26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN
Claudia Lüer
Morgenlicht
Wie jeden Abend, seitdem ich allein lebe, überprüfe ich auch heute zum wiederholten Male, ob die Haustür wirklich verschlossen ist. Als ob ich das Bild in mir nicht halten könnte, und ein erneutes Vergewissern immer wieder notwendig ist. Mach dich nicht verrückt, denke ich schließlich, wer soll dich schon holen, und lege mich schlafen. Dann kommt er zur Tür herein, sanften Fußes. Nachdem die Mitte der Nacht weit überschritten ist. Fast lautlos schleicht er den langen Flur entlang und steuert zielsicher auf mein Schlafzimmer zu.
Ob er wohl seinen Duft riecht, der immer noch in der Luft seine Bahnen zieht? Spürt er noch seinen Fußabdruck? Hört er den leisen Klang seiner Wörter, die sich in den hintersten Winkeln ein Plätzchen suchten, um in Ruhe nachzuhallen?
Jetzt kommt er näher, sein Atmen wird schneller, lauter. Komplett bekleidet legt er sich neben mich, stumm, wie aufgebahrt. Den Blick starr ins Mondlicht gerichtet, das durch das Fenster hereinfällt und die Angst in der Luft noch dichter macht. Warum ziehst du nicht wenigstens die Schuhe aus, will ich gerade sagen, als ein kalter Schauer über meinen gesamten Körper kriecht, und meine hoch strapazierten Nerven unkontrolliert zu zucken beginnen. Wie er überhaupt zur Tür hereingekommen sei, frage ich dann lieber und rücke zwei Handbreit von ihm weg. Mir ist kalt. Mein Herz erfriert. Und ohne dass seine Augen vom fahlen Mondlicht ablassen, sagt er mit dünner Stimme, die nicht nach seiner klingt, dass er längst wüsste, wie mein Türschloss zu knacken sei.
*
Rad fahren gehörte für mich schon immer zu jenen wenigen Beschäftigungen im Leben, die verlässlich glücklich machen. Es ist ein bisschen wie fliegen mit Bodenhaftung. Ich liebe es, mich aus eigener Kraft fortzubewegen, mit der Sonne im Rücken und dem Wind im Gesicht, gibt es doch kaum etwas Vergleichbares, was sowohl die Fühler nach innen richtet als auch das Bewusstsein für das Außen schärft. Die Seele nackt ausgestreckt, um sich vom Sinneskompott Natur pur beleben zu lassen. Während man mit jedem Tritt mehr und mehr eins wird mit seinem Körper, entfaltet sich der Geist zu seiner wahren Größe, wird wacher, aufmerksamer, das Gras um sich herum grüner und die Mohnblume roter.
Nach einer abrupten Trennung, die mir arg zusetzte, weil sie alles Dagewesene umkehrte, war mein Fahrrad wie ein Rettungsanker für mich. Ich war süchtig nach Endorphinen, aber auch nach dem Gefühl, im gleichmäßigen Treten meditativ Kraft zu schöpfen, um mich selbst wieder zu fühlen und gleichzeitig mit ausgefahrenen Antennen zu erleben, wie schön die Welt doch war. Farben tanken. Duftspeicher auffüllen. Und dann die neu gewonnene Kraft und den Mut mit hinübernehmen in das wirkliche Leben, das für mich all seinen Glanz verloren hatte, nach Sinnsuche schrie, mich in seine tristen Grautöne einhüllte, niederdrückte und betäubte. Nur für eine Weile wieder den Boden unter den Füßen spüren und das feine Kribbeln unter der Haut. Lebendigkeit. Vorsichtig ahnen, wie das Glück riecht. Einen Schritt vor, zwei Schritte zurück.
So kam es, dass ich beim Radfahren Till kennenlernte. Er saß neben mir, bei einer Rast auf meiner Lieblingsbank, die einen berauschend schönen Blick auf das Gebirge bot. Still und leise tauchte er aus dem Nebel auf, als hätte ihm ein warmer Wind höflich den leeren Platz neben mir zugewiesen, damit er sich im gemeinsamen Versunkensein den Atem rauben und die Sinne betören lassen konnte. Eigentlich suchte ich in diesen Momenten nie das Gespräch. Erfährt ein Kunstwerk nicht erst seine Vollendung durch die Stille, die es umrahmt? Und je schlichter die Einfassung, desto wirkungsvoller ist doch der Inhalt. Aber heute war es anders. Das Werk sehnte sich nach einem doppelten Rahmen, die Seele, gestärkt und so weit erholt, um ihre Flügel wieder vorsichtig ausbreiten zu wollen, hatte gute Vorarbeit geleistet. Denn ich fühlte, dass ich nach langer Zeit wieder dazu bereit war, mich mit jemandem über das auszutauschen, was mein Herz bewegte. Meine Zellen neu besetzen zu lassen. Vielleicht sogar mit einer Hauptrolle, wer weiß.
Deshalb war ich empfänglich für sein Lächeln. War es zu früh, um einen neuen, eigenen Weg zu gehen, in Freiheit und Eigenständigkeit miteinander zu sein? Dabei sich erneut der Gefahr auszusetzen, in die Fänge eines einsamen, sich ohne innere Verbindung die Wunden leckenden Wolfes zu geraten, der mich als sein persönliches Eigentum betrachtete? Doch wie sollte ich in diesem Moment erkennen, ob nicht wieder ein Sorgenkind neben mir saß, das mich magisch in seinen Bann ziehen wollte und herzlich dazu einlud, sein Retter zu sein? War ich doch gerade erst im Aufbruch, alte, krank machende Muster mühsam abzuschmeißen und in einer Übergangsphase zum Einfürallemalgeheiltsein Stacheln auszufahren, damit mein Bauch schön weich blieb.
Das Schlüssel-Schloss-Prinzip hatte bereits zugeschlagen. Sekundenschnell. Und eine Brise Wind später erhielt seine stattliche Armee unscheinbarer, durchsichtiger Saugnäpfe das Kommando anzugreifen. An langen, seidenen Fäden wurden sie ausgeworfen, um sich ein gemütliches Plätzchen auf meiner Haut zu suchen und sich dort, einen kontrollierbaren Bereich einnehmend, mit Macht festzusaugen. Schon war ich wieder mittendrin. Keine Chance mehr, um zu entkommen. Da war es wieder, dieses verführerische Gefühl, gebraucht zu werden, das mich zu etwas ganz Besonderem erhob, mit Sternenstaub puderte. Und die Abhängigkeit, die bereits seit Tagen in meinem Schatten lauerte, leckte sich hungrig die Lippen, wohl wissend, dass sie meinen zarten Mut, dieses Mal die Augen aufzuhalten, meine Schweizer Garde aufzustellen, die mich vor der totalen Besetzung warnen und beschützen sollte, mit Leichtigkeit auslöschen konnte.
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Wir waren unterwegs ins Voralpenland, wie jeden Samstag, um eine kleine Bergwanderung zu machen. Das Wandern war etwas, in dem wir uns gefunden hatten, das uns in einem erträglichen Maß Nähe schenkte, weil zugleich für Freiheit und Unverfänglichkeit alle Tore offen standen. Beide liebten wir die Berge mit der Bewegung, zu der sie einluden, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Vor unserer ersten Begegnung rannte Till jede Woche den Jochberg hinauf, immer wieder und wieder. Mit einer Stoppuhr in der Hand, die ihn unablässig ermahnte, seine Leistung steigern zu müssen. Ich brachte ihn dazu, auch einmal eine andere Umgebung zu erkunden, gelegentlich stehen zu bleiben, sei es zum Verschnaufen oder zum Genießen; ob er letztendlich zu tiefem Genuss fähig war, sei dahingestellt.
Bereits die Fahrt zu unserem Ausflugsziel war für uns beide eine Herausforderung und ließ mich zweifeln, ob ich mit Till einen guten Weg eingeschlagen hatte. Wir hielten beim Bäcker, um uns mit Proviant einzudecken, er bezahlte, ich sagte unbedacht lächelnd, das hätte ich auch erledigen können und provozierte damit, als wir wieder im Auto saßen, eine Schimpftirade seinerseits, bei der mir Hören und Sehen verging. Mit offenem Mund ertrug ich seine verletzenden, ja vernichtenden Worte, die wie Gewehrschüsse aus ihm herausknallten und mitten ins Herz trafen. Anschuldigungen, die mit der Situation beim Bäcker nichts mehr zu tun hatten. Tränen stiegen mir in die Augen, ich war stumm, fassungslos, unfähig zu reagieren, bei dieser Wucht an Gewalt, die auf mich einschlug. Worte, die mich mit Füßen traten. Mit dreckigen Sohlen, die ihren Schmutz auf mir abladen wollten.
Plötzlich bekam ich schreckliche Angst. Denn mein Ertragen verstärkte seine Aggression. Die Furchen auf seiner Stirn wurden härter, steiler. Abgründe taten sich auf. Du bist so jämmerlich, sagte er und drückte mich an die Beifahrertür. Dich mit so einem kaputten Typen abzugeben. Schlampe. Bist einfach nur nichts, und aus seinen Augen blitzte die Boshaftigkeit. Nichts von dem, wie er sich gab, erinnerte noch an ihn. Als hätte ihn ein böser Zauber eingehüllt und komplett auf links gekrempelt. Sein Arm griff über mich, um die Tür zu erreichen. Das macht doch alles keinen Sinn, sagte er noch, während er den Wagen auf die Gegenfahrbahn lenkte. Der Schreck riss meine Augen auf, ließ mich erstarren, während mich ein grelles Licht blendete.
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Natürlich hätte ich die Situation verlassen müssen. Halt bitte an und lass mich aussteigen, hätte ich ganz ruhig sagen müssen. Ich ruf dich an. Doch die Anziehungskraft, die von Till ausging, war einfach zu stark, die Besetzung zu mächtig, mein inneres Blatt Papier noch zu weiß. Die Schweizer Garde hatte versagt. Es kam unvorhersehbar, von einer Sekunde zur anderen. Die Eskalation bedurfte keiner schlechten Grundstimmung, nein. Meine Zurückweisung, vorsichtig in Watte gepackt, die als solche nur von einem Verletzungskünstler wie ihm zu identifizieren war, reichte aus, um die Situation zu kippen und Gewalt ins Spiel zu bringen. Destruktion. Für mich eine alte Bekannte, deshalb hielt ich aus, rettete den Ertrinkenden. Auch wenn ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht erklären konnte, warum.
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Aussichtsreich, weil ohne Wald auf dem Gipfel und leicht erreichbar – so war der Hausberg der Tölzer in meinem Wanderführer beschrieben. Eine Tour, die auch am Nachmittag noch leicht zu machen war. Wir wählten die bequeme, sanft ansteigende Forststraße, um zur Schwaigeralm zu kommen. Dass man auf dem Weg zum Rechelkopf noch zwei weitere Gipfel sammeln konnte, bot für Till einen besonderen Reiz, auch wenn sein Rucksack bereits voll davon war. Niemals machten sie ihn satt, im Gegenteil. Je mehr Gipfel er stürmte, desto gieriger wurde er danach, das Maul mit spitzen, scharfen Zähnen gefährlich weit aufgerissen.
Der Aufstieg verlief nahezu wortlos, allzu beklemmend saß uns noch der vorangegangene Streit im Nacken, bewegungseinschränkend nach innen, wie nach außen. Jeder marschierte in seinem Tempo, und man traf sich am Gipfel, um gemeinsam die Brotzeit und den wunderbaren Ausblick zu genießen. Till verhielt sich übertrieben sorglos, während ich auf meiner Zunge Bitterkeit schmeckte. Pah, dachte ich, wie verlogen du doch bist, schäm dich. Fast kam es mir vor, als würden sich die sattgrünen Tannen zu mir herunterbeugen, um meine Pein zu unterstreichen. Was um Himmels willen machst du? Gehst hier spazieren, als wäre nichts geschehen, flüsterten sie vorwurfsvoll in mein Ohr. Wie schwach du doch bist! Kehr um! Noch ist es Zeit.
Und prompt blieb mir ein Stück Wurstsemmel im Hals stecken. Ich war es gewöhnt, dass man in solch einer Situation nachfragt, ob alles in Ordnung ist, Aufmerksamkeit verschenkt, Fürsorge. Unterstützend den Rücken klopft. Doch Till, den Blick starr geradeaus gerichtet, packte zusammen und zeigte keine Regung. Verständnislos schüttelte ich den Kopf, während ich mich ebenfalls aufmachte, um abzusteigen.
Schweigend und jeder in seine eigene Gedankenwelt vertieft, stapften wir hintereinander her und arbeiteten uns dabei ein gutes Stück voran, bis mich ein mulmiges Bauchgefühl beschlich, da der Weg zunehmend verwilderte, und wir plötzlich vor einer Absperrung standen. Ein Schild verwies nach Mariastein, was ein deutlich längerer Weg war, als der, den wir ursprünglich nehmen wollten. Es dämmerte bereits, hatten wir doch nach unserem späten Aufbruch auch noch unnötig viel Zeit auf dem Gipfel vertrödelt. Till ignorierte die Absperrung und mein aufkommendes Zögern. Zum wiederholten Male an diesem Tag bemerkte ich, dass er mich überhaupt nicht wahrnahm. Als wäre ich nicht vorhanden. Ich folgte ihm, obwohl sich innerlich ein wildes Meer dagegen aufbäumte. Seine einsame Entscheidung, weiterzugehen, ärgerte mich maßlos, mehr noch, dass ich nichts entgegnete, obwohl mir Verstand und Gefühl bereits die dunkelrote Karte zeigten. Vor allem, als der Weg immer beschwerlicher wurde und tendenziell bergauf verlief. Niemals einen Umweg nehmen, der über einen neuen Gipfel führt, wenn die Dunkelheit hereinbricht, hämmerte es rot blinkend durch meinen Kopf. Meine Schritte wurden langsamer, mein Atem schneller und neben den schrillen Alarmglocken spürte ich die Verzweiflung, wie sie mit wässrigem Mund meine Kraft fraß und mich ganz in ihren Besitz nahm. Ist der Typ denn komplett bescheuert, dachte ich und kochte vor Wut, marschiert los und kümmert sich nicht mehr um mich. Aber war das nicht auch meine Aufgabe? Besaß Till überhaupt die Fähigkeit, sich zu sorgen? Das ist der falsche Weg, brüllte ich und merkte, wie meine Stimme einen wenig eleganten Salto schlug. Wortlos drehte er sich um, blieb kurz stehen und strafte mich in diesem Moment mit dem Höchstmaß an Verachtung, das er trotz aller Anstrengung noch aufbringen konnte. Mehr noch, der blanke Hass stand in seinem Gesicht, die Züge hart wie Stahl, die Augen eiskalt. Den Mantel seiner aufwändigen Kostümierung von sich reißend, zeigte er mir nun wieder sein wahres Gesicht. Nackt und unverfälscht. Sein Blick stach wie ein Messer in mein Herz, das kurzentschlossen zwei Schläge pausierte, weil es der Wucht an Boshaftigkeit nicht standhalten konnte. Ich fürchtete mich vor diesem Mann, der sich in regelmäßigen, immer kürzer werdenden Abständen von einer dicken Schicht Makeup befreien musste, um wieder Luftholen zu können. Mir wurde schlecht, als seine harten, schmalen Strichlippen Worte formten. Niedergedrückt und geschwächt durch seine Macht, lehnte ich mich erschöpft an einen kräftigen Baumstamm, als erhoffte ich mir von ihm eine Stärkung meiner gebrochenen Seele. Du musst an dir arbeiten! Mach was du willst, aber komm bloß nicht mehr angekrochen, sagte Till noch, bevor er sich umdrehte, um weiterzugehen, und ließ mich mit dem Klang jeder einzelnen Silbe spüren, wie wenig er mich achtete. Jetzt nur nicht aufgeben, dachte ich noch, diese Genugtuung gebe ich ihm nicht. Um keinen Preis. Dann schluchzte ich hemmungslos, weil ein gesunder Selbsterhaltungstrieb in mir ein Erdbeben löste, das in ungleichmäßigen Wellen durch meinen Körper tobte, so dass ich wieder genug Leben fühlte, um handeln zu können. Ich tastete mich durch mein Inneres, um all meinen Mut, den ich aufspüren konnte, zusammenzufegen und meine leere Körperhülle in Bewegung zu setzen. Allein. Barfüßig. Mit empfindsamen Sohlen, die vorsichtig, aber zielstrebig festen, sicheren Boden suchten. In einer stoischen, angstvertreibenden Gewissheit, ihn auch zu finden. Und spürte, wie jeder einzelne Fußabdruck die Sicherheit aufsaugte wie einen süßen Saft und mich Schritt für Schritt mit Kraft betankte. Auch wenn mich das Echo seines teuflischen Lachens noch bis ins Tal verfolgte.
Was alles hätte passieren können, wollte ich nie zu Ende denken. Für mich zählten nur der Moment und das, was die Zukunft noch bringen würde. Typen wie Till sollte ich von nun an aus sicherer Entfernung wittern und meiden. Mit absoluter Gewissheit ein für alle Mal geheilt, stand auf meiner Stirn. Ich saß im Zug in Richtung München, ohne Schuhe und ohne Gepäck. Erleichterung faltete sich in mir auf, wie ein locker zusammengeknülltes Blatt Papier, und sorgte für wohlige Entspannung, während ich stumm aus dem Fenster schaute, um den herrlichen Sonnenaufgang zu genießen. Sein Rotorange wärmte mein Herz. Ein neuer Tag, ein neues Licht, dachte ich und fühlte, wie sich der Anflug eines Lächelns in mein abgekämpftes Gesicht schlich. Ich muss mein Türschloss austauschen lassen, schoss es mir blitzartig durch den Kopf, gleich heute noch. Dann schlief ich erschöpft ein.