26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN
Maren Dagny Wagner
Das Team
Der Eismann steht noch unten an der Straße. Fee kann das Dach des Wagens und ein Stück der gelben Markise aus ihrem Fenster sehen, die zwischen all den grauen Bürotürmen wie ein fröhlicher Farbtupfer leuchtet. Es ist ein erster warmer Tag im Frühsommer und das Mittagslicht bricht sich in den verspiegelten Fassaden von gegenüber und malt fleckige Muster auf Schattenseiten. Fee betrachtet kurz das Lichtspiel und dann den Raum, in dem sie steht. Ein Eindruck von früher und immer noch die Gegenwart.
Der Blick durch die gläserne Wand in das Büroinnere, das warme Licht, der Geruch nach neuer Auslegeware. Es hatte ihr sofort gefallen. Alle gleich per Du. Die Zusage reine Bestätigung. Zwei Jahre, zwei Monate und drei Tage fliegen vorbei, gefüllt mit Herzblut, Sorgfalt und den kleinen Freuden des Büroalltags, Neckereien und Blödeleien. Stunden, nach denen Fee den Feierabend genießt, erfüllt vom Tagwerk, der Struktur. Struktur ist alles, klemmt Lebensfragen, weitschweifige Gedanken, überflüssige Reflexionen ab.
Fee überlegt, später einen Cocktail in der Bar gegenüber zu trinken, mit den Lieblingskollegen ein bisschen lästern und die Abendsonne genießen. Sie freut sich, auf den Sommer und auf den Rest des Arbeitstages.
Es ist kurz nach Drei, als der Chef ruft. Ein kurzes Klopfen an die Glasscheibe, ein Wedeln der Hand. Fee folgt den anderen in die Konferenzecke am anderen Ende des Flures. Der Chef steht schon bereit, an der Tafel, an der nie getafelt wird, sondern bloß Aufgaben und Ansagen gefressen werden. Die Kolleginnen und Kollegen scharren sich um den Tisch, wackeln auf den rückenfreundlichen Hockern herum, hungrig auf eine neue Herausforderung. Der Chef erzählt, es gäbe einen neuen Kunden. Einen besonders dicken Fisch. Dicke Fische mag hier jeder. Sie verleiten zum Wichtig-fühlen, Verantwortung übernehmen. Es ist eine kleine illustre Runde, die der Chef zur Betreuung des neuen Kunden aufstellt. Fee ist stolz, sie hat genug Erfahrung und glaubt, es sich verdient zu haben, Teil des Teams zu sein. Im Anschluss führt das neue Team ein Brainstorming in einer der safrangelben Sitzecken neben dem Kaffeeautomaten durch. Fee knabbert an einem Apfel, Isabel knuspert einen Schokoriegel, Gregor kaut ein Matschbrötchen, für jeden ist etwas dabei. Auch im neuen Projekt. Alle sind guter Dinge.
Fee findet sich leicht ein, sie spürt, dass sie an etwas Großem dran ist. Vielleicht ist sogar ein Sprung auf der Karriereleiter drin. Vielleicht eine kleine Beförderung, aber Fee ist auch so zufrieden. Sie fühlt sich wertgeschätzt, genießt die Pausen mit ihren Kollegen, obwohl diese weniger werden. Der kurze Plausch zwischen den transparenten Wänden der Büros nimmt ab, zu viel ist zu tun. Das Team kniet sich rein, versucht bestmögliche Ergebnisse zu erzielen, dem Kunden zu zeigen, dass er die richtige Wahl getroffen hat. Manchmal gibt es kleine Probleme, auf die sich alle mit Heißhunger stürzen. Hier ein Wort zu viel, da ein kleines Missverständnis, meist nicht von Belang, abends bereits wieder vergessen.
Nach einem Monat kommen erste Zahlen, es sieht gut aus. Zur Feier des Tages gibt es Sekt und Törtchen. Fee geht als eine der Letzten, zu lange hat sie mit Gregor, Isabel und Karoline zu 90er Jahre Hits in der Sofaecke geschunkelt. Fees Laptop leuchtet noch, als sie das Büro abschließen will, deshalb sieht sie noch eine letzte E-Mail. Eine Nachricht, die eigentlich an Gregor adressiert ist und versehentlich an den gesamten Verteiler des Teams gegangen ist.
Ein gewisser Herr Plunder fragt nach wichtigen Unterlagen, die er bis zum Morgen benötigt.
Fee will gerade reagieren, als eine weitere E-Mail an den Verteiler geht. Es ist Karoline, die die nötigen Unterlagen sendet. Fee ist erleichtert.
Eine Zeit lang befindet sich das Team im Gleitflug, sie segeln mit endloser Sicht, haben Durchblick, bis erste zarte Schleierwolken aufziehen. Fee hängt in der Warteschleife. Zum dritten Mal hört sie von der Empfangsdame ihres Ansprechpartners, die gesamte Belegschaft sei in einer Sitzung. Doch die kleinen Probleme schweißen zusammen, Isabel und Fee trösten sich am Abend mit einem Bier, denn das Tagesgeschäft ist nicht innerhalb eines Arbeitstages zu schaffen. „Tschüss“, ruft Gregor am Treppenabsatz. Fee sieht, wie auch Karoline noch auf ihren Rechner starrt, schräg gegenüber in ihrer Glaskapsel. Hinter Karoline lachen Mann und Kind in einem Bilderrahmen. Sie sieht erst auf, als Fee direkt vor ihr steht. „Mach mal Pause“, sagte Fee zu Karoline, die sich zu einem Bier am Schreibtisch überreden lässt.
Als das abendliche Bier längst zur Gewohnheit geworden ist, wird Gregor krank, liegt flach, schickt mit Mühe ein Attest. Alle haben Mitleid und der Chef beruft zu einer Sitzung ein, er hat eigentlich keine Zeit, sieht sich aber dazu gezwungen. Notdürftig werden Gregors Aufgaben verteilt. Der Chef weiß leider auch nicht genau, wie diese aussehen. Fee greift freiwillig zu Gregors Notizen, als sie den Ordner an ihrem Schreibtisch öffnet, fallen ihr ein Stapel leerer Blätter und einige Notizzettel mit kryptischen Inhalt entgegen. Auf einem steht Plunder, 16 Uhr, kein Drama. Nachmittags ruft ein Mann an, es ist nicht Herr Plunder, aber er ist wütend und möchte Gregor sprechen. „Herr Nuhne hat das immer mit mir besprochen“, sagte er, seine Stimme ist hart und streng. Fee erklärt ihm freundlich die Situation und bittet den Mann, ihr sein Anliegen zu schildern, aber dieser legt einfach auf. Fee erreicht niemanden unter der Nummer, weder am nächsten Tag, noch eine Woche später. Karoline erzählt, der Empfang habe angerufen und jemand wolle sich persönlich beschweren, aber es ist niemand da. Niemand sitzt in den safrangelben Polstern, niemand blinzelt in die Hängelampen, niemand schaut runter in das gläserne Treppenhaus. Nur ein Schokobonbon liegt auf dem Tisch, das Papier ist an den Ecken abgestoßen, die Form ist leicht zerbeult, als sei die Schokolade bereits länger in einer Hosentasche herumgereist.
Fee sieht den Angestellten aus der Kanzlei im achten Stock dabei zu, wie sie mit dem Fahrstuhl in Richtung Feierabend fahren. Sie sieht durch das Glas die plappernden Münder, die schwingenden Aktentaschen, die platten, aber unzerrauften Haare. Wie sie im Boden verschwinden. Sie kann die feuchte, frühherbstliche Abendluft im Gesicht, das Hasten zur U-Bahn-Station in den Beinen fast spüren, erfüllt von der Vorfreude auf das Sofa, auf ein leckeres Essen vor dem Fernseher. Das Treffen mit einer guten Freundin hat Fee längst abgesagt. Sie muss noch eine Präsentation ausarbeiten, noch etwas Tagesgeschäft erledigen. Fee sieht Karoline gegenüber, sie lächeln sich kurz zu, Schwestern im Geiste. Isabel dagegen verabschiedet sich, sie ist unglaublich, wahnsinnig, irre müde, hat die letzte Nacht wieder schlecht geschlafen. „Ich mach das schon“, sagte Fee, denn sie ist ja die Gute, die gute Fee. Außerdem muss das Team doch zusammenhalten, sagt Karoline. Karoline winkt, als Fee Feierabend macht. Nur hinter ihrem Glas brennt noch Licht, Fee denkt an das Stück von Jimi Hendrix, Burning Of The Midnight Lamp.
Fee spürt, wie ihr das Projekt über den Kopf wächst wie eine Schlingpflanze, die unablässig in die Höhe schießt, sie zusammen mit den Regalen überwuchert, mit ihren kräftigen, nimmermüden Trieben mit jeglicher Ordnung verwächst. Mit beiden Armen muss Fee sich durch das Gewirr kämpfen. Überall liegen Blätter, faustgroße Früchte, die gegen das Glas schlagen. Fee hangelt, kämpft, hadert. Ihr fehlen wichtige Zahlen, obwohl der Kunde behauptet, sie seien längst übermittelt worden. Der Gang zum Chef macht ihr Bauchschmerzen, Isabel ist an ihrer Seite, Gregor meldet sich mit einer Prise Mitleid vom Krankenbett. Doch der Chef ist nicht da, sein Schreibtisch aufgeräumt, als wäre er noch gar nicht zur Arbeit erschienen. Das Team kommt zusammen, beratschlagt, immerhin sitzen sie alle in einem Boot. Doch die Zahlen tauchen nicht auf. Herr Plunder entpuppt sich als Farce, als Praktikant, der das Unternehmen längst verlassen hat. Es gibt immer wieder Momente, die zweifeln, verzweifeln lassen. Kundenverlust, Kündigung, aber es geht immer wieder gut. Karoline erzählt am nächsten Tag, sie habe die Zahlen in einer Nacht- und Nebelaktion erhalten.
Auch in ihrem Schlafzimmer streut Fees Laptop blaues Licht, sie checkt mit einem Auge das Postfach, um dann von allem Gesagten und Ungesagten zu träumen, unermüdlich, müde. In ihrer Bauchgegend kribbelt und brennt es. Sie sieht nur den Regen, der seit einigen Tagen unablässig fällt. Karoline muntert das Team mit Kuchen auf, den sie morgens vom Bäcker geholt hat. Er schmeckt wie selbstgemacht. Alle sind nervös, es hat eine erneute Beschwerde gegeben.
Zwei Tage später wird zurückgerudert, das Team würde doch sehr gute Arbeit leisten, man könne sich auf die Mitarbeiter verlassen. Karoline hat es gerissen, sie ist erst spätnachts nach Hause gegangen, hat noch alles fertig gemacht. Diesmal holt Fee eine Flasche Sekt, aber Karoline meint, die solle erst getrunken werden, sobald wieder Normalität eingekehrt sei.
Normalität. Normalität riecht nach Pläneschmieden für den Urlaub, nach einem belanglosen WhatsApp-Chat mit der besten Freundin, schmeckt wie ein verplaudertes Mittagessen mit Nachtisch. Fee sehnt sich nach Normalität. Manchmal hat sie das Bedürfnis zu schreien, in der U-Bahn, wie eine laute, irre Person. Fee schreit nicht, sie schluckt, den anderen geht’s auch nicht besser.
In den Regen hinein sagt Isabel, sie findet, man solle es sausen lassen. Den Kunden. Das Projekt scheitern lassen, alles zusammenstürzen zu lassen wie ein Kartenhaus. Es sei nicht zu schaffen. Fee nickt. Am nächsten Tag gehen alle früher, nur Karolines Licht brennt noch. Fee hat den Eindruck, sie ist um Jahre gealtert, hat mehr Falten um die Augen. Karoline sitzt auch am Schreibtisch, als Fee am nächsten, trüben Novembermorgen das warm beleuchtete Büro betritt. „Hast du hier geschlafen?“, fragt sie, nur milde überrascht. „Nein“, sagt Karoline. „Aber ich habe die Präsentation fertig gemacht.“
Der Chef ist beeindruckt und lobt alle für ihre tolle Arbeit. Er sagt, er sei sehr stolz. Jeder wünsche sich solche engagierten Mitarbeiter. Fee ist nicht stolz, fühlt sich nicht engagiert, fühlt sich schlaff. Sinn und Zweck entziehen sich ihrem Geist, sie fühlt sich wie ein Schulkind, das die Welt nicht versteht. Sie bearbeitet weiterhin die Schlingpflanze, die sich um ihre Ausarbeitungen, ihre Notizen, ihren Durchblick geschlungen hat, aber sie hat nur ein kleines stumpfes Taschenmesser, keine Machete.
Isabel lässt sich krankschreiben, sie erzählt den wahren Grund nur Fee. Es täte ihr leid, aber sie denke tatsächlich über eine Kündigung nach. Nein, nicht kündigen, denkt Fee. Sie hat Angst, um ihre hart erarbeitete Wohnung, ihren Ruf, ihre Struktur, ihren Sinn. Fee wünscht sich, dass Karoline krank wird, sich selbst abschaltet wie einen Roboter, wo ist nur der Knopf zum Abschalten, denkt sich Fee. Sie selbst macht Fehler, aber Karoline fängt sie auf, rettet sie vor dem Chef, dem Kunden, füttert Fee mit Kuchen, füttert die anderen, ermuntert sie wie Kinder, die nicht mehr lernen wollen. Nur noch die eine Vokabel, nur noch die eine Parabel, bald ist es geschafft. Karoline ist der letzte Baustein, leimt an brüchigen Stellen, kittet Löcher im System, schmiert Ketten und filtert Sand im Getriebe. Karoline rettet allen den Arsch, sie ist das letzte Glied im Team, das es ernst meint. Als würde ein Automatismus hinter ihrer Stirn pochen, als flöge sie Autopilot.
Die safrangelben Polster leuchten wie eine falsche Sonne durch das Spiegelkabinett, unscharfe Reflexionen bewegen sich zwischen den gläsernen Wänden, das Team findet sich zusammen. Sie beschließen, das Projekt gegen die Wand fahren zu lassen, diesmal wirklich.
Aber eine fehlt, eine ist nicht mehr mit an Bord. Während alle anderen im Rettungsboot sitzen, ist sie noch auf dem Schiff, hält das Ruder, will weiter stromaufwärts. Das Beiboot hängt noch an der Rettungsleine, die erste Offizierin weigert sich, die Leine zu kappen. „Wir müssen die Leine selbst durchschneiden“, sagte Gregor. „Sie wird früher oder später an Erschöpfung zusammenbrechen“, findet jemand. Dabei solle man es belassen. Aber sie wollen jetzt handeln. Man könne ihr einen Fehler andichten, sie beim Chef verraten, aber der Chef würde natürlich niemanden rausschmeißen, nicht in dieser Situation.
Man zerbeißt noch eine Paranuss, schlürft das Weiße aus einem Schokokuss, zerkaut nervös ein bisschen Bananenbrot. Einige wollen den Schwanz einziehen, man will abwarten, aussitzen, aushalten. Fee verlässt als letzte die Sitzgruppe und entdeckt plötzlich Karoline. War sie gerade auch schon da? Mit dem Rücken zum Kaffeeautomaten steht sie da, beiläufig, aber Fee glaubt zu erkennen, dass ihre Schultern beben.
Draußen schweben feine Bänder zwischen den grauen Türmen, sammeln sich lautlos an den Scheiben zu Bächen, um der Stadt ihren regennassen Schleier aufzusetzen. Schirme, viele unifarbene, wenig gemusterte, schweben weit unten, vorbei an glänzenden Autos, Betonflächen und spiegelnden Scheiben. Fee steht am Fenster und würde gerne weinen. Ihre Tränen dem nassen, grauen Wetter hinzufügen, denn es scheint ihrer Situation angemessen. Sie ist der Lösungen, der Schadensbegrenzung müde. Ihr Denkapparat ist wie eine mit Regen getränkte Maschine, die bei Feuchtigkeit nicht länger funktioniert.
Am späten Nachmittag klopft der Chef an ihre Scheibe. Er will wissen, ob Fee auch den Eindruck habe, dass die Aufgaben im Team ungleichmäßig verteilt seien. Dass Karoline zu viel auf ihren Schultern trüge. Fee sagt, sie glaubt, dass Karoline nur so viel arbeite, weil sie Fehler mache. Der Chef nickt, es sei nicht das erste Mal, dass er dies höre. Er will das Gespräch mit Karoline suchen, die wieder an ihrem Platz sitzt und auf den Bildschirm starrt, als sei ein ganz normaler Arbeitstag.
Am nächsten Morgen ist Fee weniger müde als sonst, als sie den Weg von der U-Bahn-Station zur Arbeit geht. Ein paar Männer in Regenmänteln und Trenchcoats drehen sich in den Schwingtüren, sprengen Wasser mit ihren handlichen Regenschirmen, hüllen sich in morgendlichen Kaffeeatem. Ein Krankenwagen steht vor der marmorierten Fassade mit den hohen Fenstern, aber er kommt zu spät. The show must go on, würde der Chef sagen, aber er ist nicht da. Ein leeres Glas mit trüben Smoothie-Resten darin steht auf seinem Schreibtisch. Auf Karolines Schreibtisch steht oder liegt nichts, nicht mal ein krümeliger Teller oder ein Kugelschreiber. Fee sieht durch die feucht glänzenden Scheiben. Sie sieht Karolines Gesicht verschwommen in der Scheibe, nur ein Abbild ihrer selbst. Fee sieht, wie sie Meter um Meter mit dem Regen fällt. Wie sie noch kurz zögert, vielleicht an den Mann und das Kind denkt, die es zu Hause nicht mehr gibt, sondern längst ausgezogen sind. Wie sie noch kurz zögert, an das Team denkt, um in Anbetracht des Verrats zu fliegen, wie ein nasser Vogel. Der Regenschleier lässt einen verwaschenen Eindruck der Wirklichkeit zurück, verschleiert die Ameisen in ihren Bürotürmen. Verzeihung, flüstert die Ameise namens Fee. Von der Schlingpflanze sind nur ein paar vertrocknete Triebe übrig.