Gambas waren schrecklich. Die Gäste haben den Geschmack noch auf der Zunge und versuchen nun, ihn mit Worten wegzuspülen.

Es sei traurig, sehr traurig sogar, dass ich weg bin. Hier und dort und jetzt weg. 

In Zukunft alles ohne mich. Die Musik wechselt.

Jemand erzählt einen Witz über einen Fasan. Keine Pointe.

Mama und mein Vater streiten sich im Kabuff; Tony und Ingrid schenken sich nach.

Ob man mich damals nach Long Island mitgenommen habe? 

Die Sommer an der Küste sollen herrlich sein; viele der Eisenwarengeschäfte dort haben vier Sterne bei Yelp.

III

Tony ist ein großer, betrunkener, trauriger Amerikaner. Sein Bungalow ist hell-modern, auf der Kommode im Arbeitszimmer verstaubt ein MTV Music Video Award, den er 1986 für seine Arbeit mit Duran Duran bekommen hat. Draußen an die 100 Quadratmeter Garten, und hinter den Hecken andere Menschen mit anderen Geschichten. 

Neben dem offenen Kamin steht ein Schrein. Ein dunkler Holztisch, gleichmäßig abgebrannte Kerzen in Messingständern, Muscheln und Kiesel. In der Mitte: Ingrid und er in partnerschaftlicher Umarmung, beide weiß-wallend gekleidet, im Hintergrund die offene See. So bescheiden. Eine bescheidene Aufnahme.

Sie stehen in der Küche, mein Vater und er. In einer Pfanne brutzeln dicke Gambas, Tomaten, Knoblauch und Rosmarinstängel. Es riecht, wie es riechen sollte. Tony schwankt und lallt, ich nehme an, dass er schon eine halbe Flasche intus hat. Mein Vater fragt ihn auf Englisch, ob er ihm unter die Arme greifen soll, vielleicht den Salat waschen? Tony nickt und lässt ihn machen, dann steckt er sich eine Zigarette an.

Mama geht es nicht gut. Sie langweilt sich und hat gleichzeitig Angst. Ihr ist der Mann mit den langen Zähnen zuwider. Er hat keine Manieren, ist immer etwas zu laut, zu grob. Tony versteht das nicht. Tony würde sagen, das hat er so gelernt. Es ist wichtig, sich nicht darum zu scheren, wem etwas gehört; die Dinge sind sein, müssen sein sein, auch wenn sie es nicht wollen, und er wird sie nicht aus den Augen lassen, wenn er sie einmal hat.

Aber Mama will mich nicht hergeben, und ich sie auch nicht; wir wollen das Essen hinter uns bringen. Sie sagt, sie brauche frische Luft, also gehen wir hinaus. Sollen die Männer ruhig unter sich sein. Wir betrachten den ungemähten Rasen. Große braune Federn glänzen uns durchs Gras entgegen. Ich hebe eine auf und stecke sie mir ins Haar. Mama findet, ich sehe aus wie ein Indianer. 

„Als man noch Indianer sagen und sich wie einer verkleiden durfte.“ Sie klingt, als vermisse sie es.

Die Gambas dampfen bis zu uns. Ich bekomme Hunger. Dann singt Bo Diddley im Wohnzimmer. Muss mein Vater ausgesucht haben.

„Lina, komm mal“, ruft er aus der Küche. 

„Was gibt’s?“, rufe ich zurück.

„Er will dir die Messer zeigen.“ 

„Welche Messer?“

„Aus dem Lager.“

Tony hat sich vor Kurzem daran erinnert, dass er einen storage room auf Long Island besitzt. Er hat meinen Vater gebeten, mit ihm hinzufliegen und sich anzusehen, was er beherbergt, und ob man es verkaufen kann, denn Tony ist so gut wie pleite. Gefunden haben sie allerhand seltsames Zeug: ein Ölgemälde, auf dem Tonys Vater William Hitler, dem übergelaufenen Neffen des Diktators, die Hand schüttelt; eine Vase aus gebranntem Ton mit anzüglichen Tuschezeichnungen darauf; fleckige Fotoalben — und eben die Messer. Bowie-, Spring- und Jagdmesser, Butterflys, Opinels. Eine ganze Armeekiste voll. Ich habe ganz vergessen, dass ich sie mir ansehen wollte.

Tony bedeutet mir, ihm ins Kabuff zu folgen; mein Vater setzt währenddessen Nudelwasser auf und wendet die Gambas. Der Mann mit den langen Zähnen deutet auf ein Leichtmetallregal, in dem diverse Boxen liegen, die allesamt auf Englisch beschriftet sind. Ermutigt durch Ingrid hat er jahrelang mit der deutschen Sprache gekämpft; seit sie tot ist, benutzt er nur noch seine Muttersprache — oder gar keine. Im untersten Fach steht die Kiste mit den Messern. Ich bücke mich, um sie herauszuziehen, Tonys Blick im Rücken. 

„Careful now, they’re very old. And I used every single one of them at least once“, erklärt er und zeigt auf ein Springmesser. „How about you go ahead and try it? It should still work.“ 

Tatsächlich: ich drücke den Silberknopf, mit einem Surren schnellt die Klinge heraus. „Can I keep it?“, frage ich. Tony nickt und leckt sich die Lippen. Ich spüre seine müden Augen, die kräftigen, mit Altersflecken übersäten Hände, und bedanke mich trotzdem.

Zurück im Wohnzimmer ist Mama dabei, sich vom Riesling nachzuschenken. Sie hält das randvolle Glas mit spitzen Fingern, als sei das bloße Bewusstsein, dass auch der Gastgeber einmal daraus getrunken hat, haben muss, ihr zuwider. Ganz egal, wie oft es in der Spülmaschine lag.

Dolly Parton löst Bo ab, mein Vater wirft die Tagliatelle ins Wasser, ich rücke die Feder in meinen Haaren zurecht. Tony raucht.

Einmal war ich alleine hier. Da war Ingrid noch am Leben und kein Krebs in ihrer Lunge. Ich habe für sie Fotos von Kleidungsstücken gemacht, die sie im Internet verkaufen wollte — hauptsächlich Designersachen in grellen Farben und mit ausgefallenen Details. Immer wieder haben wir Raucherpausen eingelegt, sie hat kaum gehustet, und als sie sah, wie Tony uns durch die Glasfront beobachtete, hat sie mich nach Hause geschickt.

Die Nudeln sind fertig. Wir decken den Tisch, Mama und ich, dann bringen die Männer den Rest. Meine Eltern sitzen nebeneinander und ich neben Tony. Seine feuchte Aussprache ruiniert die Geschichte, die er uns nun erzählt: Damals auf den Straßen New Yorks, er stahl und schlief in Hinterhöfen, wurde er Zeuge einer Prügelei, in deren Verlauf ein Mann dem anderen eine Flasche Jack Daniel’s auf dem Kopf zertrümmerte und ihm anschließend die Arteria brachialis mit einer Glasscheibe aufschnitt. „He just went and cut that guy’s arm. Blood on the pavement, blood everywhere!“

Er gestikuliert mit der Gabel, dabei fliegt ein angekautes Stück Gamba auf meine Bluse. Ich will es entfernen, aber Tony nimmt seine Serviette und reibt auf dem Fleck herum, auf mir. Langsam und gleichmäßig. Mein Vater lässt ihn machen. Ich spüre die Berührung von Mamas Fuß unter dem Tisch. Es ist bald vorbei, sagt die Berührung. Er ist bald vorbei. Dann trinken wir aus, räumen ab, machen uns zum Abschied bereit. Meine Eltern gehen zum Wagen. Ich umarme Tony und lasse das Springmesser in ihm aufschnappen. 

„Kommst du, Lina?“ 

Er fällt. Keine Pointe.

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