26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN
Birgit Letze-Funke
Corona-Tagebuch einer system i r r e levanten Berlinerin
März bis Juli 2020
13.03.
Freitag, der Dreizehnte. „Sturm hat Euer Trampolin in unseren Baum gehängt.
Grü.e nach Berlin.“ Sone WhatsApp-Nachricht hat grade jefehlt! Mist. Wer hat
denn jetzt Zeit für fliegende Trampoline in Mecklenburg? Ick. Ick bin
soloselbständig und allet andre als „systemrelevant“, und ick habe demnächst janz viel Zeit.
Dit Dorf sieht aus wie immer. Der Nachbar werkelt in seinem Jarten, wie immer.
Als ick dit Tor zum Hof öffne, unterbricht der sein Tun und kommt mit hoch
erhobenen Händen rüber. Er hält mir seinen Ellenbogen zum Gruß hin und
grummelt: „Weil Handschlag doch jetzt verboten ist!“ Naklar.
Dabei wirkt hier allet so friedlich. Die Sonne wärmt schon, Märzenbecher überall
und zwee Kraniche stolzieren über meine Wiese. Ick füttere Bruno, den großen
Eisenofen, mit grob gehauenem Holz und erfahre aus dem Radio die neuste
Neuigkeit: „Der erste Corona-Tote im Landkreis“. Dit Feuer ist so gierig, umfängt
mit langen Zungen den Fraß und nimmt und nimmt… Ick sitze da und bestaune
die Urjewalt.
03.04.
Wir, zwei großstadtverseuchte Virenfreie, waren lange vor Abriegelung der
Landesgrenze – wohljemerkt reden wa von der Grenze zwischen der Welt und
Mecklenburg Vorpommern! – auf unser Anwesen jekommen, um auf absehbare
Zeit da zu wohnen, wo wa sonst Urlaub machen.
Mehr als drei Wochen erjingen wir uns schon bei traumhaftem Wetter in selbst
auferlegter Quarantäne und mieden alle unnötigen sozialen Kontakte. Und dann
gab es einen amtlichen Erlass „Nicht-Mecklenburger RAUS!“. Sogar die Nachbarn
meinten, dass dit von der Landesrejierung beherzt erlassene Einreiseverbot für
uns natürlich nich jilt. Selbstverständlich soll der jemeine Mecklenburger vor dem
Drachen mit den schrecklichen Coronaköpfen beschützt werden, aber doch nich
vor uns!
2
05.04.
Nie hätte ick mir träumen lassen, dass sich dit so jemein anfühlt, wenn sonntags
in aller Frühe ne dreimannstarke Polizeijewalt auf deinem Hof uffschlägt, dich aus
deinem eignen Bette jagt und dich auffordert, binnen zwei Stunden dit Land zu
verlassen.
„Sonst?“, habe ick jefragt und versucht, meine Jesichtszüge im Gleis zu halten.
„Sonst kostet das weit mehr als eine Kleinigkeit!“, hat mir der Oberpolizist jedroht
und mir dabei direkt inne Pupille jekiekt.
09.04.
Fünf Tage Widerstand, bevor wa uns wie Verbrecher haben verabsentieren
müssen! Die Jungs waren uns wieder in voller Montur jeschickt, dit völlig
unangemessene Dekret der Landesmutter unter Strafandrohung durchzusetzen.
Ick kann dit wirklich nich sportlich nehmen. Sowat bringt meine Grundfesten ins
Wanken! Und die anjedrohten Bußjelder sind noch unverschämter als die Tatsache
an sich.
11.04.
Nu wieder in der Berliner Stadtwohnung mit ohne Balkon! Ick könnte zwei Hektar
Wiese um mein Homeoffice rum haben, und ick werde inne Großstadtjefahrenzone
abjeschoben! Is dit der meck-pomm’sche Beitrag zur Durchseuchung?
Dabei müssten doch die Zweitwohnsitzer direkt verpflichtet werden, sich stante
pede in ihre Dependancen uff’n Lande zurückzuziehen, um die Ballungsräume zu
entlasten. Da wär mal Solidarität von de Flachländer für den Rest der Welt
anjesagt; der drängelt sich inne Großstadt nämlich unvermeidbar unzulässig.
13.04.
Jetzt bin ick voll am Boden. Ick bin eine allet andre als „systemrelevante“
Soloselbständige, der dit finanzielle Polster aus besseren Zeiten unterm Jesäß
wegschmilzt! Ick finde, dass dit mit der Sonne jetzt mal langsam reicht! Unter
diesen Umständen fühle ick ma reineweg behellicht von so viel jutem Wetter. Und
nich mal Ostern in Familie jeht jetzt. Aba unsre Oma will sich partout nich
beschützen lassen. Und denn muss ick daran denken, dass die Vögel uff meiner
Wiese bald nischt mehr zu futtern finden, weil doch allet vertrocknet in diesen
Zeiten. Mein eigener Futternapf is ooch fast leer, weil ick mit meiner Kunst
3
pandemiebedingt nu jänzlich uff’n Schlauch stehe, und die so eifrig verteilte
Corona-Soforthilfe nu grade für Leute von meiner Art nicht jedacht sein soll!
23.04.
Schule und Kita sind immer noch zu. Die Jörn hab ick vor YouTube jeparkt. Sollen
sich die Jungs mal ankieken, wie ein Community-Mund-Nasen-Schutz jenäht wird.
Ab Montag brauchen wa den nämlich alle inner Öffentlichkeit. Da jilt strengstes
Vermummungs-Jebot! – Eigentlich wär man jetze mit na Burka voll vorne…
26.04.
Ick schiebe voll Panik! Wenn ick dem miesen Monster mit einer Maske die Stirn
bieten muss, beschlägt ma immer die Brille. Wat is eigentlich, wenn ick
beispielsweise inne Bahn einsteige, die Brille beschlägt, beim Anfahren ruckt es,
ick greife nach der Haltestange, ick vergreife mich, weil ick die Haltestange ja nich
erkennen kann, ick fliege der Länge nach den janzen Gang im Waggon lang,
komme mit jebrochenem Handjelenk und meiner Kinnlade an der jetzt
zerschmetterten Kniescheibe einer Dame zum Halten… Sind wir beede dann als
Corona-Kollateralschaden versichert?!
28.04.
Nach 6 Wochen Ausgangsbeschränkung und strikt einjehaltenem Kontaktverbot
beschwöre ick ma täglich: „HALTE DURCH!“ Aber ick kann mich selba nich mehr
hören, weil die Jöre unter meim Schreibtisch so ville Krach macht, dass ick keen
klaren Jedanken denken kann. Warum hat mir keener jesagt, dass die eigene Brut
in häuslicher Jefangenschaft so jefährlich jefährdet ist? Und wenn die Oma per
FaceTime dem Kleinen ein Haustier als Kumpelersatz einredet, trägt das nicht
grade zur Deeskalation bei. Ick konnte mein Joldkind knapp von nem Hund uff eine
mongolische Rennmaus runterhandeln. Diese Schwäche hat mich mein Sofa
jekostet, sonst wäre ja keen Platz für dit Riesenterrarium, wat son Viech natürlich
braucht.
01.05.
Meine Gebete wurden erhört. Ab nächste Woche kriege ick als Zweitwohnsitzerin
ein dünnes Scheibchen meiner Freiheit zurück und darf meinen eigenen Hof wieder
betreten. Dit halslose Unjeheuer unter meim Schreibtisch darf ab und zu wieder in
4
die Schule und sogar der freundliche Herrn Trump will so nett sein, uns ein paar
von seinen Beatmungsjeräten abzujeben. Bildet der sich ein, die Amerikaner
knallen Corona einfach ab mit ihren Sturmjewehren unterm Bette? Damit wa so
ein Anjebot nicht am Ende doch annehmen müssen, is permanente Vorsicht
jeboten – och inne Lockerung. Ick finde, dass sich jeder sowat wie
einen ausklappbaren Blindenstock besorjen sollte und den inne Öffentlichkeit als
„Abstandshalter“ bei sich führen müsste – vielleicht mit ne Fahne so oben, damit
nich alle für blind jehalten werden…
06.05.
Ick glaube nich, wat eben passiert is! Keiner wird kapieren, wat ick meine, der
keene Nachkommen im Grundschulalter hat. Also, man stelle sich einen Bengel
von zehne vor, der gefragt wird, wat er sich zum Jeburtstag noch wünscht.
Kinderjeburtstag is ja nu nich wie sonst – bei Pandemie eben. Und jetzt kommts:
Der wünscht sich keene Pyjamaparty, kommt mir ooch nich mit een Strandritt und
son hirnverbrannten Zeug – nee. Der Junge wünscht sich zwei Bücher! Muss ick
mir jetzt Sorgen machen?
08.05.2020
Ick kann bald nich mehr… Ein Typ vom Lieferservice japst janz komisch unter dem
Mund-Nasenfummel und ick kann nich erkennen, ob der wat im Schilde führt oder
Hilfe braucht, wo ick doch nur dit halbe Jesichte sehe. Wahrscheinlich muss
ick noch interkulturelle Körpersprache studieren und mir asiatisch anjewöhnen,
damit ick vonne Augen abnehmen kann. Seit die Jörn wieder ab und zu in ihrn
Bildungsanstalten weilen, hätte ick Kapazitäten. Ein Vorteil, den ick mir einrede, is
die Einsparung von Makeup und Lippenstift. So hab ick mehr Zeit für meine
Heldenhaftigkeit. Dit muss jetzt endlich mal laut und deutlich jesagt werden, wie
heldenhaft ick ständig im Halbkreis stehe! In einem Büro hätte ick dajegen den
Himmel auf Erden. Bei allem Stress mit’m Chefchen is dit doch ein Klacks jejenüber
dem, wat ick jetzt hier zu Hause zu leisten habe. Und keene Pause! Wenn ick mein
Homeoffice unterbreche, denn nich, um mir in Ruhe ein Käffchen und ein Plausch
mit dem charmanten Blondschopf aus de Buchhaltung inne Kantine zu jönnen –
nee. Hier kocht die Heldin selbst. Mit enem Been steh ick inne Küche, die
Geschäftsleitung am Ohr und dit iPad inne eene Hand, mit der andern rühre ick
5
mein Süppchen, nachdem ick vonne Futtermittelbeschaffung zurück bin und meine
Brut im homeschooling angetrieben habe und staubjesaugt werden muss och noch!
09.05.
Nu is ja allet nich mehr janz so enge! Trotzdem bin ick voll am Boden. Keine einzige
Mugge in Sicht. Nischt und nischt und nischt bis ultimo. Keen Jeld is ja schon
schlimm, aber die seelische Verkümmerung jeht ma uffs Jemüt.
10.05.
„Männe!“, habe ick heute morgen beim Frühstück zu mein Männe gesagt: „Männe,
Schluss mit dieser blöden Bescheidenheit bei der Berufsbezeichnung. Ick brauche
ooch so eine Live-Darstellung Business-Case mit Online-Tool. Workshop für
Partizipative Online-Meetings, Eventpräferenzen, Agile Teams, CoLearning Space,
Owner Coaching, Liberating Structures Immersion Workshop, Facilitation – nich
janz billich, aber mit besten Erfolgsaussichten auf einen Superjob als Freelancer.
Ick kann mir nich helfen – „Freelancer“ klingt wie Faulenzer! Is ja ejal, auf meiner
Agenda steht noch Mentoring Circle mit janz ville Input und denn zum
Runterkommen mach ick noch den online-Workshop Energetischer Bauchtanz.“
Dit mach ick!
14.05.
So eene Impfung für alle oder wenigstens ne Pille gegen Corona, dit wär ein
Lichtblick. Aber mit ohne richtige Testung lass ick mir dit Zeug dann lieber nich
einimpfen! Ooch nich für die jute Sache. Da will ick Sicherheit. Denn halte ick lieber
noch mit Maske vor de Neese aus, meinetwegen ooch ein Janzkörperkondom!
Wieso schießt ma son alter Werbespruch durchs Jehirn?: „Sicherheit ist
Dividende“. Naja, wo nu schon mal die janze Welt anjehalten werden musste,
sollten jetzt bitteschön ooch mal ein paar Vernünftigkeiten bei dem janzen
Schlamassel rauskommen. Wenns nach mir jinge, denn sollen jetzt mal alle
Superreichen ihre Spendierhöschen anziehen und die Welt retten. Und denn kieken
wa mal, wer die dickste Hose hat!
22.05.
So kann doch keener arbeiten, und denn noch die Jörn! Wer soll sich denn merken,
welchet Kind wann in welche Klasse zu welchem Unterrichtsfach jehen soll! Und
6
unser Jüngster muss sich den hart erkämpften Kitaplatz jetzt mit einer Sindy
teilen, damit nu jeder mal in den Jenuss vonne jesetzlich zujesachte
Kinderbetreuung kommt. Dabei wollte ick endlich mal zum Friseur! Aber da is keen
Rankommen. Na bitte, dit kann ick ooch noch alleene!
24.05.
Der zehnte Sonntag im Homeoffice. Und muss dit nu dermaßen windig sein?
Ick hänge voll hin- und herjerissen zwischen all diesen janzen Expertenmeinungen.
Da erjeben sich jedankliche Zwischenräume, die keener unwidersprochen denken
sollte. Aber mir widerspricht ja keener. Ist ja keener hier für geistige
Hygienemaßnahmen, die einen aus dem eigenen Schmorsaft holen.
29.05.
Wie schnell sich der Mensch jewöhnt, dit is phänomenal.
Ick erinnere mich schon nich mehr, wie zum Beispiel meine olle Nachbarin unter
ihrem Jesichtshemde ausjesehen hat. Wat die sich neuerdings maskiert uff de
Treppe rumtreibt. Denn quatscht die mich janz scheinheilig an, ob se mir helfen
soll! Bloß, weil ick ein bisschen schniefe und keene Luft kriege unter meener
Maske! Dit blöde Ding hätte ick ja längst abmachen können, wenn dieset Weibsbild
nicht hier im Flur rumstehen würde! Ick bin ja froh, dass ick bloß ihre verkniffnen
Augen sehen muss, die so falsch blitzen, weil ick janz höflich bleibe, während die
mir ihre selbstverfertigten Spuckbremsen andrehen will. Bei der muss man sich
vorsehen! Die hat den Gummi an ihrer Maske extra straff, weil sich die Lauscher
so besser aufstellen lassen, damit se keene Kontaktbeschränkungsverfehlung oder
Abstandsunterschreitung verpasst.
08.06.
Schon Pfingsten vorbei, und ick sitz hier immer noch so rum. Und leide! Und der
Hund erst. Der ist schon janz blankjebürschtet, die Fenster sind jeputzt und alle
Dreckecken ooch. Meine Blumenkästen vorm Fenster sehen aus wie Sanssouci in
kleen, und nu weeß ick wirklich nich mehr weiter. Auch finanziell. Falls ick
irjendwann mal wieder janz normal meiner zur Zeit jar nich wertjeschätzten Arbeit
außerhalb dieser vier Wände mit ohne Balkon in der neu-normalen Normalität
nachjehen kann, denn könn die mich mal kennenlernen! Wer Corinna einfach im
Homeoffice versenken will, der muss erst noch jeboren werden… – Mensch! Da
7
latscht mir die Katze direkt über die Tastatur! Nimmt denn meine Arbeit hier
keener für voll?!
21.06.
Die jedankliche Auszeit hatte ick nötig, um mich mit janzer Kraft gegen die
Versickerung meiner beruflichen Existenz und die panische Jehirnvernebelung zu
stemmen. Jetzt bin ick wieder obenauf – mit frisch installierter Corona-Warn-App
auf meinem achten Sinnesorjan. Dit bringt ma eine jewisse Beruhigung in der
Dauervernetzung. Und dit kleene Järtchen in meinem Kopp treibt nu janz neue
Blüten, die ick früher immer gleich mit der Wurzel ausjerissen habe, weil ick dit
für Unkraut jehalten habe, und weil die alten Jeflechte einfach nischt abjeben
wollten von ihrm Platz in meinen Jehirnwindungen. Aber jetzt erfinde ick mich neu.
Da wern aber alle kieken, wenn ick die schönsten Blumenkohlköppe aus meinen
Hochbeeten ernte! Ick bin dem kleinen Erreger direkt dankbar, dass der uns alle
mit de Neese unterm Jesichtshemde frontal in die Schwachstellen unsrer
Wegschmeißjesellschaft stukt. Wer immer noch nich jemerkt hat, dass wir uns alle
in jeder Hinsicht zu janz dämlichen Konsumenten haben machen lassen, soll sich
mit solchen Leuten wie TrampelTrump und DieErdeisteineScheibeKnalltüten auf
einen andern Mond schießen lassen.
20.07.
Meine Reproduktions-Werte orjeln sich so bei vier Wochen ein. Also völlig normal
anjekommen in dieser gräßlichen neuen Normalität. Und dit regt mich allet jar nich
mehr so auf… Janz subtil einjeschlichen hat sich diese Maskierung in mein Leben.
Janz taub bin ick jeworden. Horrorzahlen von Infizierten bei Trumpeltrump,
Bolzonaro und weeß ick wo noch überall, die nehme ick völlig unjerührt hin. Ick
lass mir Rundumfreiheitsbeschränkung und Grundrechtsbeschneidung jefallen. Ick
staune über mich selbst. Sojar, als ick im Krankenhaus nicht besucht werden
durfte, hab ick nich uffjemuckt. Nur mein Männe is noch nich so weit. Der hat sich
einfach zu mir rinjeschlichen. Aber ick funktioniere schon Eins A in der neuen Zeit.
31.07.
Urlaub im eigenen Land. Wir fahren sogar mit dem Zug. Vorbildlicher jeht jar nich!
Ick kieke friedlich aus’m Fenster und jenieße den Blick uff den vorbeifliegenden
roten Mohn. Dit durchfeuchtete Jesichtshemde hab ick zum Trocknen ins
8
Jepäcknetz jehängt. Eene zähe Bohnenstange mit een dürren Teeni pflanzt sich
mit ins Abteil. Keen Problem bis dahin. Im Kasernenton verlangt die, ick soll
jefälligst meine Maske anlejen oder dit Abteil verlassen, sonst will se det dem
Schaffner melden…
Corona und allet is doch schlimm genug, aber dass een kleener Virus dafür
herhalten muss, dass so janz miese Leute wieder aus ihrem Bunker kriechen, ihre
hässliche Denunziantenfratze maskieren und dit Mund-Nasen-Schutz nennen
dürfen, kehrt mir den Magen um.
BLF März-Juli 2020