26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Felix Kucher

Muk Bang

Wie in einem Agentenfilm. Lächerlich.
Zwei Stunden vorher ein SMS mit der Angabe des Treffpunkts.
Alte Papierfabrik, verlassenes Industriegelände, klar.
Sie werden abgeholt. Bitte beachten Sie, dass der Chauffeur mit Ihnen kein Wort sprechen wird.
Als er beim desolaten Portierhäuschen der ehemaligen Papierfabrik aus dem Taxi stieg, überraschte ihn die Dunkelheit. Das einzige Licht kam vom anderen Auto, das ihn erwartete. Er stieg aus, bezahlte, der Taxifahrer blickte skeptisch und gab Gas. 
Er näherte sich dem schwarzen Mercedes S. Ein Mann in Schwarz stieg aus und öffnete ihm die linke hintere Tür. Er versank in die schwarze Lederpolsterung, die Tür schloss sich mit einem satten Klang. Dafür gab es Sound-Designer, fiel ihm ein.
Unmöglich, durch die Scheiben etwas von der Außenwelt zu erkennen. Das Glas war innen abgedunkelt, ebenso wie die Trennwand zum Fahrer. Das Auto vibrierte kaum merklich. Das einzige, woran er überhaupt merkte, dass sie fuhren, waren die schwachen Lichtpunkte der vorüberziehenden Straßenlampen.

Diesen Abend noch. Die Krönung und der Schluss seiner Laufbahn. Er dachte an die Lokale, in denen er gewesen war. Als einer der ersten im Noma. Ganz früh bei El Bulli, als es noch niemand kannte. Auch den Trend mit den Flechten hatte er früh entdeckt. Als einer der ersten hatte er Björn Frantzén rezensiert, bei dem man zu jedem Gang eine ellenlange Herkunftsgeschichte erzählt bekam. Und dann das Ultraviolet in Shanghai entdeckt, das als erstes mit diesen Multivisions-Konzept begonnen hatte. Und nun war er auf das gestoßen. Ein Epigon, sicher, aber noch exklusiver, ein Popup, das nie mehr als ein paar Wochen in derselben Stadt blieb.

Als ihm der Fahrer die Tür öffnete, kam es ihm vor, als wären sie an den Ausgangspunkt zurückgekehrt. Heruntergekommene Lagerhallen, verrostete Container, ein Nicht-Ort wie er bei Augé im Buche steht.
Der Fahrer drückte den namenlosen Klingelknopf neben einer blattrigen Metalltür. Ein Summen, die Tür sprang auf. Der Fahrer machte eine kleine Verbeugung, ließ ihn vorbeigehen und schloss die Tür hinter ihm.

Ein kleiner Raum, spärlich erhellt durch eine Industrial Chic-Glühbirne, in der LED-Spiralen Metallfäden imitierten.  Er streifte seine Jacke ab und hängte ihn auf eine Hakenleiste an der rechten Wand, an der schon einige andere Jacken hingen. Schilder wie „Bewachte Garderobe“ waren hier wohl überflüssig. Die Räume waren sicher voll mit versteckten Kameras. Außerdem würden sie nicht mehr als zwölf sein, die Zahl war angeblich streng limitiert. Zwölf. Die Zahl der Vollkommenheit. Zwölf Gäste pro Abend, zwölf Räume, jeder hatte vierhundert Euro bezahlt.
Ein Geräusch, eine Frau erschien, sehr dünn, schwarzer Mao-Anzug, schwarzer Bob, dick gezogene Augenbrauen, messerdünne rubinrote Lippen. Sie nickte ihm zu und streckte ihre Hand aus. Am Handrücken erblickte er ein Mandala-Tattoo. 
„Ich bin Dia, zumindest heiße ich heute Abend für Sie so. Ich darf Sie durch den Abend begleiten. Bitte geben Sie ihre Uhr und ihr Smartphone in diese Schale.“ Sie hielt ihm einen grünlich phosphoreszierenden Behälter vor die Brust und wartete geduldig, bis er sich der beiden Dinge entledigt hatte.
Der erste Raum war kahl und von grünen Bottom-up-Scheinwerfern ausgeleuchtet. Um vier Stehtische standen bereits acht Leute, alle in Schwarz, vier Männer und vier Frauen, eine davon kahl. Er kannte niemanden, aber sicher waren einige Kritiker dabei, die für diesen Abend hergeflogen waren.
Um die Gruppe herum standen wie Stelen vier junge Frauen im Mao-Anzug, die wie Klone von Dia aussahen. Aus unsichtbaren Boxen tönte kaum wahrnehmbar koreanisch anmutender, ja was? Deep House?
Dia erklärte ihm den Inhalt der mokkatassengroßen Behälter, die auf den Tischen standen: Relishes aus verschiedenen grünen Gemüsearten, Spirulina-Smoothies, frischer, auf Haifischhaut geriebener Wasabi, hundert Prozent. Er erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass sich in diesem Restaurantzeug nur ein Prozent des grünen Krens befand und nickte lächelnd.
Eine andere Frau übernahm: Verschiedene Schäume auf Basis von Helgoländer Seetang und Lüneburger Spitzwegerich, dazu eine Variation chlorophyllgefärbter Bio-Brote. Er deutete fragend auf ein Gestell, in dem Eistüten zu stecken schienen.
„Tatar vom Milchkalb und getrüffelte foie gras in Waffelhörnchen aus dreierlei Mehlen, glutenfrei“, sagte die Frau. Ihre Stimme klang so höflich wie belanglos. Eine Navi-Stimme.

Nach einem weißblauen Raum mit Meeresgetier in Form von Espumas, Filets und Ikizukuri-Sashimis, bei denen einige Fischköpfe noch nach Luft schnappten, nach einem Raum mit ultramarinblauen Wänden und Walgesängen wurde die Schar endlich in den Saal gebeten. Er hatte bisher kaum mehr als drei Sätze mit einem älteren Herrn gewechselt, der etwas Krähenhaftes hatte und sich abschätzig über den Chablis geäußert hatte, der im Fisch-Raum gereicht worden war. Die Leute sprachen insgesamt wenig, und wenn, im Flüsterton. Er verstand fast nichts, da die Soundkulisse jeweils lauter war. Dia wich ihm nicht von der Seite. Ob sie das hauptberuflich machte? Was sie wohl den Tag über tat?
Der Saal.
Wie die anderen Räume war auch dieses Zimmer – Saal war eine eindeutige Übertreibung – fensterlos. Wände, Boden und Möbel mussten schneeweiß sein, da die projizierten Bilder völlig klar waren. Aktuell flackerten riesige Lagerfeuer an allen vier Wänden. Er blieb stehen und blickte nach oben. Von der schwarzen Decke hing wie in einem Theater eine Batterie von Spots, Beamern, senkrecht angeordneten Minibeamern, Boxen und kleinen Lanzen. Das mussten die Duftdüsen sein. Die Geräte surrten, aus den Boxen eierte Countrymusik, die wohl die Lagerfeuer und Präriebilder sekundieren sollte.
Kitsch, schoss ihm durch den Kopf. Zu viel des Guten, würde er schreiben. Schade, er hatte gedacht, seine letzte Rezension könnte nur positiv ausfallen.
Alle saßen bereits, er steuerte auf den einzigen freien Platz zu und registrierte, dass auf die Bereiche des Tisches, auf denen gleich die Teller stehen sollten, die Namen der Gäste mit tanzenden Buchstaben projiziert wurde. Das wiederum war eine nette Idee, die man erwähnen sollte.
Er dachte an den Techniker, der irgendwo in einem Kämmerchen sitzen und die Regie führen musste, die Speisenfolge auf einem Blatt Papier vor sich, ähnlich wie ein Licht- und Tontechniker mit der Liste der Nummern und seinen Notizen bei einem Popkonzert. Ob er dabei einen Burger aß und Cola trank?

Die Männer und Frauen an den Tischen sprachen noch immer im Flüsterton miteinander, einige kannten sich offenbar, aber auch die anderen hatten keine Mühe, sofort Konversation zu machen. Er verabscheute Small-Talk und hatte es auch hier bisher vermieden, die Leute anzusprechen. Unmöglich, dass ihn bereits jemand erkannt hatte. Die Frau rechts von ihm, die auch ganz für sich war, konzentrierte sich völlig auf die Speisen. Vielleicht würde er mit ihr ein paar Worte wechseln. Die ersten Ministeaks wurden aufgetragen, dry aged und fermentiert im Holzfass, kaum größer als eine Streichholzschachtel. Dazu fermentierte Melonen. Zweimal Verfaultes, dachte er. Aber mal sehen.

Als die Bedienerinnen im Mao-Anzug wieder durch die abgedunkelten automatischen Türen huschten, hörte er durch die Öffnung Lärm, menschliche Stimmen. War das Schimpfen, Schreien?  Die Türen schlossen sich, der Lärm war mit einem Mal weg. Er hob sein Glas in Richtung seiner Nachbarin und nahm einen Schluck. Mundspülung. Sancerre, mit ein wenig Hefegeschmack auf der Zunge, perfekte fermentation malolactique, junges Eichenfass. Er stellte sich die Weingärten des Bordelais vor, die Mündung der Gironde, das Meer.
Die Türflügel glitten auf, ungemütliches Licht drang in den Raum. Im Türeingang standen zwei Asiaten mit schwarzweiß karierten Hosen, weißem Oberteil und Latexhandschuhen, offenbar Küchenpersonal. Sie glänzten vor Schweiß und fuchtelten mit großen Messern herum, die sie in die Höhe reckten. Eine Showeinlage? Würde jetzt live irgendein Tier geschlachtet werden? Nicht schlecht.
Ein dritter Mann, der ähnlich aussah, drängte sich an den beiden vorbei, durchquerte den Raum und verschwand durch den Ausgang. Man hörte einen Wortwechsel, einen dumpfen Schlag. Die Projektionen an den Wänden erloschen, nur die Minibeamer kringelten noch die Namen auf die Teller.
„Sehr geehrte Gäste, wir machen jetzt Schluss“, tönte eine Stimme aus dem Lautsprecher. „Unser Chef de cuisine, der Maestro, wie Sie ihn nennen, ist in der Kühlkammer. Die Souschefs ebenso. Sie werden einander eine Zeit lang wärmen. Sie können sie ja später befreien. Ich nehme an, dass heute wieder Gastrokritiker dabei sind. Schreiben Sie ruhig, dass neben den vier Chefs hier zwölf Pakistanis arbeiten, jeder um fünf Euro Stundenlohn, vierzehn Stunden am Stück, damit Sie sich mit dem Skalpell geschnittenes Sashimi von Gelbschwanzmakrelen in ihre Mäuler stopfen können. Wir verschwinden jetzt. Es hat uns ohnehin nie gegeben, oder glauben Sie, dass wir angemeldet wurden? Schreiben Sie über uns. Wir haben die Tür verriegelt. Es tut uns Leid, aber wir brauchen ein wenig Vorsprung, ehe die Polizei hier ist. Wir haben aber noch eine kleine Abschiedsvorstellung für Sie.“
 „Eine Kunstintervention? Eine Art subversives Happening?“, fragte ihn die Frau, während die Stimme weitersprach.
Er zuckte die Achseln und nahm ein Stück reduzierte Melone.
„Keine Ahnung.“
Er nahm ein paar Cashews aus der Schale vor ihm. Die Show begann ihn zu langweilen.
Die zwei Asiaten verließen den Raum, man hörte Geräusche an der Tür.
Er sah sich um. Alle waren gelassen, einige grinsten.
Originelle sozialkritische Kunstaktion. Sicher. Was sonst.
Ein Schuss responsibility als Würze des Abends.
Aber als die Beamer klickten und wieder Bilder auf die Wand warfen, war er zunächst beruhigt. Es würde weitergehen. Aber was war DAS denn?
Das erste Bild des Videos, das vierfach synchron auf allen Wänden startete, irritierte ihn.
Hinter einem knallbunten Berg von Burgern, Fritten, Teigtaschen, Sushi, Maki, hinter Häufchen von japanischem Knabberzeug und zuoberst einer gewaltigen Schüssel mit Tagliatelle lächelte eine feiste Asiatin mit kreisrundem Gesicht. Ihr Mund war breit, die Wangen schimmerten in einem Pink, das weh tat und sich furchtbar mit ihrem kupfernen Haarhelm und dem knallroten Hintergrund schlug.
Sie quasselte aufgeregt, es musste Japanisch oder Koreanisch sein, nahm ein Glas mit Tomatensugo und schüttete es über den Tagliatelle-Berg.
Im Raum herrschte Totenstille. Er sah sich um. Alle glotzten auf diese Erscheinung, den Kontrapunkt zu allem, was bisher an diesem Abend zu erleben war.
Die vierfache Frau nahm ihre Stäbchen und begann zu essen.
Zuerst hielt sie jeden Bissen vor die Kamera, ob Nudel, Sushi, Maki, Teigtasche, Burgerbestandteil oder frittiertes Zeug, bisweilen kam sie gefährlich nahe an die Linse, sodass eine schlappe Burger-Gurke einmal die ganze Wand ausfüllte.  Nach diesem Essens-Zeig-Ritus, der ihn an eine Katze erinnerte, stopfte sie sich den Bissen in den Mund und sprach dabei immer weiter. Zwischendurch aß sie mit bloßen Händen, fasste wahllos nach Makis und Teigtaschen, nach Fischhautknabberzeug und Glasnudeln. Zeigen, sprechen, stopfen, sprechen. Endlosschleife in einem Tempo, dass er sich fragte, wann sie Zeit zum Atmen und Schlucken hatte.
Er hörte er die ersten Würgegeräusche eines Nachbarn. Er sah nicht hin.
„Muk Bang“, sagte die Frau neben ihm.
„Wie?“
„Muk Bang. So heißt das. Schaue ich auch manchmal. Gibt es tausendfach auf YouTube.“
Er sah sie verständnislos an.
„Sie kennen das?“ sagte er trocken.
Sie nickte, ohne den Blick von der Wand abzuwenden.
Der Frau auf den Wänden hing Coleslaw aus den Mundwinkeln, der Rest von einem Pulled Pork Burger, aber schon stopfte sie etwas in sich hinein, das wie eine orange Plastiktüte aussah und genauso raschelte. Dann riss sie den Aludeckel von einem Plastikbecher und kippte eine joghurtartige Masse über ein neues Nudelkonglomerat.
Die Gäste redeten inzwischen laut durcheinander. Jemand war an der Tür und rüttelte daran herum.
Der Frau hing jetzt ein dickes Nudelbündel aus dem Mund. Sie blickte mit Glubschaugen in die Kamera, biss den Strang ab, der Rest fiel zurück in die Schüssel.
Er hörte jemanden würgen, hörte, wie sich jemand erbrach. Jemand machte sich an der Tür zu schaffen, rannte mit der Schulter dagegen.
„Wir müssen den Tisch dort nehmen“, sagte einer.
Er blickte zur Seite. Zwei Männer hatten das Marmortischchen mit einem gusseisernen Fuß, das in einer Ecke gestanden hatte, aufgehoben und traktierten mit diesem als Rammbock die Tür.
Die Frau auf der Leinwand hatte ein neues Bündel Tagliatelle im Mund. Die weiße Sauce lief die Nudel entlang und tropfte auf die Schüssel hinunter. Sie schien ratlos, ob sie kauen, abbeißen oder ausspucken sollte. Die Kamera zoomte auf ihre glasigen Augen und hielt darauf.
Er nahm die Cashews aus der Schale und stopfte sich den Mund voll, bis seine Backen spannten.
Mit einem Knall brach die Tür.

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