26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Marion Zechner

Dings

Kurz vor zehn. Hella setzte sich aufs Bett und schlang die Arme um die Knie, wie so oft in den vergangenen zwei Jahren. Zuerst war sie sich sicher gewesen, dass Dings freiwillig zurückweichen würde vor diesem täglichen Pulk von weißen Kitteln mit ihren flüssig gewordenen Fremdwörtern, die Tag für Tag in ihre Venen tropften. Doch das einzige, was geschrumpft war, war die Hoffnung. Inzwischen war sie sich sicher, dass die weißen Kittel und die Fremdwörterschwemme ausschließlich dem Zweck dienten, die dahinterliegende Ratlosigkeit zu verbergen. Die Schritte kamen näher, die Tür öffnete sich. 

„Frau Sauer, guten Morgen.“

Dr. Berger an der Front. Sein Lächeln tat noch immer gut, auch wenn Dings sich nicht davon beeindrucken ließ. Sein Gesicht verschwand hinter der Akte. Als es wieder auftauchte, war das Lächeln verschwunden.

„Tja, nun.“

Hella hätte ihm gern gesagt, dass er sich nicht mehr anzustrengen brauchte.

„Ihre Leukos wollen immer noch nicht so, wie wir das gern hätten. Wir werden morgen eine neue Chemo beginnen.“

„Einverstanden.“

Dr. Berger schaute ratlos in die Runde. Offenbar hatten sie mehr Zeit für die Überzeugungsarbeit eingeplant und wussten nichts mit den geschenkten Minuten anzufangen.

„Ich würde aber gern noch einen Spaziergang machen bevor es losgeht“, sagte Hella und konzentrierte sich auf die durchgewetzte Stelle in ihrer rechten Socke. Dr. Berger zögerte. 

„Gut. Die Praktikantin wird Sie aber begleiten. Falls sie einen Schwächeanfall bekommen.“

Hella dachte an die Praktikantinnen in der Firma. Kaffee kochen, Telefonate notieren, Klappe halten. Jeder musste wissen, wo sein Platz war. Und wo nicht mehr. 

„Geh’n wir?“, fragte das Mädchen und ließ den blonden Pferdeschwanz wippen. Sie roch frisch und lebendig, und Hella fragte sich, ob man sich besonders gut oder besonders schlecht vorkam, in so einer Umgebung so zu riechen. 

Sie selbst war bereits außer Atem, als sie die Eingangshalle erreichten. Seit der Kündigung hatte es keinen Anlass gegeben, ihre Kondition zu trainieren. Personaleinsparungen, reiner Zufall, dass es sie erwischt hatte. „Frau Sauer, was denken Sie!? Wir haben großen Respekt vor Ihrem Engagement für die Firma. Aber die Geschäftsführung muss eben leider auch unangenehme Entscheidungen treffen.“ Mit Dings hatte das nichts zu tun, natürlich nicht. Höchstens mit dem, was Dings aus ihr gemacht hatte. Dass man außen sah, was innen nicht stimmte. Außen pfui, innen pfui. 

Jetzt keuchte „Pfui“ neben dem Pferdeschwanzmädchen her und der Schweiß lief schamlos aus allen verfügbaren Ritzen, solange er noch konnte. Der Eingang sah aus wie ein gläsernes Maul, das unablässig Menschen ein- und ausatmete. Auch für Hella schob die Tür sich auseinander, als sie in den Lichtschrankenbereich trat. Noch hatte ihr Leben hatte Gewicht. 

Sie überquerten den Parkplatz. Der Springbrunnen im Vorhof plätscherte gewissenhaft, während in den Gebäudetrakten um ihn herum echtes Leben durch künstliches ersetzt wurde. Die Gesunden erkannte man an den weißen Kitteln und den Blumensträußen und an ihren Beteuerungen, dass so ein künstlicher Darmausgang dem Original doch gar nicht in so viel nachstand, und wie wunderbar die Perücke das markante Gesicht betonte. Wenn man sich weigerte, das zu glauben – solange der Kopf noch nicht befallen befallen war – riss auch den sogenannten Gesunden der Geduldsfaden. Und sie taten, was auch Hella an ihrer Stelle getan hätte: Sie blieben weg.

Als sie das Klinikgelände hinter sich gelassen hatten, wurde es ruhiger. Keine Autos, keine Menschen. Das Pferdeschwanzmädchen ging dicht neben Hella. Nichtssagend, wie es sich für eine Praktikantin gehörte. Hella spürte das Pieken der Kiesel unter den dünnen Sohlen ihrer Ballerinas. Ja, Ballerinas. Zwei pinke lederne Farbtupfen Würde, die auch Dings ihr nicht nehmen würde. In den Vorgärten schnäbelten Magnolienblüten aus prallen Köpfen. Ob sie immer noch so großspurig ins Leben drängen würden, wenn sie schon wüssten, dass in wenigen Tagen nichts von ihren übrig sein würde als ein bräunlicher Schnabelsalat unter einem Baumgerippe. Oder würden sie sich ihre Kraft besser einteilen, wenn sie wüssten, wie begrenzt sie war? Und sie selbst? Wäre sie früher zum Arzt gegangen, wenn sie geahnt hätte, was hinter den Rückenschmerzen steckte? Oder erst recht nicht. Hätte sie von sich aus gekündigt? Zwei Jahre Chemo und Siechen getauscht gegen zwei Monate Abenteuer, die man nur eingeht, wenn man nichts mehr zu verlieren hat? Voller Dinge, die sie schon immer mal machen wollte aber nie Zeit dafür hatte? Doch beim Versuch, diese Dinge zu konkretisieren, fiel ihr nichts ein. Hätte sie den Sprung ins Ungewisse bereits viel viel früher wagen müssen, und vor allem: in die andere Richtung – ins Leben hinein statt heraus? War sie – ohne es selbst zu bemerken – längst zerfallen unter diesem Korsett aus Morgenroutine, Arbeit, Abendroutine und ein bisschen Schlaf, ein Korsett, das sie sich selbst über die Jahre immer enger geschnürt hatte? Jetzt war es zu spät. Dings hatte eine Entscheidung gefällt, und den einzigen Triumph, den sie noch erreichen konnte war, Dings zuvorzukommen. Seit sie nicht mehr ins Büro fuhr, hatten plötzlich das Leben und die Zeit die Rollen getauscht. Zuvor hatte der Tag nie gereicht für all die Termine, die sie hineinzuquetschen versucht hatte. Und plötzlich reichte ihr Alltag nicht einmal mehr, um die Zeit bis zum Frühstück zu füllen, so dass sie dankbar war für jede Minute, die sie bei einem Arztbesuch aufgeräumt im Wartezimmer verbringen durfte. 

Die Straßen wurden enger, die Gassen rollten sich zu schmaler werdenden Streifen aus und ließen Hella in ihr Schicksal laufen. Es war tröstlich, etwas aus freiem Willen zu tun. Auch wenn es vielleicht falsch war. Aber was war die Alternative? Sich vom Pferdeschwanzmädchen zurück in die Klinik bringen zu lassen; sich ins Bett zu legen; zuzusehen, wie das Gift in die Venen tropfte; sich über die Kloschüssel hängen bis zum bitteren Ende, wenn weder Kaugummi noch Kamillentee dem Gallengeschmack etwas anhaben konnten. Und dann? Den Sinnen beim Taubwerden lauschen und Dings ungestört fressen lassen? 

„Warum machen Sie das?“, fragte Hella.

„Was?“

„Leute wie mich bewachen, damit ihnen auf den letzten Metern nichts zustößt.“

Das Mädchen streifte sich den Pony aus dem Gesicht. 

„Gehören Sie zu diesen jungen Idealisten, die die Welt retten wollen?“

Das Mädchen ließ den Pony los, der ihr sofort wieder ins Gesicht wehte. Der Wind hatte offenbar Gefallen an dem Spiel gefunden. Bei Hella gab es nichts zu Spielen. Oma Gerdas Seidentuch saß fest und verlässlich auf dem kahlen Schädel, und der Wind versuchte es gar nicht erst.

Sie erreichten die Lichtung. Hella spürte die Erschöpfung, diese unheimliche Kälte, die aus dem Inneren ihrer Knochen kroch und sich langsam in ihrem Körper ausbreitete, so dass sie trotz der Wärme zu schlottern begann. Nicht mehr weit. 

„Haben Sie Fieber?“, fragte das Mädchen. „Vielleicht sollten wir lieber langsam zurück.“

„Ich würde mich gern einen Moment ausruhen. Da vorn.“

Als sie den Felsabhang erreichten, ließ Hella sich ins Gras sinken. 

„Könnten Sie mich einen Augenblick allein lassen?“

Die Praktikantin machte keine Anstalten, im Gegenteil. Sie setzte sich neben Hella und schaute hinunter.

„Ganz schön tief!“

Der Wind trug Weidensamen durch die Luft. Schwerelos. Wie es sich wohl anfühlte – Nichts zu sein. Hella sah ihren Körper dort unten zerbersten wie ein loser Erdklumpen. Sie betastete ihren Hinterkopf.

„Hier“, sagte das Mädchen, und reichte Hella ihre Strickjacke.

„Haben Sie ein Helfersyndrom?“, fragte Hella.

Das Mädchen beließ es beim Lächeln und legte ihr die Jacke um die knochigen Schultern.

„Warum sind Sie so?“, fragte das Mädchen. 

Hella schaute überrascht auf. Normalerweise machte Dings einen für Nichtmediziner unantastbar – nichts fragen, nicht zu nahe treten, nichts kaputt machen. Menschlich wurde man in Ruhe gelassen, zum Ausgleich gehörte man körperlich der Wissenschaft.

„Wie?“

Sie fuhr mit den Fingern unter das Tuch. Die Stoppeln fingen gerade wieder an zu sprießen.

„Na, so eben. Verbittert.“ 

„Bei uns heißt das zielstrebig“, sagte Hella. 

„Auch so eine Gegend, wo Burn-out ein Kompliment ist?“

„Wieso auch?“

Aber die Praktikantin spielte nur mit ihren Haaren.

„Meine Großmutter hat zehn Stunden am Tag in einer Näherei gearbeitet“, sagte Hella. „Auch samstags. Hätte sie es in der Hand gehabt, hätte sie die Sieben-Tage-Woche eingeführt.“

„Wer arbeitet, kommt nicht auf dumme Gedanken?“

„So ist es. Zum Glück hatte sie ihren Gottesdienst, mit dem sie den Sonntag überbrücken konnte.“

„Wussten Sie, dass es in Japan Kliniken gibt, die auf Arbeitssucht spezialisiert sind? Es gibt sogar ein Wort für den plötzlichen Tod durch Überarbeitung: Karoshi.“

Wenn man drin ist in der Maschinerie … dachte Hella. 

„Man wird an seiner Leistung gemessen“, fuhr das Mädchen fort, „und irgendwann misst man sich selbst daran. Und fühlt sich wertlos, wenn man die Leistung nicht mehr bringt.“

„Na“, sagte Hella, „da ist ein Medizinstudium ja genau das Richtige.“

„Gott bewahre!“, lachte die Praktikantin. Ihre Perlmuttzähne glänzten. „Ich werde Krankenschwester.“

Noch schlimmer, dachte Hella.

„Wie ging es weiter, mit Ihrer Großmutter?“, fragte das Mädchen. 

„Ich war 19, als sie krank wurde. Ich habe neben dem Studium gejobbt, damit wir die beste Behandlung für sie kriegen. Ich hatte mich sogar über alternative Methoden informiert, Akupunktur und solchen Schnickschnack. Aber sie wollte das alles nicht.“

Eine Weile war es still.

„Ich verstehe ihre Großmutter“, sagte das Mädchen.

Und Hella: „Was sie nicht sagen.“

„Klar. Oder würden Sie sich auf einen Teenager verlassen, wenn Sie einen Allmächtigen haben können?“ 

„So gesehen …“, sagte Hella. „Allerdings hat er ihr auch nicht mehr viel Zeit gelassen, sich um zu entscheiden. Drei Monate nach der Diagnose war sie tot. Das gesparte Geld habe ich in ihren Grabstein investiert.“

In der Sonne sah der Felsen aus wie hingemalt. Als ob der Ort ahnte, dass es ein besonderer Tag war. Hella lächelte. Kitschalarm auf dem Endspurt.

„Haben Sie schon mal jemanden sterben sehen?“

Die Augenbrauen der Praktikantin schoben sich unter den Pony. Der Wind hatte aufgehört, damit zu spielen.

„In Ihrem Praktikum werden Sie doch reichlich Gelegenheit haben.“

Das Mädchen stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Kinn in die Hände.

„Meine Mutter“, sagte sie. Hella drehte den Zipfel von Oma Gerdas Tuch um den Finger und machte ein beiläufiges Gesicht. Sie war hier nicht diejenige, die man mit dem Tod erschrecken konnte.

„Ein Unfall?“, fragte sie. Das Mädchen schaute ihr unverwandt in die Augen. Sie stieß mit dem Fuß gegen einen Stock. Er schlug dreimal gegen einen hervorstehenden Felsen, bevor er liegen blieb. 

Hellas Lippe schmeckte blutig. 

„Ich war gerade beim Frühstück, als der Anruf kam“, sagte das Mädchen. „Nachdem ich aufgelegt hatte, habe ich weitergemacht, als wäre nichts gewesen. Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, wieso das Müsli so staubig schmeckt. Erst als die Schüssel leer war, habe ich gemerkt, dass ich die Milch vergessen hatte.“

Sie saß da, in Sonne getaucht, der Schatten zeichnete die Grenze zwischen ihr und Hella. Die Sonne berührte jetzt auch Hellas Hand, unter der sich die Adern abzeichneten.

„Wenn der Rucksack zu schwer wird … “, sagte Hella, „ … sehnt man sich danach, ihn einfach abzulegen.“

„Aber deshalb gleich sterben?“

Das Mädchen betrachtete ein Wolkengebilde. 

„Außerdem … was, wenn der Tod gar keine Erlösung ist? Wenn er einfach eine Fortsetzung des Irdischen ist, nur ohne Körper …“

Nein, dachte Hella. Das stelle ich mir nicht vor. Der Wind hatte vollständig aufgehört. Das Mädchen lächelte. 

„Kennen Sie diese Luftballons, die es auf Jahrmärkten gibt, aber die man von den Eltern nie bekommt, weil sie so unverschämt teuer sind?“

„Diese albernen Einhörner und Mickey Mäuse?“

„Bei mir war es ein Schmetterling. Meine Tante hat ihn mir gekauft. Auf dem Heimweg an der Haltestelle ist ein Mann mit seiner Zigarette dran gekommen.“

Hella wartete. 

„Ich war eine Woche lang untröstlich. Aber trotzdem bin ich froh, ihn gehabt zu haben. Verstehen Sie?“

Hella schüttelte den Kopf. Aber ihr war sonderbar zumute, so, als ob ein Teil von ihr etwas ganz genau verstanden hätte, wogegen ein anderer sich mit aller Kraft wehrte.

„Das Leben hat so viel Schönes zu bieten“, sagte die Praktikantin. „Und es gibt so Vieles, das ich gerne mit meiner Mutter gemeinsam erlebt hätte. In einem Wasserfall baden, zum Beispiel.“

„Vielleicht gehen wir doch zurück?“, sagte Hella, aber in den Augen des Mädchens blitzte etwas auf.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.“

Sie sprang auf, reichte Hella die Hand. Mühsam raffte Hella sich auf und gab sich Mühe, der Praktikantin zu folgen, die es plötzlich sehr eilig hatte. Sie bogen in einen kleinen Waldpfad ein. Hier war Hella nie weiter gegangen, aus Sorge, dass ihre Kraft für den Rückweg nicht reichen würde. Aber …

„Ein Wasserfall!“

„Toll, was?!“, sagte das Mädchen. „Kommen Sie, wir gehen rein!“

Hella beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sie ihre Bluse über den Kopf streifte … dann die Jeans auszog.

„Sie meinen doch nicht … nackt?“

Doch das Mädchen hatte BH und Unterhose schon zu ihrer restlichen Kleidung geworfen und war bereits bis zu den Knien im Wasser. Wie eine Fee, dachte Hella. Wenn ich diesen Körper hätte, würde ich auchwenn … wenn .. wenn. Schon immer hatte ihr Leben aus so vielen wenn bestanden. Und jetzt auch der Abschied. Wenn die Schmerzen nicht wären. Wenn die Scham nicht wäre. Die Praktikantin kannte keine Scham. Eine angehende Krankenschwester, dachte Hella, die sich neben einer Patientin splitternackt auszieht. Wenn das jemand erfährt, ist sie ihre Stelle los. Sie zog die Schuhe aus, und die Socken. Das Wasser glitzerte. Die kalten Zehen berührten die Oberfläche. Sie schauderte. Die Härchen stellten sich auf. Ihr Gesicht glühte. Die Sonne glitzerte auf dem herabfallenden Wasser. Das Mädchen tauchte hervor wie hinter einem Vorhang. Ihr Haar war jetzt dunkler und sah schwer aus

„Saukalt!“, rief sie und winkte. „Aber schön!“

„Kommen Sie! Rein mit Ihnen.“ 

„Ich weiß nicht“, murmelte Hella.

Wenn man schwimmen könnte, vielleicht. Noch etwas, das du verpasst hast.

„Kommen Sie! Seien Sie selbst der Rucksack. Lassen Sie sich vom Leben tragen. Ist nicht tief. “

Hella zögerte. Nackt. Mit diesem Körper. Aber wann, wenn nicht jetzt.

Schwimmen. Niemand durfte sterben, ohne schwimmen zu können. Schwimmen war plötzlich das Wichtigste auf der Welt.

„Gut“, sagte Hella. „Dann komme ich eben.“

Behutsam watete sie in Richtung Wasserfall. 

„Großartig, oder?“, lachte die Praktikantin mit bebenden Lippen und warf die nassen Haare nach hinten. 

„Ja, großartig.“ 

Hella versuchte nicht, das Klappern ihrer Zähne zu unterdrücken.

Als wäre ich eine andere, dachte sie. Als wäre ich endlich die, die ich bin.

„Wir sollten zurück.“, sagte das Mädchen. „Bevor sich noch jemand Sorgen macht.“

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