26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN
Barbara Schilling
Grenzwertig – am Wasser
Jetzt
Ich atme sie ein, diese besondere Atmosphäre des Sommers, eingefangen im Sirren der Insekten und Rauschen der Wellen, die sanft gegen das Ufer schlagen. Dort, wo man das Faltboot, nur Holzgestänge und Stoff, ins trübe Havelwasser gleiten lässt. Der alte Rollwagen mit den zwei Rädern davor dient als Grenzmarkierung zwischen Land und Wasser.
In der Natur verblassen die Eindrücke der Stadt in Sekundenschnelle. Hier ist es unaufgeregt, langsam, ein behäbiger Rhythmus herrscht am Bootshaus, dem man sich sogleich unwillkürlich anpasst. Brennnesseln und Gebüsche säumen den Weg, hohe Gräser jucken auf der Haut meiner nackten Unterschenkeln. Meine Sommershorts sind schon recht kurz geworden dieses Jahr. Unter meinem Baumwolltop wölben sich zwei kleine Hügel, aber das ist mir gleich. Ich laufe hinter meinem Vater her, folge wie gewohnt, von klein auf, seinen gleichmäßigen, leicht wippenden Schritten. Sandwege und verwitterte Holzgeländer verleihen diesem Ort ein entspanntes Äußere und eine ganz eigene Ruhe. Die Tür zum Bootshaus knarrt leise.
Draußen stille Hitze, Insektengesumm und Vogelgezwitscher, drinnen Dunkel und staubige Kühle.
Das Ufer beginnt in der Nähe, eigentlich gleich vor der Haupttür, die groß und schwer ist und von rostigen Scharnieren gehalten wird. Zwei kurze Schienen, nein Fahrrinnen, sind in den Beton eingelassen, der in einem kurzes Stück direkt in den Fluss führt, wo alles leicht und kühl wird.
Im Bootshaus atme ich aus, schaue hoch bis zur hohen Deckel. Vorbei an Balken, Spinnweben und ausrangiertem Sonnenlicht. Helle dringt durch die Ritzen im Dach.
Alt, alles ist hier viele Jahre, ja Jahrzehnte alt, seit jeher in Gebrauch: abgenutzt, nützlich, nichts Dekoratives findet sich. Der Geruch ist unvergleichlich, abgestanden und doch erfrischend. Der Boden: gestampfte feste Erde. Ich gehe im Halbdunkel den gewohnten Weg durch die Gänge an den in den Eisen-Halterungen liegenden Boote entlang. Lange, kurze, breite Boote, aus Holz, aus Textil, wenige aus Kunststoff. Einsame Paddel, Planen und Ruder finden sich hier und da. Lange Reihen von neuen und alten Booten, Ein-, Zwei- und Viersitzer, bilden hohe durchbrochene Wände, zwischen denen ich mich verlaufen könnte. Allein. Glaube ich. Ich spähe durch die Lücken in den Wänden und sehe nur noch mehr Reihen, Boote. Ob sich dort jemand versteckt? In den Schatten? Man kann es nicht sagen. Und meinen Vater interessiert es nicht.
Wir sind da: Zahlenschlösser, hohe schmale Metallspinde, älter als ich. Ich schaue in staubige Ecken, in denen sich Blätter und Späne neben allerlei Unrat sammeln. Mein Vater schließt den Spind auf, greift hinein und fragt mich etwas. Ich nicke, und er holt ein ausgetretenes Paar Sandalen hervor. Sie sind eigentlich zwei Nummer zu klein, aber ich liebe diese Schuhe. Sie sind das bequemste, das ich kenne. Sie sind farblos geworden, von der Sonne ausgeblichen und vom Wasser verformt. Sie haben sich meinen Füßen perfekt angepasst, wie Ton oder Knete, ich bin eins mit ihnen, wenn ich hineinschlüpfe.
Ein Gefühl von Feierabend und entspannend ereignislosen Ferien breitet sich in mir aus, sobald ich diese Schuhe trage. Das Wissen um eine andere Welt, um längst aus der Mode gekommene Badehosen – herrlich schaurig türkis und lila gemustert, um Ledertaschen mit Riemen für’s Handgelenk, um enge kurze Männer-Turnhosen, um zu Hause eilig geschmierte Stullen, ein Stück Obst dazu für jeden von uns, um seine kleine Colaflasche, die niemals fehlen darf, um die obligatorische Tafel Milka-Vollmilch-Schokolade in der Kühltasche, all das lässt mich gedanklich zurücksinken wie auf ein vertrautes Kissen.
Unser Boot, nicht unterscheidbar von den Dutzend anderen drumherum, wenn man es nicht weiß, und doch kenne ich jede Ritze, Falte, Unebenheit, das Gefühl, das die tiefblaue Farbe beim Anschauen in mir hervorruft, eine Art Resonanz. Es schwebt auf der Höhe meines Kopfes neben mir auf der Halterung. So sieht es viel größer aus als im Wasser. Wir wuchten es gemeinsam hinunter, nutzen den bereitstehenden Rollwagen, an den Holzschienen gepolstert, um die Unterseite der Boote zu schonen.
Ich liebe die kleine Aufregung, kurz bevor das Boot zu Wasser gelassen wird.
Der Moment, wenn es die Nässe berührt, in seinem Element ist und leicht wird. Man muss aufpassen beim Einsteigen, das Boot schwankt und es gibt nur eine schmale Leiste aus Holz, auf die man treten drauf, weil man sonst mit seinem Menschengewicht die Textilspannung einreißen würde.
„Schön in der Mitte bleiben“, mahnt mein Vater wie jedes Mal. Seitdem ich klein bin, weiß ich das. Dann: vorsichtig hinsetzen, einrichten, bequem machen, soweit das geht. Kühltasche, Ledertasche und ein kleiner Beutel werden verstaut, zur Regenplane gesteckt. Vor Spritzwasser geschützt. Vorn ist das Ruder zum Steuern.
Ich nehme das Paddel zur Hand. Ich genieße die Ruhe, das Gleiten auf dem Wasser, die neue Perspektive kurz über der Wasseroberfläche. Mein Vater nimmt sein Paddel, dreht es, so dass die eintauchenden Paddelköpfe im 45 Grad Winkel zueinanderstehen. Los geht es, die ersten Schläge braucht man zum Reinkommen, doch wir sind aufeinander eingestellt. Ich drehe die Stange, die meine Paddel miteinander verbindet, um ein Viertel hin und her, so wie er es mir beigebracht hat. Schon nach wenigen Schlägen stellt sich ein gleichmäßiger Rhythmus ein, wir sind eingespielt und schweben wie Libellen über das Wasser. Durchpflügen mühelos die Oberfläche und nehmen Fahrt auf. Die Sonne scheint hier intensiver zu strahlen, sie wird von der Wasseroberfläche reflektiert und lässt alles um uns herum erstrahlen. Nur so zum Spaß spanne ich die Muskeln an und ziehe durch. Mit aller Kraft ziehe ich das Paddel von vorn nach hinten. Immer darauf achtend, dass seine Enden stets senkrecht zur Wasseroberfläche eintauchen. Wir fahren an ersten Wasserinseln vorbei, und ich fühle mich frei in der Begrenzung des kleinen Bootes. Wortlos genießen wir den Augenblick, den leichten Fahrtwind, das Hier-Sein.
Im gleichmäßigen Takt, ehrgeizig bemüht, meinem Vater zu gefallen und darum exakt seinen Anweisungen folgend, widerstehe ich noch dem Drang, die Hand in das kühle grünliche Wasser zu halten und Fisch zu spielen. Das Bootshaus in meinem Rücken scheint schon unendlich weit entfernt. Unser Heimathafen ist außer Sichtweite.
Vorhin
Ich mag die Art, wie die Straße sich krümmt, auf den letzten Wegbiegungen zum Bootshaus. Wir parken das Auto stets vor einem hölzernen Lattenzaun, Sommerblumen und Unkraut wuchern in den Lücken. Nur selten treffen wir hier fremde Leute. Wortkarg ist der Hausmeister. Am Bootshaus wollen alle dasselbe: ihre Ruhe oder ein Feierabendbierchen – oder beides … Mit dem Gartenschlauch habe ich als Kind gespielt, alte, morsche, rostige Hähne, halbverfaulte Holzriegel und Zaunreste wohin man blickt … zwischen Kamille und Wildblumen – es scheint keinen zu kümmern. Eine eigene Welt – fast ohne Regeln, ganz anders als die, aus der wir kamen grad kommen, von der Schule, aus dem schwülen Ballettstudio, aus der Staugeplagten Großstadt, in der meine Eltern einige Elektroläden betreiben.
Diese andere Welt, geschäftig, laut, voller Ampeln und Menschen, ja selbst die Hitze scheint mir anders dort, lassen wir hinter uns für ein paar Stunden Wasser, Himmel und Wolken. Schon wenn wir abbiegen, von der letzten großen Straße, wird alles anders: Wie langsamer gedreht, gedämpft, und doch gleichzeitig klarer und deutlicher, als würde sich ein Schleier heben: Die Bäume, die Allee – alles heller, grüner, manchmal auch dunkler, plötzlich prallt man auf die Landschaft. Mücken am Abend, tagsüber Käfer, Ameisenstraßen und Schmetterlinge … alles zugleich skeptisch und fasziniert von mir beäugt und erkundet in Kinderjahren. Nun hat es seinen Reiz verloren, ist einem Wissen, nein Ahnen gewichen. Obligatorisch war vor allem das Eincremen mit Sonnencreme, vornehmlich Nivea, wie es schon mein Opa benutzt hatte, und das Mitnehmen des handlichen Kofferradios, dessen Batterien stets erneuert werden. Diese Handlungen lassen uns die Grenze überschreiten, von Arbeit und Alltag zu Sport und Entspannung. Nur wir beide. Vater und Tochter.
Auf dem Wasser überholen wir andere Boote, mustern neugierig Sportbootcharterer auf dem Sonnendeck und amüsieren uns über die munteren Haubentaucher in unserem Kielwasser. Das leichte Schaukeln, die frische Luft beruhigt und belebt gleichzeitig, die Wolkenformationen und Uferbewachsungen wechseln im Minutentakt. Den „kleinen Amazonas“ nennt mein Vater diesen Flussabschnitt. Am Ufer hohe Bäume, deren Wurzeln tief und weit ins Wasser hineinreichen und dort ein dichtes Geflecht bilden. Wasserpflanzen, Büsche, Blattwerk, alles ist sattgrün oder nassbraun. Es riecht fischig. Schließlich überqueren wir einen See, Weite, der Wind ist stärker spürbar und bringt unser kleines leichtes Boot in Bewegung, stärker noch als die vom Ausflugsdampfer verursachten Wellen. Es ist besonders, man ist offen, wie auf hoher See, ich spüre ein Prickeln und versuche, gegen die Wellen anzupaddeln und unsere Nussschale in die gewünschte Richtung zu lenken.
Gesnackt wird im Boot, auch getrunken, aber Pause machen wir stets am Ufer, an einer der verwunschenen Badestellen, voll feinem Sand und schattiger Bäume.
Es ist Zeit: Wir halten Ausschau nach einer geeigneten Stelle; es wird meine Lieblingsbadestelle. Auf Anhieb sind am Ufer, ziehen das Boot höher in den Sand und legen uns auf unserer karierte Decke. Vater isst, trinkt und dann hält er sein Schläfchen. Das kenne ich schon. Ich hole mein Buch hervor, beobachte aber nur die Gegend: Lediglich ein schmusendes Pärchen und eine kleine Familie leisten uns Gesellschaft. Sie liegen so weit entfernt, dass sie das leichte Schnarchen meines Vaters nicht hören können. Misstrauisch beäugt mich die Mutter; sie hat einen schweren Körper und fleischige Wangen. Vielleicht wundert sie sich – ein mittelalter Mann in Begleitung eines blutjungen Mädchens – ganz allein. Ich wende mich ab. Sie füttert weiter ihr schokoladenverschmiertes Kleinkind und sagt etwas zu ihrem Mann. Dieser wendet den Kopf. Gerade als ich mich zu langweilen beginne, erwacht mein Vater von seinem Nickerchen. Wir essen den Rest der Brote, dann gehen wir baden. Mein Vater ist sportlich, trainiert, hat braune Sommerhaut und einen Bauchansatz, der aber von den ausgeprägten Oberschenkelmuskeln optisch aufgefangen wird. Mit wenigen Schritten ist er im kalten Wasser. Er prustet einmal, dann ist er untergetaucht. Mein Badeanzug ist neu. Ich fühle mich sehr wohl im kühlen Wasser, ich schwimme eine Kurve und lege mich dann auf den Rücken, schaue in die Wolken und treibe dahin. Als ich herauskomme und mich ins Frotteehandtuch kuschle, isst mein Vater eine Banane, seinen geliebten Powersnack, und ich kann sehen, wie sich die kleine dunkeln Härchen an seinen Armen aufrichten, wenn ihn ein Luftzug streift. Mein Vater ist klug, wissbegierig; er redet nicht gern, also tue ich es. Ich zeige ihm die Muschel, die ich gefunden habe und erzähle von einem Mädchen aus der Schule, von der nächsten Tanzaufführung, bei der ich das Schneewittchen spielen darf. Er hört zu, nickt, dann beginnt er zusammenzupacken. Gemeinsam schütteln wir die alte Wolldecke aus. Wir machten nicht oft etwas gemeinsam, und selten, eigentlich nie etwas anderes als zusammen paddeln zu gehen, während meine Mutter im Laden die Stellung hält: Lange Sommernachmittage mit Wassereis und Muskelkater am nächsten Tag.
Später
Wenn die Sonne tiefer steht, paddeln wir zurück, die letzten Biegungen erkenne ich vom Boot aus schon wieder, wir sehen von weitem die Anlegestelle, das Bootshaus dahinter. Nach dem Ausflug in die Wasserwelten, geht es zurück an Land. Wenn wir das Boot herausziehen, erschöpft, entspannt, zufrieden, gedankenlos, steht die Sonne oft schon knapp über den Baumwipfeln, rötlich eingefärbt. Aussteigen. Den Steg verlassen, das Boot auf das Wägelchen ziehen, an der Spitze fassen, Druck geben, bis es kippt und schließlich zurück ins Niemandsland des Bootshauses rollen. Auf den Liegeplatz im Regal wuchten, Plane drüber, abermals zum Spind, umziehen und ab nach Hause. Im Auto begleitet uns noch der Geruch nach Sonnencreme auf der Haut und Seewasser in den Haaren, nach Salamibrot und Organgenschalen. Sonnengesättigt, voller Natur hinter den Augen und in der Lunge, setzen wir uns zu Hause direkt an den gedeckten Abendbrottisch und berichten meiner Mutter vom Ausflug.
Zwischen Ravioli und Gurkensalat fallen Worte wie Wasserstand und Westwind; ich erzähle von den Muscheln und lege die schönsten auf den Tisch. „Nicht hier beim Essen“, sagt meine Mutter missbilligend und verzieht das Gesicht zu ihrer „Das weißt du doch“- Miene. Mein Vater sagt nichts. Konzentriert löffelt er die gefüllten Teigtaschen in Tomatensoße in den Mund. Ich berichte von den spielenden Kindern, ihrem von Wind zerzausten Haar, der reizenden Entenfamilie und dem leichten Sonnenbrand auf der Nase. Ich versuche, die passenden Worte zu finden, doch das Gefühl, das sich auf meinem Körper, in meinem Kopf festgesetzt hat, ist nicht zu beschreiben. Und immer bitte ich sie, mitzukommen. Doch das Boot ist nur ein Zweisitzer.