26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Michael Milisterfer

25° und steigend. 

Echter Tumult.

Schönes Durcheinander. 

Der Strang aus schwarzen, glänzenden Leibern war gerissen, an genau der Stelle, an der der Stock durch ihn hindurchgefahren war, mit dem Dr. Jona Stern einen bedeutungslosen Halbkreis in den lauwarmen Sand geschwungen hatte. Für eine kleine Zeit riss der plötzliche Graben den Gliederzug aus seiner Bahn zu den Resten einer Mahlzeit, Obst und dünn aufgeschnittenes, weißes Fleisch. Fast unmittelbar faserten die losen Enden der Ameisenstraße rund um den Einschnitt aus. Mit klappernden Fühlern suchte der zerteilte Organismus kurz seine gewohnte Ordnung, dann, wieder geschlossen, neue Wege. 

Diese Miniatur eines Zwischenfalls, was auch immer er zu bedeuten haben mochte, trug sich unter dem etwas ziellosen Himmel eines 19. Dezembers zu. 

Seit ihrem Aufgang acht Stunden zuvor war die Sonne dieses nicht ungewöhnlichen Tages unentschlossen geblieben, zwischen Wellen von Wärme und einem schamvollen Ducken hinter schlecht gezeichneten Wolkenbändern. 

Die See hatte einen routinierten Betrieb aufgenommen, „rein“ und „raus“, ein fades Schwappen und Zurückweichen, so sah es Dr. Jona Stern, dem sich auch bei diesem erneuten Besuch am Meer keine tiefere Bedeutung des Wassers eröffnen wollte. Er war das nicht, so ein „Meermensch“. Der Anblick der immer gleichen Wellen führte für ihn schlicht nach nirgends.

Ohne Leidenschaft, nicht einmal mit echtem Wollen, war er auch in diesem Jahr an die Stelle zurückgekehrt, wo Mutter Natur ihre Anatomie zu einem Halbmond verkrümmt, den mit hellen Felsen durchsetzten Küstenbogen, in dem sich die Wellen überall unerträglich schön totlaufen. 

Der Strand ist hier, bis heute, überall sanft abfallend, der Wind zurückhaltend, und so bleibt dem Wasser nichts weiter übrig, als anderswo tief und wild zu sein. Nur weit jenseits der durch ein verborgenes Riff gezogenen Sekante des Halbrunds heben und senken sich manchmal Einheimische auf ihren Surfbrettern. 

Und obwohl ihre Details nie zu erkennen sind, erschienen sie Dr. Stern im Gegenlicht dieses Tages ein wenig wie Kinder auf alten Karussells, ratlos vom unaufgeregten „Auf“ und „Ab“ ihrer Reittiere, die dem braven Takt einer Uhr folgen, die noch in einer Zeit aufgezogen wurde, die langsamer verging. 

Dr. Stern war durchaus zu solchen tiefsinnigen Einsichten fähig, immerhin war er ein Mann von akademischen Weihen. Und mehr noch: Irgendwann, ein Jahrzehnt zuvor, hatte man den schwer Greifbaren, hartnäckig vor sich hin Forschenden in einen Lehrauftrag geschoben, passable Bezüge und großzügige Urlaubsregelungen inklusive, ein eigenes Büro, südseitige Fenster, ein Posten ohne Aussicht, aber mit hervorragenden Ausblicken. 

Nach dem Ruf an die zweitklassige Universität im nördlichen Teil der Bundesrepublik, der unangenehm ist, hatte er, die einsame Koyphäe, ein wenig angefangen zu trinken, aber undeutlich. 

Regelmäßige Publikationen, ein paar Vortragsreisen, dünn besuchte Seminare, die ein stilles Durchreichen der immer gleichen Inhalte erlaubten, etwas Verwaltungsarbeit. Alma mater, zweite Zitze von rechts unten, etwas Stallgeruch, etwas Auslauf, mehr brauchte er nicht, mehr hätte ihm auch niemand gegeben. 

Dr. Stern war dabei ehrlich mit sich. In den wenigen klaren Momenten, in denen er sich ausreichend getrunken hatte, erfand er Spitznamen für sich selbst, die er in kleinen Buchstaben in ein Notizbuch kritzelte, das eigentlich für größere Aufgaben bestimmt war:

Streichholz-Prometheus. 

Taschen-Archimedes. 

Binnen-Odysseus. 

Kurzstrecken-Dädalus 

Ganz gelungen fand er das, entwaffnend und lehrreich, vielleicht. 

Der Grund dafür, dass Dr. Stern erneut an einen Ort gereist war, der ihm rein gar nichts bedeutete, war jemand, für den im Grunde das gleiche galt. Mirjam, studentisches Treibgut, das in eine seiner Vorlesungen gespült worden war, hatte über einige Jahre als Gezeitenkraft gewirkt und in regelmäßigen Abständen „schöne Tage am Meer“ eingefordert. Dann war sie irgendwohin und aus seinem Leben verschwunden. 

Mirjam war deutlich jünger gewesen als er (und war es nach allen Regeln der Zeitrechnung immer noch), das hatte ihm gefallen, auch wenn ihm das Schablonenhafte daran immer klar vor Augen stand. Leider war sie nach seinem Empfinden eine nur perspektivische Schönheit gewesen, anziehend nur aus bestimmten Blickwinkeln. In der Schreibtisch-Schublade seines selten besuchten Büros fand sich deshalb immer noch eine Fotosammlung, die diesem Umstand Rechnung trug: perfekte Schusswinkel in geeignetem Licht, zusammengestellt für die einsamen Abendstunden, wenn Dr. Stern doch einmal den seltenen Besuch körperlicher Lust empfing.

Er hatte schon immer viel auszusetzen gehabt. Aber hätte er aus dem Angebot an unangenehmen Wesenszügen seiner Begleiterin etwas wählen müssen, das er besonders hasste, so wäre seine Wahl auf ihren verbissenen Hang zum kulinarischen Entdecken gefallen. Mirjam hatte in seinen Augen über die Jahre eine besonders wahnhafte Spielart der Fresssucht entwickelt, ein dauerndes Abschmecken ihrer Umgebung nach Besonderem. Wie ein Trüffelschwein förderte sie jede noch so abwegige regionale oder saisonale Besonderheit aus dem Vergessen ans Licht. 

Als wäre alles, was in Zeiten von Fehlernten, Überschwemmungen und Seuchen nur aus purer Not heraus zu Essbarem erklärt worden, folgte der gemeinsame Speiseplan einer kruden Gleichung voller Unbekannter. Dabei wechselten Phasen absurder Sprünge zwischen fremden Küchen und Konsistenzen mit ganzen Epochen der Reduktion. Die Spargelzeit kam Dr. Stern einem Ramadan gleich, dauerte genauso lang und wurde auch mit vergleichbarer Disziplin eingehalten, bis er am Ende servierfertige Spargelsuppe pisste. 

Am Schlimmsten war es am Meer. Für Dr. Stern, der in seinem Selbstverständnis als Landbewohner immer aufrecht geblieben war, stellte der Saum des Wassers eine Grenzmarke dar, eine klar erkennbare Aussenmauer der Speisekammer. Dahinter: Ungenießbares, das darauf wartete, von anderen Meeresbewohnern verspeist zu werden. 

Den Tiefpunkt der Nahrungskette bildeten die Austern. Ein Mahl für Schiffbrüchige und ohnehin nur die Annäherung an ein Tier, mehr Mahnung als Gericht. Für Mirjam aber der Beweis, dass Gottes Liebe durch den Magen gehen müsse. 

Und immer dann, wenn Dr. Stern wieder betrübt auf der Toilettenschüssel eines kostspieligen Fischrestaurants saß, dachte er, aber nicht zu laut: Ein Geschöpf, dass es dem Hungrigen so schwer macht, zu seinen essbaren Teilen zu gelangen, tut dies aus einer Art von Nächstenliebe. 

   

Und sonst? Beinahe allein war Dr. Stern. Eine deutlich blonde Frau war vor ihm an den Strand gekommen, er hatte sich in respektvoller Distanz niedergelassen, aber nah genug, um zu sehen, dass sie schön war. Etwas weiter entfernt hatten sich nach seiner Ankunft vier weitere Menschen eingefunden, zwei große, zwei kleine, sie gehörten zusammen, aber nicht ganz klar nicht hierher. Das meinte Dr. Stern nicht böse, das lag ihm nicht, hier stand er fest in seinen Überzeugungen. Aber es war dann doch unübersehbar, dass die Familie aus jenen Gegenden angereist war, die jenseits des Meeres lagen. Dass aber auch diese Menschen Kinder hatten, die sie unübersehbar liebten, und dass sie in Urlaub fuhren, das bestärkte Dr. Stern durchaus in seiner offenen Sicht der Menschen und Dinge. 

Ein muschelförmiger Sonnenschutz wölbte sich bei den Neuankömmlingen in Richtung Himmel, es herrschte laute Geschäftigkeit wie auf einem kleinen Basar. Dr. Stern begann sein Protokoll:

Der Vater, schnauzbärtig und überhaupt haarig, sah im Wesentlichen aus wie ein Luftballontier, versehen mit einem winzigen Schnürriemen in der Mitte des Körpers, der wohl eine Badehose darstellte und mit Sternen und Streifen versehen war. Dr. Stern machte sich selbst eine Freude, indem er dachte, dass es wohl genau so ausgesehen hätte, wenn Neil Armstrong seine Flagge nicht in den Mond gerammt, sondern stattdessen versucht hätte, gleich den ganzen Himmelskörper in das knappe Stück Stoff einzuwickeln. 

Die Mutter dagegen war trotz der weiten Schichten von Gewändern auf ansprechende Art zierlich und feingliedrig,  der schwarze Rahmen ihres Kopftuchs fasste ein schön geschnittenes Gesicht ein, in dem zwei große, ruhige Augen an der genau richtigen Stelle platziert waren und selbst auf die Entfernung war waren. 

Es schien Dr. Stern gerecht, dass die beiden Kinder, ein Mädchen und, etwas jünger, ein Junge, ihr Aussehen vor allem der Mutter zu verdankten. Sie waren – und eigentlich machte sich Dr. Stern nicht viel aus Kindern – wirklich hinreißend, mit ihren pechschwarzen Haaren und ihren noch zerbrechlichen Gliedern, ihren dunklen Kindergesichtern. Das Alter der beiden kleinen Menschen war schwer zu schätzen, sie bewegten sich zu schnell. Sie zehn, er acht, in etwa dürfte das stimmen, entschied Dr. Stern. 

Er setzte seine etwas zu große Sonnenbrille auf. Er wollte weiter beobachten, aber ein unangenehmer Verdacht kam schnell auf.

Zurückgezogen in die plötzliche Dunkelheit musste Dr. Stern, durchaus zu seinem Leidwesen, feststellen, dass die schöne Blonde, die zwischen ihm und seinem eigentlichen Interesse lag, das Oberteil ihres Bikinis umstandslos abgelegt hatte und begann, sich die nackten, von hellen, dreieckigen Aussparungen hervorgehobenen Brüste mit Sonnenmilch einzureiben. Sie tat das vollkommen pragmatisch, so als verputze sie die Wand eines Hauses. Sicher galt das ihm, als abweisende Botschaft. 

So konnte Dr. Stern nur mit Verzögerung feststellen, dass sich im Fluchtpunkt der öligen Brüste etwas Wichtiges ereignet hatte. Die Nachbarsiedlung hatte sich zu einem kleinen Konfliktherd gewandelt. Der Fette und die Schöne waren in eine gestenreiche Auseinandersetzung verwickelt, mit ihrer Tochter, die hin und wieder Sand in Richtung der Eltern schleuderte, das kleine Kinn zitterte, zwischen Revolte und Resignation. 

Dr. Stern wünschte, er hätte sich nicht ablenken lassen, ihm war etwas Wichtiges entgangen. Der Junge, so viel konnte er zumindest feststellen, hatte sich vor dem plötzlichen Sturm geflüchtet und war mit Schaufel und Eimer ausgerüstet an die Wasserkante getrippelt, wo der Sand weich genug war, um ihn zu Haufen aufzutürmen. 

Dr. Stern entschied, ein wenig in dieser Blickrichtung verweilen, denn es war rührend, die Empörung des Jungen zu sehen, wenn die Wellenzungen seine mühsam geschichteten Bauwerke niederwalzten, und er hätte lange dabei bleiben können, wenn nicht das böses Kribbeln an den Beinen gewesen wäre, vom Durcheinander der Ameisen, die am Ziel ihrer Reise angekommen waren und begannen, die Überbleibsel seines Mittagessens in kleine Teile zerlegten.  

Es dauerte ganze eine Weile, die unangenehmen Besucher zu vertreiben, und sich wieder auf das Geschehen an der Wasserkante zu konzentrieren. 

Zuerst sah Dr. Stern die kleine blaue Schaufel, die ganz für sich sanft über das Wasser schaukelte. In der Nähe hatte der kleine, dunkle Junge jetzt wirkliche Schwierigkeiten, sich auf dem trügerischen Untergrund zu halten. Immer wieder knickten seine Beine unter dem schlürfenden Wasser ein, zornig ruderten die dünnen Arme dazu. 

Und in diesem Moment verstand Dr. Stern, dass, einmal, vielleicht ein letztes Mal, alles an ihm liegen würde, dass er es war, der in allem Unberechenbaren zählen würde, dass er der Grenzwächter war, zwischen Katastrophe und Zwischenfall, zwischen Tod und Leben, entlang des feinen Schnitts zwischen Dasein und Bedeutung. Entlang dieser Linien driftete das Innere von Dr. Jona Stern.

Er setzte ein Gesicht auf, das zu all dem passte, blickte kurz hinüber zu den streitenden Parteien, die sich jetzt zu einer großen Umarmung zusammengefunden hatten, ein wirklich gutes Bild. 

Dann spannte er die wenigen Muskeln an, die er hatte.  

Noch erlaubte er es dem müden Wasser, dem kleinen Ausreisser eine Lektion zu erteilen, Klarheit zu schaffen, bis die sanfte Strömung endlich begann, an dem kleinen Köpfchen zu zupfen, das sich schließlich zuckend hob und senkte wie ein Angelschwimmer in einem gut besetzen Fischteich. 

Dr. Stern sah kurz auf die Furchen, die er während seiner Beobachtungen blind mit dem Finger in den Sand gezeichnet hatte. Er wanderte im Denken entlang der winzigen Grate und Abbrüche, um sich auf diese Weise auf das Kommende vorzubereiten: ein kühner Ruck, vielleicht zwanzig schnelle Schritte, ein Sprung, ein rettendes Ziehen, die Hände bereitwillig in den Sand gestemmt, aber noch musste Zeit bleiben, unbedingt, denn die Brücke zwischen Herz und Handeln ist, das wusste Dr. Stern gut, brüchig und trügerisch, nichts schlimmer, als zu früh zur rechten Zeit zu kommen, Einhalt muss geboten werden, den Synapsen, Neuronen, dem Stromfluss, Einhalt dem Impuls, der Reaktion, dem Tier, der Peinlichkeit, zum Souverän muss der Mensch werden, Kontrolle muss er haben, über das, was noch nicht weiß, was es wird.       

Und während Dr. Stern noch so dachte, voll allerbester Absichten, gewiss, schloss sich, einen Ruck und zwanzig Schrittlängen entfernt, ganz leise das Fenster der Gelegenheit.

In den wenigen Augenblicken der Verstörung war teilnahmslos und aus dem Nichts des lauen Meeres ein unerwartet kraftvoller Schwall Grün herangerollt. Und eine verfluchte Laune der Natur, ein verhaltenes Aufstoßen des Meeres am anderen Ende der Welt, löschte augenblicklich den kleinen, schwarzen Fleck des durchnässten Haarbüschels aus und riss im Zurückrollen die leichte Beute mühelos mit sich fort. 

In aufrichtigem Schrecken suchte Dr. Stern unruhig in den Farbwechseln der Wellen nach Halt. Dann begannen die immer noch angespannten Muskeln in Armen und Händen zu versagen, sie waren ihren Einsatz einfach nicht gewohnt. Ein kurzes Zittern, dann sackte er rückwärts auf seinem flachen Hintern zusammen. Höhnisch klatschte das kurz aus dem Takt geratene Wasser noch einen schwachen Beifall und wandte es sich wichtigeren Dingen zu. 

Und schlimmer noch: an Land bahnte sich ein heikler Moment seinen Weg, bald würde sich das Drama zu seiner unangenehmen Gänze entfalten. Denn zu Dr. Stern‘ Schauen in die Richtung des blinden Flecks im Wasser gesellten sich weitere Blicke. Die Köpfe der verbliebenen Familienmitglieder drehten sich mit steigender Wachsamkeit, Unruhe zog auf wie schlechtes Wetter, der dicke Vater und die schöne Mutter waren näherten sich schon, ihm und dem Wasser und dem entsetzlichen Begreifen.    

In einem letzten Anflug von Tatkraft tat Dr. Stern daher voller Rücksicht das, was sein Anstand ihm gebot. 

Mit ruhiger Bestimmtheit packten die noch leicht zitternden Hände rasch die Habseligkeiten des Strandausflugs in den offenen Bastkorb, das große Handtuch mit den Palmen in Falschfarben warf Dr. Stern über die Schulter, wobei viel Sand in Mund und Augen geriet, unangenehm, aber nicht von Dauer, er würde sich bald um das Brennen und Knirschen kümmern, oben, auf der Promenade, bei Damoklos und seinem akzeptablen Retsina, ein paar Austern würde er sich dazu bestellen, alles andere wäre ganz und gar unangebracht.  

„Kein guter Tag“, sagte Dr. Stern noch leise in die verbleibende Stille, während er nur langsam vorankam auf dem nachgiebigen, warmen Untergrund.

Im Augenwinkel dann noch:

Echter Tumult. 

Schöne Durcheinander.

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