26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Bernd Kleber

Das System

Es klingelt in der Leitung! Nochmal, nochmal… Mann, geh ran…! Warum geht jetzt keiner ran? Ein AB wäre auch gut, würde mich freuen. Nichts! Leg auf! Nächster! Ich sitze vor dem Computer, starre auf den Bildschirm, klicke nacheinander auf die im Display erscheinenden Rufnummern potentieller Kunden und lausche auf den Rufton in meinem Kopfhörer… klick, klick, klick…

Ich schwitze. Die Sonne knallt ausgerechnet auf diese Fensterreihe hier, es gibt keine Vorhänge. Man hat feuchte Laken über rollbare Kleiderstangen gehängt und in den Raum gestellt. Soll Abkühlung bringen. Verarschen die uns? Ich sehe rüber zu meiner Kollegin, die spricht. Ich habe auf meinem Zettel erst 32 Striche, muss also noch einige machen. 

33,34,35

Wenn ich jetzt nicht endlich jemand an die Strippe bekomme, wird das ein Scheißtag, wieder einer! Kann sein, dass sie dann morgen den Coach neben mich setzen. Dann ist nichts mehr an dem Tag überhaupt noch zu retten, dann nur Stress. Fragetechnik, Einwandbehandlung, Atemtechnik, Stimmvolumen. Warum mache ich das hier?

Wir sitzen hier wie auf einer Galeere. Takt, Takt, Takt. Die Calls geben den Takt an. 104 muss ich am Feierabend auf meiner Strichliste haben. Das bedeutet aber, dass wenigstens einer abgenommen haben muss oder ein Anrufbeantworter angegangen sein muss. Gut, dass ich die fünf Fake-Nummern habe. Da kann ich jetzt mal anrufen, Anrufbeantworter abwarten, auflegen… fünf Calls.

39,40,41

Wie im großen Weltgetriebe funktioniert hier dieses Callcenter. Real wütender Kapitalismus in Reinkultur. Wer nicht passt, wird entlassen. Probezeiten werden verlängert und verlängert, bis man endlich funktioniert. Bis man ins System gehört und funktioniert. Widerspruch zwecklos. Mitdenken verboten.

Der Boss sieht alles, er sieht auf seinem Monitor die Taktfrequenz der Anrufe. Wenn einer nicht schnell genug klickt, das heißt anruft, wird er ermahnt. Wenn jemand die Anzahl der Calls nicht schafft oder keinen Mindestumsatz bringt, wird er gegängelt, wird er entlassen, fristlos. Unglaublich! 

Raucherpausen gibt es am Vormittag zwei und am Nachmittag zwei. Dann eilen die Raucher in den Hof, vier Treppen hinab. Nach dem Rauchen eilen sie keuchend mit vergifteten Lungen wieder vier Treppen hinauf. Die 104 im Nacken. Calls, calls, calls.

Ich und einige andere Nichtraucher gehen auch mit hinab, Luft holen neben den Rauchern. Pause von der Galeere, die Kette mit der schweren Kugel am Bein, die Kugel auf der 104 steht.

Warum eigentlich 104? Ich habe 104 gegoogelt. Da kommen Paragraphen verschiedener Gesetzesbücher. Bemerkenswert der zur Geschäftsunfähigkeit. Kein Wunder! Oder Durchsuchung von Räumen zur Nachtzeit. Gruselig! Aber auch Luftfahrzeuge und U-Boote werden aufgeführt. Himmel hoch, tief unten! … 104, Quersumme fünf. Bei acht Stunden Arbeit jede Stunde dreizehn Kontakte. Nicht etwa Anrufe, nein, es muss jemand abnehmen, rangehen oder ein Gerät anspringen. Dreizehn Mal in sechzig Minuten. Alle vier Komma sechs Minuten muss jemand an den Apparat gehen. Wenn Du mit ihm dann dreißig Minuten sprichst: Pech gehabt, Zeit vorbei! Es fehlen dann in dieser Stunde noch zwölf Kontakte. Viel Spaß beim Zählen. Man kann sich auch Faxnummern einspeichern. Erscheint der Kontakt mit der Faxnummer: Achtung! Denn das Geräusch ist auf den Ohren, im Gehörgang ab einer bestimmten Lautstärke die Hölle der Kakophonie. Und deine Tischnachbarn hören es dann auch knattern, wie Gewehrsalven hämmert es in dein Ohr und pfeift dazu wie ein Signal zum Angriff. Das Herunterreißen des Headsets vom Ohr kommt dann meist zu spät.

Diese Planzahl 104 trägt nicht dazu bei, motiviert auf eventuell anspruchsvolle Verkaufsgespräche den Tag zu starten, sondern dein Denken dreht sich während der gesamten Anwesenheit nur darum, wie erreiche ich mein Anruf- Tagesziel. Und an dieser Position hängt ein Großteil deines Verdienstes und sie sichert dir den Arbeitsplatz.

44,45,46

Feierabend wäre um halb sechs. Niemand macht Feierabend. Alle Klicken weiter, entweder die letzten Calls zu füllen, um die magische Zahl zu erreichen, oder in der Hoffnung, dass endlich der „Eine Kunde“ an den Apparat geht, der das Wunderprodukt kauft, das Sonderangebotsspecial noch dazu. Anzeigen, die das Leben erleichtern, Platzierungen auf der Startseite oder sogar die Highlightplatzierung Nummer eins. Dann darfst du die Schiffsglocke schlagen und alle sehen dich ehrfürchtig an. Der Boss geht durch die Reihen und betont, dass es möglich sei, alles zu schaffen. Man selbst ist für Sekunden der Steuermann. Alle anderen rudern weiter mit blutigen Zeigefingern auf der Klicktaste der Maus, klick, klick, klick.

Der Bildschirm geht aus! Alle sehen hoch, was nun? Oh, nein, bitte nicht Meeting. Die Meetings sind noch schlimmer als das Rudern im Telefonmeer der Datensätze.

Alle gehen in Raum Vier auf der schattigen Seite des Bürohauses. Mann ist das hier kühl. Der Chef steht vorn, neben ihm die Telefonkönigin, Patin genannt. Hilfe für die Schwächeren. Er fängt an zu reden, rülpst sich vorwärts. Zu wenig Calls, zu wenig qualifizierte Datensätze, ob es ein Interesse gebe, die Prämie zu erreichen, ob man sich nicht schämen würde, dass die Zweigstelle in Kiel doppelt so viel Umsätze hätte. Er sich das nicht länger ansehen würde, welche Einstellung zur Arbeit hier vorliegen würde, wie die Leute zur Arbeit kämen, dass es nicht hinnehmbar sei, dass man in Flipflops zur Arbeit käme, der Kunde würde es hören, ob wir in Business gekleidet seien oder barfuß angeschlappt kämen. Dass es widerlich sei, die Hornhaut an den Fersen der Mitarbeiter zu sehen… Die Oberpatin steht daneben und schüttelt den Kopf oder nickt zustimmend. Je nachdem was gebraucht wird, beherrscht sie den passenden Gesichtsausdruck. Es herrscht eisiges Schweigen, jeder sieht nach unten oder auf einen toten Punkt im Raum, es gilt keine Regung zu zeigen, in der Hoffnung, nicht als Nächster direkt angesprochen zu werden. Ich denke, warum sagt niemand etwas, wir sind erwachsene Menschen und mir ist klar… Miete, Strom, Gas, Telefon, alles braucht Bezahlung durch diese blöden Klicks. Dann ergreift die Callcenterprima das Wort und ist nun an Denunziation nicht zu übertreffen. Sie spricht von Scham, Schande, Schwäche, Willenlosigkeit und dass wir das rocken müssten, wir doch ein Team seien… 

Ein Team? So viel Selbstlüge ist kaum zu ertragen. Jeder kämpft hier gegen jeden, hinter dem Rücken des anderen wird beim Boss geschmeichelt und verleugnet. Alles nur, um potentiell ergiebige Datensätze zu bekommen. Es macht einen Unterschied, ob man bei einer GmbH anruft, die zwei Mitarbeiter führt oder bei einem multinationalen Unternehmen, einem Global Player. Wer von beiden mehr Anzeigen schaltet, ist wohl einleuchtend. Und diese Prima dort, die sich jetzt so über ihre faulen Kollegen ereifert und von Schande spricht, hat genau durch diese Art von Auftritten goldene Datensätze. Sie ist eine Meistverdienende, eine Nestbeschmutzerin.

Das System ist krank. Immer geht es um höher, schneller, weiter. Hier im Callcenter, wie auf der Welt. Rücksichtslosigkeit, Durchsetzungsvermögen, Lügen, Egoismus sind die neuen Tugenden, die das System benutzt, um die Menschen aufeinanderzuhetzen. Mit Gebrüll rennen alle, dem Nachbarn ein Bein stellend, in der Hoffnung, als Erster am Futtertrog zu sein. Ich habe es so satt!

Das Meeting ist beendet. Ich beobachte, wie meine Kollegen, Eifer vortäuschend, an ihre Plätze eilen, die Headsets aufsetzen, auf die Rechner starren und klicken…. 

59, 60, 61… dem Ziel entgegen.

Ich starre auf meinen Notizzettel. Ich werde die Anzahl der heutigen Anrufe nur schaffen, wenn ich mindestens eineinhalb Stunden länger bleibe. Und habe noch nicht eine Anzeige verkauft. 

Ich muss auf die Toilette. Mist! Er steht genau vor der Tür. Ich warte. Vielleicht ist er gleich abgelenkt, durch einen Kollegen oder einen Anruf aus der Zentrale. Nein! Er steht dort und blickt in die Runde. Sicher sucht er hornhautige Fersen.

Ich stehe auf und begebe mich in Richtung Toilettentür. 

„Herr Weber, wo wollen sie denn hin?“ 

„Auf die Toilette, was denken Sie denn?“

„Aber ist denn jetzt Pause? Soweit ich vorhin sah, hinken Sie heute extrem hinterher.“ 

„Tja, wenn ich jetzt nicht auf die Toilette gehe, brauche ich beide Hände, um unten zuzuhalten, und kann gar keine Calls mehr generieren.“

„Werden Sie nicht noch frech.“

„Ich muss einfach mal, sorry!“

Unwirsch tritt er beiseite. Ich gehe in den gekachelten Raum und entleere mich am Pissoir.

Morgen wird der Coach neben mir sitzen und jeden Satz, jede Frage ausleuchten und diskutieren. Wie ich Einwände behandelt habe, wie ich manipuliert habe, wie ich das Gespräch aktiv geführt habe. Wer fragt, gewinnt. Niemals geschlossene Fragen stellen. Fragen auf Fragen aufbauen. Tonstimme senken. Lächeln, immer lächeln. Der Angerufene hört dies…. Ich kann die ganze Kacke nicht mehr ertragen. Klick, klick, klick…

Ich gehe zurück an meinen Platz. 

Bundeswehrkrankenhaus Berlin lese ich auf dem Bildschirm. Oh, das Militär. Na mal sehen, ob da jemand an die Strippe geht. Tuuuuut

Es meldet sich ein Oberleutnant Scharnhorst. Echt? Scharnhorst? Krass. Ich stelle mich vor und begrüße ihn, frage nach dem Entscheider für meinen Produktbereich, er sei es. Wow! Ich schildere ihm alle unsere Vorteile, unsere konkurrenzlose Stellung am Markt und stelle die erste offene Frage, die zum Ziel führen soll, ich lächele…. Und was passiert? Dieser Scharnhorst braucht mich, mein Produkt, ist in Umstrukturierung und ich riefe wie bestellt an. Ich glaube es kaum. Wir besprechen Details, ich biete Premiumelemente an, die ihn noch erfolgreicher machen und ohne die er so gut wie verloren wäre… er frisst mir aus der Hand, findet unser Konzept vorzüglich und steigt auf alle Angebote ein. Ich verspreche ihm superzeitnah, geradezu blitzartig, ein Angebot fertig zu machen, mit der Zusage, preislich das Beste für ihn herauszuholen. Und wir beenden das Gespräch. Ein Riesenangebot entsteht aus diesem Telefonat. Wenn das angenommen wird, dann habe ich mein Monatsziel im Kasten…

Ich sehe auf die Uhr. Feierabend, offizieller Feierabend. Noch ein Riesenmanko zu dem täglichen Telefonie-Ziel. Nun muss ich wirklich ackern, dass ich es erreiche. Die ersten erheben sich und rufen ihren Abschied in den Raum, stellen bis morgen in Aussicht. Ich klicke und klicke und höre auf dieses „tuut-tuut“ im Hörer, mache kleine Striche auf meiner Liste, um an die 104 zu gelangen.

Während ich auf die Geräusche in meinem Kopfhörer achte, denke ich. Was ist das eigentlich für ein Quatsch. Man erstellt im Internet eine Anzeige, diese Anzeige sieht jeder, der die Seite zufällig aufruft. Welche Personen lesen sie und wie viele klicken dort auf das Banner, um dann etwas zu konsumieren, was man gar nicht benötigt und warum kostet es diesen Riesenbetrag? Das ist wie Gelddrucken.

83,84,85

Jetzt muss ich mich beschimpfen lassen, als ich mich vorgestellt habe. Was mir denn einfiele, man würde sich beschweren, ich solle im Datensatz markieren, nie wieder diese Nummer zu wählen, und es gäbe doch Mediengesetze. Der Mann oder jemand aus dieser Firma hat aber irgendwann einmal eingewilligt, irgendwo, irgendwie… und nun müsste er schriftlich widersprechen, was er nicht tat. Morgen ist ein neuer Tag und er wird wieder rumwüten, weil ich ihn aus seiner Arbeitszeit gerissen habe. Ich bin jedoch meinem Tagesziel, meiner Monats-Aufgabe, meinem Anteil an der Prämie einen Klick näher. 

Zeit, die fünf Anrufbeantworter anzuwählen …

88,89,90

„Ja bitte?“ … „Guten Tag, mein Name ist…“, ich stelle mich vor, meine Firma, unser Produkt, der Mann an der anderen Leitungsseite, bei der sonst nur der Anrufbeantworter angeht, hört zu. Er weiß gar nicht, dass er jetzt meine Zeit raubt, mir hätte ja das Herstellen der Verbindung durch den AB gereicht. Nein, er beginnt ein Gespräch mit mir. Wie interessant er das Produkt fände, wie angenehm meine Stimme wäre, wie sehr er sich freue, dass er durch mich das Produkt angeboten bekäme. Ich verdrehe die Augen und stelle meine nächste Frage. „Sie klingen angespannt…“, sagt der Herr… 

Lächeln! Denn Lächeln hört der Kunde… wie er hört, dass ich angespannt bin. Ich könnte ihm jetzt sagen, ich benötige nur noch zirka vierzehn Klicks, dann kann ich nach Hause gehen, er könne also auflegen. Oder ich könnte „Hallo, hallo, hallo!“ rufen, als wäre die Verbindung schlecht. All das mache ich nicht, sondern beginne ein Gespräch mit dem Kunden, der mehr und mehr zu einem Individuum wird. Er erzählt von seinen Geschäften, den Schwierigkeiten in den Auftragsbüchern, dass er eine Frau und zwei Kinder ernähren müsse und dass er in einem Alter sei, wo eben nicht mehr alles so leichtfiele. Ich sehe auf die Uhr und frage mich, wo das hier hinführen wird. 

Dann beginnt er zu weinen und erzählt mir, dass er eigentlich, wenn er ganz ehrlich sei, schon insolvent wäre, es aber noch niemand wisse. 

Ich frage mich, warum die Leute oft betonen, ganz ehrlich zu sein? Sicher, weil alle immer nur lügen.

Ich höre den Gesprächspartner schluchzen, jämmerlich. Mir wird klar, dass dieses Gespräch jetzt sehr heikel wird. Ich erkläre ihm, dass sein Leben doch mit Frau und Kindern sehr schön sein kann, auch wenn er pleite ist. So ist es doch die Familie, die ihm das Leben verschönt und die sicher zu ihm steht. Da erfahre ich, dass seine Frau ihn betrügt, seine Kinder ihn nicht respektieren, nur ausnehmen. Markenklamotten, Musikevents, Unterhaltungselektronik… Ich versichere ihm, das Leben gehe auch ohne Familie weiter und er solle nun nicht so traurig sein. Ich blicke auf die Uhr. Da knallt es extrem… Ein Schuss? So klingt es. Mein Mund steht offen… ich starre geradeaus… ich höre nichts mehr… dann neben mir ein Klopfen. Mein Boss hat mit dem Lineal auf die Tischplatte geklopft. 

„Herr Weber, Calls!“, ruft er.

Ich blicke zu ihm hinüber, den Mund immer noch offen. Ich stammele etwas … Der Boss erhebt sich, kommt langsam auf mich zu. Ich stammele erneut: „Der Callpartner, er hat, er ist…“ 

Nur wenige Schritte ist der Chef von mir entfernt.

„Was ist mit Ihnen? Machen sie endlich, auch ich muss mal nach Hause und sind doch nur noch ein paar wenige Klicks.“ 

Ich erwidere: „Der Mann hat sich, ich glaube, er ist…“

Da saust das Lineal auf die Entertaste meiner Tastatur, das Gespräch ist getrennt. Der Datensatz vom Bildschirm in den unendlichen Weiten der Gigaspeicher der Firma versenkt, der nächste Datensatz ploppt auf…. „Holzsägerei Weißenfels“ kann ich noch lesen, da klopft das Lineal wieder auf die Taste und es erklingt: „Tuuuuut“.

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