26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Christina Sothmann

XT 500

Axel trägt jetzt Schnurrbart. Das sieht eigenartig aus, weil die meisten seiner Barthaare so weiß sind wie seine Haut und nur ein paar schwarze dazwischen wachsen – nicht wie graumeliert, sondern wie vergessen abzuwischen. Von einer charakteristischen Landmarke im unteren Gesichtsdrittel kann nicht die Rede sein; der Bart ist dünn, die einzelnen Haare stehen kreuz und quer. 

Er versucht, den Schnurrbart mit einer Nagelschere in Form zu bringen.

“Was soll das?”, frage ich und schaue ihn im Spiegel an. “Pornobalken” wird er sagen, mir zuzwinkern und heiser kichern. Selbstironisch soll das wirken, dabei klingen das Abgehängte und Einsame in der Heiserkeit überdeutlich nach. Mitleid sollte ich haben, aber ich bin nur froh, dass jeder sein eigenes Waschbecken im Elternbad hat. Selbst wenn er seinen Arm ganz weit in meine Richtung streckte, könnte er mein Waschabteil nicht berühren. Gar keine Gefahr also, dass eins dieser altersschwachen Härchen an meinem Becken kleben bleibt.

“Pornobalken”, sagt er, zwinkert mir über den Spiegel zu und kichert heiser. 

Ich schaue weg, reagiere nicht; das irritiert ihn schon länger, aber heute besonders. Ich hätte nicht fragen dürfen, es signalisiert zu viel Interesse.

“Ich … möchte einfach mal etwas Neues ausprobieren …”, sagt er und streicht sich zärtlich über den kahlen Schädel. “Da oben ist ja nichts mehr …”  

Sind wir also wieder so weit. Vorletzten Sommer hat er gesagt, er müsse sich neu erfinden. Sich abgrenzen von den gutsituierten älteren Männern der Nachbarschaft, die ihre faltigen Eier in den Gelsattel eines 5000-Euro-Rennrads pressten. Axel kaufte sich zum 65. eine XT 500. 

“Enduro, Yamaha”, erklärte er mir, die von Motorrädern keine Ahnung hat. “Die Kultmaschine meiner Generation.”

Ich nickte und winkte den vorbeiradelnden Nachbarn zu. Seine Generation hatte sich immerhin getraut, solche Dinger mit 21 zu fahren. Axel nicht. 

Er ließ sich eine Ledermontur aus scharlachrotem Nappa auf den Leib schneidern und stieg auf das hochbeinige Zweirad. Nur seine großen Zehen in den Spitzen der Cowboystiefel berührten den Boden und hielten ihn mitsamt der Maschine aufrecht. Dann brauste er davon, und ich fragte mich, welche Grenze er meinte.

Jetzt Schnurrbart. Symbol der Virilität – schaut her, so viel Mann unter dem Balken und in der Hose. Der traut sich was. Offen bleibt die Frage, für wen die Schnurrbartbotschaft bestimmt ist. Ich fürchte, es geht nicht darum, eine neue Frau an Land zu ziehen. Es geht nur um ihn. Sein Bild von sich als starker, als unangepasster Mann. 

Vielleicht geht es auch um mich. Sein Bild von mir als seiner Frau, von uns als Paar. Er, der 66 Jahre alte, der sich was traut. Ich, die 27 Jahre jüngere, die seit dem vergangenen Jahr mit allen Nachbarn im Bett war, nur nicht mit ihm. 

Ich muss diesen Mann loswerden; er hat längst die Grenze dessen überschritten, was ich ertragen kann. 

Jedes Mal, wenn er mit dem Motorrad vom Hof fuhr, betete ich, dass er nicht zurückkehrt. Aber er kam immer wieder. Auch nach dem Unfall – selbst verschuldet, überhöhte Geschwindigkeit, riskantes Überholmanöver, entgegenkommendes Fahrzeug mit Neuling am Steuer, Lenkrad rumgerissen, Baum, Fahrerin querschnittsgelähmt, XT Schrott, er – zwei Kratzer. 

“Was für ein Glück”, flüsterte er, drückte Emilia und mich fest an die zerfetzte rote Lederkluft und weinte auf unsere Haare. Er sei so dankbar, sein Leben sei ihm noch einmal geschenkt worden. Da musste ich auch weinen. Wegen mir. Und wegen Luzy. 

Luzy ist sein Opfer. 

“Ihr geht es doch heute besser als vorher”, hat er mir nach dem Prozess erklärt. Er habe sich da richtig reingehängt. Luzy war vor dem Unfall Azubi bei dm gewesen, verdiente 450 Euro netto im Monat und färbte ihre Haare rosa-blau. Jetzt hat sie drei Millionen von der Versicherung auf dem Konto, zwei nutzlose Beine und eine unkontrollierbare Blase. Das Rosablau sitzt noch in den Haarspitzen.

“Sie müsste sich mehr anstrengen in der Reha”, sagte Axel.

“Und sich besser ernähren. Da geht noch so viel.” 

Aus “seiner Schuld” hat er ein Buch gemacht; das erste seit über fünf Jahren. 

“Endlich”, sagte er und musste wieder weinen.

Das Manuskript ist fast fertig, gestern hab ich die letzten Seiten Korrektur gelesen und musste mich anschließend übergeben. Es wird wohl ein Bestseller werden. 

“Wir müssen reden”, sagt er und schaut mich über seine Espressotasse an. Der Schnurrbartschnitt ist etwas schief geraten, auf der linken Seite ist mehr Oberlippe zu sehen als auf der rechten.

“Worüber?”, sage ich, gieße mir einen Nescafé auf und gebe drei Löffel Zucker dazu. 

Er blickt erst auf meine Tasse, dann auf seine, schließlich in meine Augen. Schweigen – noch immer Therapeut. Ich schaue zurück.

“Über uns,” sagt er dann doch; er kann das Schweigen nicht aushalten.

“Kein Bedarf”, sage ich, schüttle den Kopf, nehme die Tasse und gehe hinaus.

Ständig möchte er reden: über mich, über unsere Beziehung, über unsere Tochter (die nicht seine ist, aber das weiß er nicht). Er glaubt an die Kraft der Kommunikation – muss er ja auch, immerhin haben ihm seine Bücher darüber eine Menge Geld eingebracht. Weil er mit lauter Frauen aufgewachsen ist, meint er, in der weiblichen Psyche zu Hause zu sein. Seit Kindertagen fühle er ein besonderes Bedürfnis, Frauen zu ihrer Entfaltung zu verhelfen. Steht in seinen Vorworten.

Wir haben uns in seinem Verlag kennengelernt, ich Praktikantin, er Bestsellerautor. Ich gestehe, ich war neugierig auf den Mann. Aus seinen Büchern konnte ich kein besonderes Verständnis für Frauen herauslesen; aber sie waren gut verpackt, gut vermarktet und enorm erfolgreich. Frauen wollen halt so was von verstanden werden, erst recht von Männern; dafür legen sie gern viel Geld auf den Tisch.

Ich will nicht verstanden werden. Es gab mal einen, der das versucht hat. Der sich in mich reindrückte und mir pausenlos ins Ohr flüsterte: “Ich weiß doch, was du willst!” Seitdem muss, wer mich verstehen will, sich auf einen Abgrund gefasst machen. Besser, es versucht erst gar keiner.

Verständnis habe ich bei Axel nicht gesucht, sondern einen Vater für mein ungeborenes Kind. Ein Hochstapler hätte mir gefallen, einer, der nur behauptet zu verstehen. Das Bild auf dem hinteren Umschlag war eher nichtssagend, aber die Verkaufszahlen sprachen für sich. Axel hielt sich für unwiderstehlich, das half enorm. Präsent sein, aber ihn ignorieren reichte schon. Dieselbe Strategie war zuvor bei dem jungen Popautor erfolgreich gewesen, der einen brillanten Erstling hingelegt hatte, aber von der unzuverlässigen Sorte war und als Vater seines und meines Kindes nicht in Frage kam. 

Zu meinem Bedauern war Axel kein Hochstapler. Er glaubte tatsächlich, was er von sich gab. Das war schlimm und ich enttäuscht, aber unter Zeitdruck. Und er … nun ja … nett. Keiner, vor dem mein Kind jemals Angst haben müsste. Ich auch nicht. Weshalb ich dachte, es sei eine gute Idee, ihn abzuschleppen und danach zum Vater meines Ungeborenen auszurufen. Axel sprach sofort von Scheidung, trotz der drei Kinder; mir ging das zu schnell, aber ich hatte keine Wahl. Geld war genug für uns alle da, und seine Frau hatte offenbar gar kein Problem damit, ihn ziehen zu lassen. Das hätte mich stutzig machen müssen.

Ich schiebe Luzy in ihrem Rollstuhl über den Rasen, hinüber zum Gartentisch in der Wildblumenwiese, wo ich zum Kaffee gedeckt habe. Das ist beschwerlich, denn Axel pflegt prinzipiell keine Rasen. Ich gehe ab und an selbst mit dem Mäher drüber, wenn ich gar nicht mehr durchkomme. 

Luzy sieht blass aus und irgendwie schlaff, wie sie da in ihrem Stuhl hängt. Bei jeder Unebenheit schaukelt sie hin und her wie eine lebensgroße Puppe. Als stecke auch oberhalb der Beine keine Körperspannung mehr in ihr. Ich richte den Rollstuhl am Tisch aus und setze mich ihr gegenüber.

“Wie ist die neue Wohnung?”, frage ich.

Luzy zuckt die Schultern: “Ne Wohnung halt.” 

Aus ihrer Bauchtasche zieht sie ein von ihrer Mutter selbst genähtes Futteral für Tabak und Blättchen. Sie fängt an zu drehen. Ihr rechter Zeige- und der Mittelfinger sind am obersten Gelenk gelb vom Rauchen. 

“Du drehst immer noch selbst?” frage ich.

Luzy wirft mir durch ihren Haarvorhang einen Blick zu.

“Muss eben sparen. Ich bin 20, sitz im Rollstuhl und trag Windeln. Wie lang reichen da drei Millionen? Früher konnte man ja noch von den Zinsen leben … auch alles vorbei.”

Luzy macht eine abschätzige Handbewegung, für die sie 40 Jahre zu jung ist. Aber sie kann rechnen und sie ist Realistin – das gefällt mir. Sie leckt das Papierchen an, dreht die Zigarette ein und zündet sie an – ihr Feuerzeug hat ein Diddlmaus-Motiv; ich wusste nicht, dass es die noch gibt. Ich hatte auch mal so eines, mit 12, als ich mit dem Rauchen anfing. Das habe ich geliebt. Luzy nimmt einen tiefen Zug, hustet, schüttelt die Haare aus dem Gesicht und schaut mich misstrauisch an.

“Was willst du von mir?”

“Dir ein Angebot machen”, sage ich. 

“Was tut sie hier?” 

Axel steht mit den Händen in den Taschen seiner Jogginghose am Fenster. Er kommt vom Tennis und riecht sauer. Luzy sitzt noch am Kaffeetisch; den Kuchen und die Kekse hat sie nicht angerührt, aber drei Tassen Nescafé mit Zucker getrunken und vierzehn Zigaretten geraucht. 

Ich setzte Wasser für neuen Kaffee auf und zucke mit den Schultern. 

“Keine Ahnung, sie stand einfach vor der Tür … “ 

Ich schaue hinüber und betrachte Luzy, sehr lange, schweigend.

“Was ist?”, sagt er und wirft mir einen Blick von der Seite zu. “Was denkst Du?”

Ich gieße den Kaffee auf.

“Häufchen Elend”, sage ich leise.

Axel nimmt eine Hand aus der Hosentasche und streicht sich fest über den Schnurrbart, als müsse er dort etwas bändigen. Er seufzt und mixt sich einen Gin Tonic. 

“Ich verstehe nicht, wie man sich so gehen lassen kann”, sagt er und trinkt. Das Schluckgeräusch ist sehr laut und sehr lang; es klingt eher wie ein Würgen. 

“Du bist der Therapeut”, sage ich. “Wenn du es nicht verstehst, wer dann?”

Axel überhört die Frage und zeigt mit dem Glas in der Hand nach draußen.

“Dabei hätte sie doch jetzt alle Möglichkeiten.”

Draußen langt Luzy über den Kaffeetisch und streckt sich nach der Gebäckschale. Sie kann sie nicht erreichen, lässt den Arm auf die Tischplatte fallen und legt ihren Oberkörper gleich dazu. 

Axel leert sein Glas in einem Zug. Er nimmt die Tennistasche und geht zur Treppe ins Obergeschoss.

“Wenn sie zu Deiner Buchpremiere kommt …” sage ich zu seinem Rücken. 

Axel dreht sich um und blickt mich scharf an. 

“Wer sagt, dass sie zur Buchpremiere kommt?”

Ich zucke mit den Schultern.

“Wär ne schöne PR … “

Axel lässt die Tasche fallen, kommt zurück zum Fenster und schaut hinaus zu Luzy. Sie liegt noch immer auf dem Tisch. Ich stelle die Becher mit frischem Nescafé aufs Tablett und will zurück in den Garten. Axel legt mir die Hand auf die Schulter; sie ist warm, und ich spüre seinen Blutdruck.

“Dafür brauche ich Deine Hilfe”, sagt er.

“Vergiss es! Das ist Deine Baustelle …,” sage ich und winde meine Schulter aus seiner Hand.

“Bitte!”

Ich schüttle den Kopf.

“Auf keinen Fall!”

“Stell dir vor, wie das Buch einschlagen würde … mit ihr”, sagt Axel. 

Ich zögere, wiege den Kopf hin und her, ziehe das “ich schau mal” noch ein bisschen hinaus, bis der zweite Gin Tonic geleert ist. Es soll sich anfühlen, als habe er einen Sieg errungen.

“Ich schau mal …”, sage ich.

Axel nimmt mir das Tablett ab und geht voraus in den Garten.

Veilchenblau lackierte Fußnägel. Weil Luzy nicht mit den Zehen wackeln kann, übernimmt das ihr Kopf.

“Dafür, dass sie schon tot sind, sehen sie ganz passabel aus, oder?”, sagt sie, hebt ihre Beine eins nach dem anderen auf das Trittbrett des Rollstuhls und richtet die Füße aus. Ich nicke und bezahle die Pediküre. Luzy zupft den kurzen Rock des Blümchenkleids zurecht. Ich helfe ihr in die Highheels; sie hat darauf bestanden, für meinen Geschmack zu viel des Guten, aber es ist ihre erste Buchpremiere. Sie richtet den Oberkörper auf, den Kopf wie an einem goldenen Faden nach oben gezogen – das verleiht dem Körper Spannung. Luzy weiß das jetzt auch, wir haben lange mit ihr trainiert – ihr Physiotherapeut Sandro und ich. Sie betrachtet sich im Spiegel. Sie sieht wohl aus, sie lächelt sogar.

“Wenn ich jetzt noch auf den Scheißdingern durch den Raum stolzieren könnte, wär’s perfekt”, sagt sie. Das Lächeln verschwindet, der Faden gibt nach und sie sackt im Sitz zusammen.

“Dann wärst du nicht hier”, sage ich und löse die Bremse. 

Luzy nickt, seufzt und setzt sich wieder etwas aufrechter. 

“Hast du auch wieder recht.”

Sie zieht aus ihrem Tabaksbeutel eine Vorgedrehte und zündet sie an, als wir auf der Straße sind. Bis zum Hotel sind es nur ein paar Schritte, aber es ist kalt und ich möchte ihr eine Decke über die Beine legen.

“Spinnst Du? Das sieht doch voll behindert aus!”, sagt Luzy.

 Vor der Lobby bleibe ich stehen.

“Bereit?”, frage ich.

Sie schaut mich zweifelnd an.

“Kein Sex, wenn ich nicht will. Oder?”

“Nein”, sage ich. “Du muss überhaupt nichts tun, was du nicht willst. Ehrenwort!”

Ich bringe sie in den großen Saal, den Mittelgang entlang – links und rechts lauter Zuschauer. “Wie eine Braut”, denke ich und schiebe sie vor bis zur Bühne. Oben steht Axel. Er hat den Schnurrbart dunkel gefärbt, ist schwarz und schlank gekleidet. Markant alles in allem. Elastisch kommt er die Treppen herunter und hebt Luzy mit einer fließenden Bewegung aus dem Rollstuhl. Er trägt sie die Bühne hinauf und platziert sie neben sich auf dem Podium. Applaus brandet auf, die Zuschauerinnen in den ersten Reihen müssen schon weinen. Luzy strahlt. Axel legt die Hände vor der Brust aneinander und wirft mir ein stummes “Danke!” zu. Mir wird übel, und ich weiß nicht, ob Axel schuld ist oder der Fötus, Sandros und meiner, der sich tief in meinen Unterleib kuschelt. 

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so gut geschlafen habe. Axels Bett ist unberührt. Ich strecke mich, wühle mich genussvoll durch beide Betten, genieße meinen Raum, bis ich ihn auf dem Balkon entdecke. Er sitzt in der warmen Morgensonne und auf seinen Wangen glänzen Tränen. Er dreht sich zu mir um und betrachtet mich traurig. Sein Gesicht ist nackt, der Schnurrbart ist ab.

Ich stehe auf und gehe zu ihm.

“Was ist?”

“Es tut mir so leid”, sagt er und vergräbt sein glattrasiertes Gesicht in den Händen.

“Was?”

“Ich habe mich verliebt”, sagt er.

Ich schaue ihn an, zurückhaltend, aber wohlwollend. 

“Das kann passieren”, sage ich.

Er nimmt meine Hand und drückt sie. “Du bist so …” 

Ich streichle ihm über die Wange.

“Ich weiß”, sage ich und drehe mich um. Die Taschen sind schon gepackt. Er wird uns gut versorgen. 

Luzys Wohnung ist nicht übel; nur Emilia fühlt sich hier nicht wohl. Aber sie kommt auch nur jedes zweite Wochenende. Sie wollte bei ihrem “Papa”, in ihrer Umgebung bleiben – Ironie des Schicksals nennt man das wohl. Sie hat das Schreiben für sich entdeckt und fühlt sich Axel daher näher als mir. Das tut sehr weh, aber ich gebe ihr Zeit. Wenn das Baby erst einmal da ist und Luzy das verabredete Jahr abgesessen hat, wird Emilia zu mir ziehen. Ich habe auch wieder Kontakt zum Popautor aufgenommen. Für alle Fälle. 

Share on TumblrEmail this to someoneShare on StumbleUponPin on PinterestShare on Facebook
Leave A Comment