26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Sebastian Voetter

Haare

Nicht schlecht, was?

Iwo hört die Stimme neben sich, ohne in dem Gedränge das Gesicht sehen zu können, das zu der Stimme gehört. Er steht in einer überfüllten, dunklen Bar in Shanghai. Die Musik ist sehr laut. Es gibt keine Stühle. Die Gäste stehen dicht gedrängt und schauen zu einer Bühne, auf der ein Unterhaltungsprogramm läuft. Zwei Mädchen in Wintertarnanzügen der chinesischen Volksbefreiungsarmee wedeln hektisch mit Bündeln brennender Räucherstäbchen hin und her. Die Menge der Zuschauer wogt nervös auf und ab. 

Nicht schlecht, was? 

Wieder die Stimme neben ihm. Iwo dreht den Kopf, soweit es ihm im Gedränge möglich ist. Der Mann winkt ihm mit seinem Bierglas zu und grinst breit. 

Deutscher, was, sagt er, schiebt sich an ein paar wild gestikulierenden Typen in schlecht sitzenden Anzügen mir aufgenähten Markenetiketten am Ärmelaufschlag vorbei, quetscht sich direkt neben Iwo an den Bartresen und setzt, ohne die Antwort abzuwarten, hinzu: Hab ich gleich gemerkt. 

Sie stoßen miteinander an. 

Toni, sagte der Mann. 

Iwo, sagte Iwo. 

Toni ist Unternehmer aus Bayern. Im- & Export. Woher Iwo komme, will er wissen. Er fragt es in seinem Dialekt, also er sagt so was wie Woharkimmschdndu? Iwo nennt ihm den Ort, in dem er aufgewachsen ist. Wo das denn liege, fragt Toni. Iwo sagt den Namen der Region. 

Sieh an, aus’m Osten, sagt Toni und wird plötzlich ganz ernst. Was die euch alles angetan haben, also ich meine, eure Regierung. Nee-nee-nee. Das heißt, er sagt: Nah-nah-nah. Er schüttelt den Kopf, tief betroffen. Er wäre bereits im Osten gewesen, sagt er und zählt die Namen von ein paar Städten auf. Dann schaut er von seinem Bierglas hoch, schaut auf die Bühne, schaut Iwo an und sagt: Wenn man bedenkt, dass du aus’m Osten kommst. Wahnsinn. Da hast du ja echt Glück gehabt. Mit der Wende und so. Da hast du’s wirklich gut getroffen. Ich meine, da könnt ihr ja weiß Gott dankbar dafür sein, was euch jetzt alles möglich ist. 

Sie stoßen nochmal an und starren wieder auf die Bühne, wo eine zierliche Akrobatin in rosafarbenem Trikot in eine sehr hohe, sehr enge Vase hineinklettert. Sie macht Schlangenbewegungen dabei. Ihr ganzer Körper macht Schlangenbewegungen. Am Ende sieht man nur noch ihre Unterarme, die Handgelenke, die Fingerspitzen, dann ist sie in der Vase verschwunden.

China. Das klang weit weg. Und Iwo wollte weit weg. So weit weg wie möglich aus einem Land, das es seit einem Jahr nicht mehr gab. Er hat ein Jahresstipendium des National Office for Chinese Language erhalten und studiert nun seit vier Monaten an der Fudan-Universität in Shanghai. 

Das Wohnheimzimmer teilt sich Iwo mit einem italienischen Studenten. Giuseppe. Sie reden nicht viel miteinander, kommen aber ganz gut zusammen aus. Giuseppe schreibt gerade an seiner Doktorarbeit. Behauptet er jedenfalls. Iwo hat ihn noch nie in der Bibliothek gesehen, auch auf dem Zimmer liest er nicht. Das Thema seiner Dissertation sind angeblich Grabinneninschriften aus der Han-Zeit. Vor allem aber nutzt er das Wohnheimzimmer als Büro für verschiedene Geschäfte. Er hat sich mehrere Geschäftskarten drucken lassen, auf denen die Wohnheimadresse angegeben ist. Das sei vielleicht illegal, aber jedenfalls preiswert, meint er. Worin die Geschäfte genau bestehen, ist unklar oder wechselt ständig. Gerade ist er dabei, eine Produktionsfirma für Echthaarperücken aufzubauen. Das sei ein absolut sicheres Geschäft. Seine Kunden kämen vor allem aus Westeuropa. Er hat Kontakt zu einem kleinen Betrieb in Zhejiang aufgenommen, zu dem er regelmäßig fährt. Die Produktionsbedingungen hier seien unglaublich günstig, erklärt er Iwo einmal, als dieser fragt, wie man damit Geld verdienen könne. Kapitalismus musst du noch lernen, fügt er hinzu und schlägt Iwo lachend auf die Schulter. 

Manchmal träumt Iwo noch von der Kaserne. Er steht auf einem Exerzierplatz. Die Sonne geht auf. Der Platz färbt sich kieselweiß. Ein Trupp in Einsatzuniformen der Bereitschaftspolizei übt eine Sperrkette. Übt das Im-Takt-Hämmern. Mit dem Schlagstock auf das Schild. Immer wieder. Jemand ruft: Fester! Durch den innen gepolsterten Helm hört er die Schläge nur gedämpft, so als kämen sie von weit her. Als er aufwacht, hört er sein Herz rasen. Es dauert eine Weile, bis ihm klar wird, dass seine Wehrdienstzeit vorbei ist, dass er sich nicht mehr in einer Polizeikaserne befindet, dass er nicht mehr auf der Ladefläche eines Lastkraftwagens, eingepfercht zwischen anderen Wehrdienstpflichtigen, zu einem Einsatz unterwegs ist. Es dauert noch ein paar weitere Minuten, bis das pulsierende Geräusch leiser und schließlich ganz vom monotonen Summen des Deckenventilators geschluckt wird, den Iwo auf einmal ganz laut hört, als würde er dröhnen.  

Der Winter in Shanghai ist feucht und kalt. Es gibt keine Heizung. Es ist das Jahr, in dem Schnee in Shanghai fallen soll. Seltsamerweise fällt er dann doch nicht, obwohl sämtliche Wetterstationen es vorhersagen.

In den Semesterferien nimmt Iwo den erstbesten Zug, für den er eine Fahrkarte am vollkommen überfüllten Hauptbahnhof in Shanghai bekommt, und reist in das Landesinnere. Als es keine Bahnlinie mehr gibt, fährt er mit dem Bus weiter. Die Busse fahren sehr schnell und die Fahrer achten kaum auf den Gegenverkehr. Es geht in die Berge. Auf der einen Seite der schmalen Straße ragt eine Felswand steil nach oben, auf der anderen Seite sieht man senkrecht in einen Abgrund hinab. Manchmal sieht man unten in der Schlucht umgekippte Busse liegen, hinuntergestürzt vor vielen Jahren, so scheint es, überwuchert von Gesträuch. Einer steckt mit der Fahrerkabine kopfüber im Boden und ragt wie eine riesige Made aus dem Gestrüpp heraus; zu tief, die Schlucht, scheint es, zu steil der Abhang, um ihn zu bergen. Aus irgendeinem Grund tröstet ihn dieser Anblick. Er gelangt immer weiter nach Südwesten. Die Busse werden nach jedem Umsteigen klappriger. Die Wege sind staubig und unbefestigt. Ab und an sieht er kleine rote Backsteinhäuser, rote Punkte in einer sich irgendwann kaum mehr  verändernden Landschaft. Teefelder und Reisterrassen, Wassermelonenfelder. Schließlich bleibt er, da ist er schon kurz vor der Grenze zu Myanmar, eine Woche lang in einem Bambushaus, das auf Pfählen erbaut ist. Hühner und Schweine darunter. Der Junge, dem die Zuteilung der Zimmer obliegt, wirkt phlegmatisch. Man einigt sich auf einen lächerlich geringen Preis. Ein Wasserhahn steht neben dem Treppenaufgang. Iwo ist der einzige Ausländer in dem Ort. Vermutlich auch der einzige Gast. Nachts presst er im Schlaf seine Hände in die Herzgegend. Als er erwacht spürt er eine große Leere um sich. Er ist absolut allein. Es ist still um ihn herum. Als würde er allein im dunklen Weltraum schweben. Absolutes Vakuum. So still muss es in der Hölle sein, denkt er. Wohin man nach dem Tod kommt, wenn man jemandem wehgetan hat. 

Das Studienjahr an der Fudan-Universität endet im Juni. Giuseppe schenkt ihm zum Abschied eine Echthaarperücke. Die Haare stammten von einem Mädchen aus Anhui, sagt er. Er beschreibt die verschiedenen Schwarztöne, die Haare haben können: Schweres schwarzglänzendes Haar, schwarz wie feuchte Kiefernrinde, wie die geräucherte dunkle chinesische Essigpflaume Wumei oder wie die Farbe von Datteln nach dem Räuchern. Karettschildkrötenfarben, daimaose – in diesem dunklen Farbton allerdings nur bei ausgewachsenen Exemplaren. Kastanienviolett, jedoch nicht lackschwarz, eher vielleicht lackviolett, qizi, öliges Schwarz, glänzendes Schwarz, Schwarz von der Farbe des violetten Aubergines oder des violetten Sandelholzes, zitanse. Oder das Unbestimmbare Schwarz, das Schwarz der Purpurnen Perilla, der Nanking-Schwarznessel. Da alle Menschen hier schwarzhaarig seien, so Giuseppe, gäbe es Unterschiede in der Farbe, die ein Europäer gar nicht sehen könne. Das wäre wie mit den zahlreichen Bezeichnungen der Eskimos für Schnee. Das Schwarz sei praktisch aller nur denkbaren Nuancen fähig, die man sich vorstellen könne. Iwo hält die Perücke in seinen Händen. Es sind wirklich sehr schöne Haare. Sie fühlen sich an, als ob man etwas Lebendiges berühren würde.  

Im August ist Iwo wieder in Deutschland. Den Rest des Sommers verbringt er damit, den aus China mitgebrachten Jasminblütentee aufzubrauchen und jeden Morgen nach dem Aufstehen eine Schattenboxübung zu tanzen. Ab und zu fallen ihm Sätze ein, die er für bemerkenswert hält. Er notiert sich diese Sätze. Sie lauten: Wenn man bedenkt, dass du aus’m Osten kommst, hast du echt Glück gehabt. Und: Alle Menschen sind schwarzhaarig. Oder einfach bloß Worte, wie Karettschildkrötenfarben. Später kann er sich nicht mehr erinnern, was ihn an diesen Worten so fasziniert hat. Im Oktober beginnt er ein Sinologiestudium. 

Nach Abschluss des Studiums findet Iwo sofort eine Arbeit. Er geht erneut nach China, wo er für eine kleine deutsche Spezialfirma den Vertrieb von Maschinen, mit denen Infusionsbeutel hergestellt werden, aufbaut. 

Er ist viel im Land unterwegs. Die Hotels ähneln sich und werden immer moderner. Die Städte auch. Lange Sitzungen in schwarzen Ledersesseln. Deren Design ändert sich nie. Auf den Schreibtischen liegen Schreibblöcke mit dünnem Papier und Stifte mit Firmenlogos von staatlichen chinesischen Pharmakonzernen. Daneben stehen Teetassen mit Grüntee, die im Laufe der Sitzung mehrmals von Mädchen, die lang geschlitzte Qipaos tragen, mit heißem Wasser aufgefüllt werden. 

Und immer wieder Flughäfen, gerade modernisiert, aus deren dunklen Tiefgarageneingeweiden er ans Tageslicht gleitet, meist in einem dieser neuen Hyundai-Taxis, das sich auf der gerade neu gebauten Stadtautobahn in den zur frühen Tageszeit noch wenig dichten Verkehr einfädelt. An der Mautstation lässt der Fahrer das Fenster herunter, um einer uniformierten Angestellten in einer Kabine ein kleines Bündel abgezählter Geldscheine herüberzureichen. Nahezu tropische Luft strömt ins Wageninnere, in dem die Klimaanlage summt. Die Frau hat grazile Finger mit sorgfältig manikürten Nägeln und reicht die Quittung mit ausdrucklosem Gesicht zurück. Eine weibliche Stimme aus einem Automaten sagt Xiexie. Die Frau sagt nichts. Eine Kamera fotografiert das Frontnummernschild. Eine Schranke öffnete sich. Iwo ist in einer neuen Stadt.

Die Zeit in der Kaserne scheint Iwo jetzt weit zurückzuliegen, beinahe so, als hätte es sie nie gegeben. Oder die Einsätze. 

Einmal war jemand aus ihrer eigenen Einheit geflohen. Bewaffnet. Verdacht auf unerlaubten Grenzübertritt. Das sei mit allen Mitteln zu verhindern, so der Leiter der Polizeibereitschaft, der selbst die Einweisung vornahm. Iwo stand auf einer abgelegenen Landstraße im Grenzgebiet, auf der er mit seiner Gruppe an einer Straßensperre Fahrzeuge kontrollieren musste. Gegen drei Uhr morgens kam ein Wagen mit Aufblendlicht auf sie zu und blieb etwa fünfzig Meter vor ihnen mit laufendem Motor stehen. Dann setzte er plötzlich zum Wenden an. Es ging alles sehr schnell. Iwo zielte mit der Pistole auf den Wagen und schoss und schoss. Das ganze Magazin leer. Neben sich hörte er die anderen schießen. Der Wagen rutschte seitlich ganz langsam in den Straßengraben, wo er liegen blieb. Als sie sich ihm näherten, erkannten sie eine junge Frau, die am Steuer zusammengesunken war. Bei der Obduktion stellte man als Todesursache einen Kopfschuss fest. Über die Art des Projektils, oder aus wessen Waffen es stammte, wurde ihnen nichts gesagt. Ein Bluttest hatte außerdem einen Alkoholspiegel von 1,2 Promille ergeben. Die junge Frau hatte wohl aus Angst vor einem Alkoholtest bei einer Verkehrskontrolle die Nerven verloren. Es gab eine Untersuchung. Man kam zu dem Schluss, dass es ein Unfall war. Er war unschuldig.

Im Internet, das es mittlerweile gibt, stößt Iwo auf eine Meldung, dass der italienische Zoll eine Lieferung von neun Tonnen der Firma Meili Hair Product im Gesamtwert von fünfhunderttausend Dollar beschlagnahmt hat. Der italienische Geschäftsführer sei, wie es hieß, wegen der Verbindungen des Unternehmens zu einem bestimmten Arbeitslager im Nordwesten Chinas befragt worden. Iwo erkennt Giuseppe auf einem Foto. Er sucht in seiner Wohnung nach der Perücke, durchwühlt seine Sachen, findet sie erst nicht dort, wo er sie vermutet, hält sie nach einigem Suchen dann schließlich in seinen Händen und streicht vorsichtig darüber. Er ist auf einmal sehr müde. Er hat eine Ahnung davon, wie Sanftheit entsteht: So, wie eine Hand über menschliches Haar gleitet. Ganz anders als über Kunsthaar. Iwo versucht, sich neun Tonnen Haare vorzustellen. Es gelingt ihm nicht. Eine Zeitlang verfolgen ihn Träume von kahlgeschorenen Frauen in Häftlingskleidern. 

Irgendwann hören die Träume auf. Es gibt keinen Ort, an den man kommt, wenn man jemandem wehgetan hat, denkt Iwo eines Tages. Und dieser Gedanke ist noch schrecklicher. Es gibt gar nichts.

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