26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Elke Steiner

Matchy Matchy

Es ist laut, aber niemand schreit. Wie auch. Die einen sind tot oder stumm, die anderen arbeiten. Gedämpfter Lärm umgibt mich in dieser halb offenen Halle. Ein Hacken, Knacken und Zischen aus allen Richtungen. Schwierig, die einzelnen Geräusche auszumachen, hören kann ich nicht gut. Es ist eine Mischung aus Straßenlärm, Sprachen und Fleischgeräuschen, und ständig macht es irgendwo: Karak.
Ich ziehe meinen Mantel enger um mich, mehr kann ich nicht tun.
Karak. Karak.
Der Mann schwingt das Hackmesser in die Luft, lässig, aus dem Ellbogen heraus. Immer die gleiche Bewegung: Hackmesser in die Luft, nieder auf das Tier. Die Scheiben, in die er die Schlange schneidet, sind so akkurat, als ob er sie abgemessen hätte. Wie das geht, mit diesem gleichgültigen Gesichtsausdruck, ist mir ein Rätsel.
Karak. Karak.
Hinunter. Hinauf.
Die Klinge muss scharf geschliffen sein, kein einziges Mal hackt er nach oder muss dazwischengreifen. Es geht reibungslos, wie am Fließband, die Frau neben ihm kommt kaum nach, die Scheiben in den schmierigen Plastikbehälter zu schieben. Die letzten Stücke wirft sie achtlos dazu. Als der Mann beim Schädel angelangt ist, muss sie schnell sein. Es gibt keine Pause. Sie schnappt nach dem schönen Reptilienkopf, er wird in einen separaten Kübel geworfen. Köpfe zu Köpfen, es hat seine Ordnung. Und dann liegt auch schon die nächste Schlange auf dem Holzbock, einige baumeln noch an Haken von der Decke. Ihr Rautenmuster von höchster Perfektion, wie aus dem Laserdrucker, elegante Schönheiten. Nur: umsonst schön gewesen.
Karak. Karak.
Es treibt mich langsam weiter. Der Geräuschpegel ist unverändert hoch, rauscht in mich hinein. Die meisten Laute kann ich nicht zuordnen. Aber dann tut sich wieder einer hervor, der mir bekannt vorkommt. Etwas wird abgebrochen.
Torok. Torok.
Jetzt weiß ich es. Flügel werden entzwei gerissen oder abgebissen, in den Mund gesteckt. Ledrige Flughäute in Papiertüten, günstiger im Kilo. Man kann sie im Gehen essen, den kleinen Hunger zwischendurch damit stillen. In lebendigem Zustand von unschätzbarem Wert, Flatterwerkzeuge für wundersame Reisen durch Magnetfelder. Hier als Pausensnack verramscht.
Jene, denen diese Flügel abgehackt wurden sind zu ausgehöhlten Puppentieren geworden, kurz werden sie in die Gasflamme gehalten. Wenige Sekunden reichen aus, knusprig und braun dann auf ein Holzstöckchen gespießt: Batman to go. 

Torok. Torok.
Die Kauenden entfernen sich langsam, andere schleichen vorbei, ziehen Wägelchen hinter sich her, zeigen auf ihr Wunschfleisch und nicken. Ich ziehe meinen Mantel enger um mich, mehr kann ich nicht tun. Vermutlich stinkt es hier auch wie nur was. Aber riechen kann ich nicht gut. Es geht gegen Mittag zu, die Sonne steigt höher und ich sollte dann bald von hier verschwinden. Aber so leicht ist das nicht. Ich kann mich nicht gut bewegen. Rund bin ich geworden, regelrecht fett. Aber meine Fettschicht ist mir wichtig. Ich glaube, sie hält mich zusammen. Vielleicht würde ich sonst auseinanderfallen. Hinter ihr kann ich mich verstecken. Im Fett fühle ich mich sicher. Herumkugeln und Dinge beobachten. Sonst kann ich nichts tun. Mantel enger. Das. Ja. Genaugenommen ist es mir mit dem Mantel zu warm, aber würde ich ihn ablegen, könnte ich für nichts garantieren. Also Mantel enger.
Bestimmt wird sich bald eine Gelegenheit ergeben, mit jemandem mitzugehen. Wenn sie mittags hier dicht machen, wenn die Touristen und Köche verschwinden, wenn sie die Kühlboxen säubern und das Blut und die Abfälle mit ihren Wasserschläuchen wegspritzen, dann 

wird sich eine Gelegenheit bieten. Dann muss ich nur den richtigen Augenblick erwischen. Dann muss ich schnell sein.
Man schiebt mich beiseite, rempelt mich an. Keiner passt hier auf. Keiner achtet auf irgendwas, schon gar nicht auf mich. Jemand zieht an meinem Mantel, mit aller Kraft ziehe ich zurück. Den Mantel, den lasse ich mir nicht nehmen. Was einem anderen sein Haus, ist mir mein Mantel. Ich wohne in meinem Mantel. Der Aggressive zerrt weiter, eine Schaberei, hin und her, was das soll, frage ich mich. Aber ich sage nichts. Sprechen kann ich nicht gut.

Fake, fake, sagt er.
Langsam begreife ich. Er hält mich für eine Erscheinung. Für ein unwirkliches Phänomen. Seine grapefruitfarbenen Haare blenden mich, schlimmer noch als UVC Strahlen. Es schmerzt. Wie auch sein Verhalten schmerzt, es ist unerträglich, er möchte scheinbar Aufmerksamkeit erregen, was ihm auch gelingt. Die Leute bleiben stehen und schauen, manche schütteln den Kopf. Er lässt abrupt von mir ab, denn in dem Moment, als er seine Kräusellippen vorstülpt und seinen Zeigefinger drohend in die Luft hält, passiert es: Ein Schwall erwischt mich, Hautfetzen und Blut, Innereien und Dreck werden am Boden umhergespült, mit dem Schlauch weggetrieben. In kleinen Rinnsalen sammeln sich die Reste von Affenhirnen und Hühnerkrallen, die Abfälle werden die Straße hinuntergeschwemmt und ich fast mit. Aber nur fast. Denn ich habe die Gelegenheit ergriffen und mich rechtzeitig zur Seite gerollt. Die Menschenmengen lösen sich auf, kleines Chaos, Spritz- und Schlapfgeräusche.
Fülüp Fülüp.
Alle im Laufschritt, auf ihre Mopeds, auf Fahrräder. Für mich heißt es jetzt: höchste Konzentration. Eine Gelegenheit erkennen. Meine Gelegenheit. Ich bin am Sprung, ich muss schnell sein, um hier wegzukommen. Und da: eine Hand.
Ich wusste es. Eine nimmt mich mit. Oder einer. Ist es eine Frauenhand oder eine Männerhand? Ich kann nicht gut sehen. Es ist mir egal. Eine Person eben. Was für eine Erleichterung. Ein Glück, dass sie gerade mich ausgewählt hat, denn solche wie mich gibt es an jeder Ecke. Wir werden entweder übersehen oder man kommt uns blöd. Kein Wunder. Für mich ist es immer schon schwierig gewesen, einen Aufriss zu machen, aber irgendjemand nimmt mich letztendlich immer mit. 

Wir sind im Auto, der Taxifahrer kurbelt die Scheiben hinunter. Frischer Fahrtwind lässt Haare flattern, Plastiksäcke rascheln, Hoffnung aufkeimen. Ich vibriere vor Aufregung, habe Angst, dass es mich wegreißt aus dieser jungen Stunde, dass mir meine neue Bekanntschaft wieder abhandenkommen könnte. Ich will mit jeder Faser meines Daseins, ich bin aufgeregt und erregt. Ich will einfach.
Ich will. Ich will.
Ja, auch Durchsichtige wie ich haben Bedürfnisse. Ganz archaischer Art. Ich will mich vermehren und spüre es auf mich zukommen. Am liebsten würde ich mir gleich den Mantel herunterreißen. Hier und jetzt, auf der Stelle. Darf ich aber nicht. Noch nicht. Ich fixiere den sprechenden Mund neben mir. Lippen wie Butter. Samtkringel die Haare, eine Unfrisur, kein guter Platz für mich. Aber die Lippen. Dort will ich hin, ich will an die Lippen und dann weiter. Tiefer hinein, in den Mund. Es zieht mich in diese dunkle Höhle, ich muss mich fokussieren und konzentrieren. Wieder bin ich am Sprung. Alleine schaffe ich es aber nicht.
Die Hand, die mich mitgenommen hat, könnte mir helfen. Aber was tut sie? Sie lässt mich los. Das Taxi bleibt stehen, Geldscheine rascheln, ich klebe daran, es scheint mich zu zerreißen, der Gestank des Papiers nimmt mich mit, ein Schwung, eine andere Hand fängt mich auf, ich kralle mich fest und fange mich wieder. Der Buttermund entfernt sich, nun hat mich die andere Person in der Hand – der Taxifahrer. Er gibt Gas und ich weiß, dass mir nichts anderes übrigbleibt, als mich mit meiner neuen Situation abzufinden. Dann eben sein Mund. Dann eben dort hinein, notfalls auch in die Nase, in die Augen, aber nur notfalls. Ich nehme seinen Mund ins Visier. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt nun dem Sprung. Nicht einfach bei meiner Fülle. Ich warte. Ich warte und fixiere und nehme wieder viel Rauschen wahr. Motoren surren, Farben blinken, eine Ampel springt auf Rot. Der Taxifahrer bleibt stehen. Offensichtlich hörte er Musik, denn er wirft seinen Kopf immer wieder nach vorne, als ob er den Schädel gegen eine unsichtbare Wand knallen würde. Sie muss extrem laut sein, denn die Bässe erfassen nun auch meine kleine Existenz und befeuern meine Gier nach Vermehrung, meine Gier nach Schleim, nach seinem Mund. Jetzt werde ich richtig zappelig. Ich habe sonst nichts im Blick als diese warme Öffnung und warte. Mein Flirren in seine Richtung ist schmerzhaft, es zieht und zieht und wird mich irgendwann noch zerreißen. Aber irgendwann wird es ruhiger und dann tut er das, was sie alle tun an der Ampel. Er tut genau das, worauf ich gewartet habe. Es ist nur eine kleine Bewegung, aber mir bedeutet sie alles: Er schiebt seinen Finger in die Nase.
Zweite Wahl. Mund wäre mir lieber gewesen. Aber immerhin, es klappt. Ich bin erleichtert, die Bürde der Begierde fällt von mir ab, entlädt sich in einer Schwerelosigkeit und in einem befriedigenden Taumel. Ein magisches Universum tut sich auf, weich und gepolstert. Ich schwebe und drehe mich kaleidoskopartig immer tiefer hinein in die neue Welt. Ich greife um mich, taste mich an den weichen Wänden entlang, es ist wie ein Rausch. Ein Schwimmen und Schweben in abgedunkelten Farbenstraßen und Flüssigkeitsschwaden. Der Taxifahrer scheint zu sprechen, eine tiefe Vibration erfüllt meine Welt. Dunkle Geräusche.
Gurup. Gurup.
Noch undeutlicher als draußen. Vielleicht hat er aber auch nur geschluckt oder gerülpst. Soll er doch, es stört mich nicht. Ich tauche weiter ein in die Bodenlosigkeit, tausende Nanos unter die Haut. Hinein in den Schleim. Kopfüber stürze ich mich in mein Tiefenabenteuer. Jetzt komme ich richtig an, ich bin das siebte Mitglied einer Familie, ich mache mich auf den Weg zu meiner Vermehrung. Die Gier fährt mir in meine Krönchen, vor Erregung stehen sie mir in alle Richtungen ab. 
Auf meiner Reise treffe ich viele, die so aussehen wie ich. Weiter vorne sehe ich ein besonders schönes Exemplar. Hätte ich Finger, würde ich schnippen.
Matchy. Matchy.
Es schwimmt mir vor der Nase davon. Schade, wir hätten zu zweit weitermachen können. Aber auch alleine bin ich gut. Ich laufe zur Höchstform auf, aktiviere meine ganze Energie. Ich kann noch einen Gang zulegen. Meine Vermehrungsgier steuert auf einen Höhepunkt zu. Gleich werde ich mich kopieren.
Es brodelt, es rauscht und der kleine dunkelrote Fluss, in dem ich schwimme, verzweigt sich. Es dauert nicht lange und ich treffe genau die, die ich suche. Ich komme ihnen näher, noch ein Stück und noch ein Stück. Näher geht nicht mehr. Meine Krönchen sollte ich vielleicht nicht nur zur Schau stellen, sondern sie auch benutzen. Saugarme könnten sie mir sein, hundertfach betatschen könnte ich die, die ich ansteuere. Ich muss meine Spikes dann nur mehr einsetzen. Ich weiß, was ich will. Mich als Ganzes an eine von diesen Bräuten schmeißen und ihre Membrane durchdringen. Eine von ihnen wähle ich aus, dann ziehe ich es durch.
Ausfahren: Alle. Und Andocken. Der Höhepunkt einer Eroberung. Auf diese Weise kopiere ich mich. Es ist das Überschreiten einer Grenze, eine Durchdringung und Verschmelzung gleichzeitig. 

Das Du und das Ich. Das Es und das Es. Das Aufgehen einer Sonne in der anderen. Zu zweit werden wir eins und dann wieder viele. 

Ein kleiner Schwindel erfasst mich, ich würde mich gerne in eine dunkle Nische begeben, ein wenig Ruhe wäre vonnöten. Mein Wirt aber scheint es sich anders überlegt zu haben. Ich habe das Gefühl, er möchte mich loswerden. Als hätte ich in seinem Beisl zu viel gesoffen, mit einem Tritt vor die Tür kippen, so macht man das mit unliebsamen Gästen, sieh zu wie du zurechtkommst. Mit einem Schwall werde ich hinausgeworfen, mit dutzenden Gleichgesinnten ausgehustet in eine andere Welt, wieder in eine neue. Ich lande hart auf Material wie Metall, ausgespuckt auf Silbriges. Dann verliere ich das Bewusstsein. 

Titik. Titik.
Etwas blinkt mich wach. Ich komme im Grellen zu mir und merke, dass ich völlig aus der Bahn geworfen bin. Rauswurf und Auswurf aus dem Wirtshaus. Er hätte doch jemandem direkt ins Gesicht husten können, der Taxifahrer, dann müsste ich jetzt nicht nachdenken, wo ich bin und wie ich hier wieder wegkomme. Oder jemanden küssen. Ja. Küssen hätte er sollen. Ein fetter Zungenkuss wäre mir am liebsten gewesen. Von einer Zunge auf die andere springen, Papillenhopping im Schleimpazifik. Er hätte aber auch einen Drink nehmen können, der Taxifahrer. In einer Bar hätte er mich in hohem Bogen in die Luft lachen können. In feuchten Atemwolken, dort wäre ich in meinem Element gewesen. Skydiving durch schummriges Licht, bis die nächste Person mich wieder eingehaucht hätte. Ich wäre gerne auf die einfache Art gereist. Ist es zu viel verlangt, das Einfache zu bevorzugen? Das, woran man sich gewöhnt hat, was billig ist und schnell geht?

Meine Reise ist kompliziert geworden. 

Ich bin geblendet von Schriftzügen und Leuchtkörpern und allmählich wird mir klar: Ich bin in einem Einkaufswagen. Jetzt werden sie versuchen, mich zu bedrängen und zu durchdringen, meinen Mantel werden sie mir zerreißen mit ihren Seifen und langsam, ganz langsam, taucht über mir ein Schatten auf.  

Share on TumblrEmail this to someoneShare on StumbleUponPin on PinterestShare on Facebook
Leave A Comment