26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN
Julian Affeld
SAMMELN UND VERSTREUEN
Ich betrete die Sperrzone; SONA WIDTSCHUSCHENNJA, Zone der Entfremdung. Ich habe keine Papiere, bei mir nur eine mir leuchtende Vergangenheit. Ich komme unter den Bäumen hervor, zwischen den dürren Ästen hatte ich es schon gesehen: Weideland, zerzaustes, fahles Gras, ein Stück Holzzaun, Backsteinruinen, die, wer weiß, schon Ruinen waren damals, und also meine Vergangenheit nicht berühren; in ihrer eigenen Vergangenheit stille stehen, nein: die ganz aufgehn in ihr. Ein kalter Wind geht, hinten, am Ende der Weide, rauschen die Birken; es müsste pfeifen in den Ruinen, doch es sind bloße Umrisse von Häusern, zu flache Mauern, als dass der Wind sich darin verfangen könnte.
Ich gehe in die Hocke, strecke die Hand aus; und zögere; bin sicher für einen Augenblick, ein Sakrileg zu begehen; und packe dann ein Büschel langhaarigen Grases, und reiß es aus mit einem Ruck. Nichts geschieht.
Im Wäldchen komme ich an einem Schild vorbei, das an einer rostigen Eisenstange befestigt in der Erde steckt: rot umrandetes Dreieck, darauf das rote Flügelrad auf gelbem Grund. Wenn man die Augen zusammenkneift, könnte man ein Gesicht sehen, mit den oberen Flügeln als böse zusammengezogene Augen, dem unteren Flügel wie ein zum Schreien aufgerissener Mund.
In Steschchina treffe ich Ulyana und Wadim; sie wohnen noch im alten Dorf, und haben keine Geschichten zu erzählen. Wo sie sind, da steht es still. Niemand kommt sie stören außer von Zeit ein Strahlenforscher, sich zu wundern über diese nicht totzukriegenden Gespenster in den geisterhaften Weilern, in denen die Grenzwerte doch längst überschritten sind. Beide sind sie über achtzig, und rasch nach der Evakuierung sind sie zurückgekommen; auch mich fragen sie, ob ich ein Strahlenforscher bin, was ich bejahe, und lüge nicht: greife ich doch alle Augenblicke nach meinem gelben Geigerzähler aus dem Baumarkt, und lese auf dem Display die derzeitige Sievert-Zahl: 5 Mikrosievert in der Stunde. Hier kein Punkt, an dem die Strahlung sich bündelt, um die heimzusuchen, die unwissend sind, hoch genug jedoch, um den Strahlenforschern Kopfzerbrechen zu bereiten, warum Wadim stolz noch auf seiner Straße steht, in der Hand ein Glas mit eingeweckten Pilzen, die im Wald zu tausenden wachsen, und es mir überreicht für meinen Weg: es ist, weil er geblieben ist, sagt er, er und Ulyana: ihre Körper haben sich versöhnt mit der Strahlung, alle anderen, die er kannte, die gegangen sind, sind längst tot. Lange noch sehe ich das Glas mit Pilzen an, Zauberpilze, ehe ich es im Rucksack verstaue und die Straße hinuntergehe; Wadim und Ulyana weinen: ich bin der einzige, den sie gesehen haben in diesem Jahr.
In Vilkowa haben sie gewohnt, meine Eltern. In Prypjat davor. An beiden Orten waren sie zuhaus, wie sie sagten; danach wohnten wir in Gorki, in Kowel, in Drushnaja und nirgends mehr waren wir zuhaus. Ich habe gesucht: im Gedränge des Newski-Prospekt in Petersburg, im Himmel das nimmerstillstehende Pepsi-Zeichen, das sich wie ein Auge in jede Richtung dreht, und immer vergeht, vergeht, vergeht die Zeit. Auch in Warschau hab ich nachgespürt: aber der Palast der Republik, der kein Wahrzeichen mehr ist eben dieser Republik, will immer sich behaupten jetzt, doch bleibt aus der Zeit gefallen. Nur wenn ich in der Altstadt und an der Stadtmauer entlangging kam etwas auf wie Zeitlosigkeit, ein Wimpernschlag lang nur, dann sah ich, wie fein herausgeputzt die vermeintlich alten Steine waren, und mir wurde klar: kein Stein hier blieb auf dem anderen; und wieder war ich uneins, war nicht hier und nicht dort.
Narodichi kann man betreten, ohne die Papiere vorzuzeigen; es reicht nicht ganz in die Zone der Entfremdung hinein; Und doch ist es nicht sicher, heißt es; ein unsichtbarer, übler Einfluss liegt auf dem Land; die Kinder seien einen Zentimeter kleiner als im Landesdurchschnitt; ein unsichtbares Leuchten hält sie fest an einem Grenzwert, den ihre in die Höhe schießenden Körper nicht überschreiten sollen; etwas wie ein Innehalten, eine Ruhe liegt darin, die nicht zu finden ist sonstwo. Die Jahresringe der gefällten Bäume ändern die Farbe: in sie ist das Überschreiten der Grenze mit aller Klarheit eingeschrieben: vom ersten Baumjahr an bis 1986 sind sie hell, fast weiß; dann dunkel, ganz wie morsches Holz; bildet der Strahlengürtel um das Jahr 1986 herum in ihnen einen Kern unveränderlicher Jugend? In der Milch, die heiß aus den Kuheutern schießt, seien Cäsium und Strontium gefunden worden, nicht so viel, dass der Grenzwert überschritten sei, aber trinken sollte dennoch niemand davon. Und ein wohliges Unbehagen, die Gespanntheit der Erwartung eines verheißungsvollen Unglücks erfüllt mich ganz in diesem Land. Selbst die Worte CÄSIUM, STRONTIUM scheinen mir wie Zauberworte, die man nicht am falschen Ort und nicht zu laut sprechen darf, um keine Plage auf sich zu ziehen. Doch sollte dann das Gegenteil nicht ebenfalls, zumindest als bloße Möglichkeit anerkannt werden: dass, gesprochen am richtigen Ort zu rechten Zeit, im leisen, doch unerschütterlich gläubigen Ton, die Worte und alle Dinge sich umkehren, sich offenbaren?
In Vilkowa gehe ich an den zerfallenden Gebäuden vorüber, in denen die Alten wohnen, nachdem sie wie Wadim und Ulyana zurückgekehrt sind; dann eine Überraschung, die mich einen Moment zu Tränen rührt, als sei etwas mit meinem Körper nicht ganz in Ordnung, als gehe blitzartig eine Veränderung mit ihm vor, ein Dammbruch. War ich doch schon wieder traurig geworden und hatte nachgegrübelt über meine kleinen Räume, in Warschau, in Petersburg, in denen die Fenster klirrten vom gewaltsamen Fort-und-Fort-Rattern der Straßenbahnen, und wie fest ich mir auch die Ohren zuhielt, immer hörte ich sie, betrunkene Rufe von der Straße, die blechern gedämpfte, unerträgliche Musik hinter den Wänden, und sah, selbst hinter geschlossenen Augen: das blaue, spastisch-zuckende Licht der Fernsehapparate hinter den Gardinen. Doch in diesem einen Augenblick komm ich zur Ruhe, bleibe stehen und schaue: unter den Alten seh ich drei junge Menschen, eine vielleicht vierzig, die anderen Jugendliche, eine Mutter mit ihren Töchtern, die Äpfel auf ihrer Veranda essen, ja, ihrer Veranda, obwohl es genauso gut das Haus meiner Eltern sein könnte, das sie verlassen mussten. Ich bin ihnen nicht böse. Freuen will ich mich, dass sie so sorglos beißen in die blässlichen, fahlgrünen Äpfel, ohne sich vor ihrer einschläfernden Wirkung zu fürchten; und haben ganz recht damit, denn alles hängt ab vom Augenblick, von der Abfolge der Gesten, den richtigen und den falschen Worten, von Gemessenheit, Ruhe und Bedachtsamkeit; ich bin zu zerstreut in diesem Augenblick und müsste mich erst aufsammeln, als dass ich gefahrlos mit ihnen Äpfel essen könnte; ein Grenzwert würde überschritten, und dann gäb es kein zurück: und die Verwandlung würde vorgehen, zu früh und zu spät zugleich, die Haare fielen aus und auch die Zähne, und verhutzelt bliebe ein Männchen zurück, das sich auf den falschen Handel eingelassen hat. Bei ihrem Anblick muss ich an die Straßenbahn von Prypjat denken, die nie dröhnte oder ratterte, sondern leise und vertraut brummte; doch war ich eigentlich schon da zu der Zeit, als meine Eltern noch in Prypjat wohnten?
Sie lassen mich in ihr Haus ein, und ich versuche mich zu erinnern: diese gelbe Tapete, die sich von den Wänden schält, hat es sie früher, 1986 schon gegeben? Schwer zu sagen; ich war 3 Jahre damals, und Fotos kenn ich keine; dieser Sessel, dieser alte Röhrenfernseher, kaputt, wie Irina, die Mutter, sagt, die Lampe auf der Kommode, mit dem Sockel aus Bakelit – gehörte das alles einmal uns? Sei es, wie es will; jetzt gehört es zu Irina, Lesja und Slava, die, anders als die Alten, nicht dageblieben, sondern dazu gekommen sind, die Zone zu bevölkern. Irina lächelt mich von unten herauf an, als wolle sie mich in ein Geheimnis einweihen, öffnet die Tür zum Schlafzimmer – und da liegt ein Dreijähriges auf dem Bett, auch ihr Name ist Irina; ich trete ans Bettende und sehe hinab zu ihr: auf der gemusterten Decke hingestreckt, den Blick zur Seite gewandt, mich nicht beachtend, sieht das kleine Mädchen aus wie auf einem Heiligenbild; in den Händen hält es die Milchflasche und saugt mit entrücktem Blick; ich hole den Geigerzähler hervor und lese die Sievert-Zahl: 10 Mikrosievert in der Stunde, ein Strahlenforscher würde sich schon nicht mehr blicken lassen; doch wir glauben, liebe Irina; wir bleiben an Ort und Stelle; nichts kann uns auseinanderreißen, lösen vom Platz, den wir Heimat nennen, du genauso wie ich; trinke, trinke nur deine Milch. Sie hat Zauberkräfte.
In Narodichi treffe ich Kyrylo; er schleicht sich häufig in die Stadt Prypjat, um sie nach Wertvollem zu durchstöbern; er berichtet mir von den Schwierigkeiten seines Lebens, seiner kranken Tochter und den vier anderen Kindern, die er durchbringen muss irgendwie; sie sind nicht in der Zone, und alles und alle draußen sind mir entfremdet, und es stört das Bild von ihm, das ich mir längst gemacht habe: eines fahrenden Abenteurers, der im verwunschenen Land keine Sekunde Angst hat vor unsichtbaren Flüchen.
Er stimmt zu, mich in die Stadt zu bringen, vorbei an den offiziellen Stellen und jenseits der Touristenpfade; ich möchte nicht um Erlaubnis bitten, um eingelassen zu werden in meine Stadt; ich will nur wissen, welches Zauberwort ich sprechen muss zur rechten Zeit. Am frühen Abend gehen wir; unter den Bäumen kommen wir hervor und in der Ferne sehe ich sie, die Neubaubauten von Prypjat, und Kyrylo erzählt von den Städten, die er sehen will in seinem Leben, und voller Begeisterung, die offenen Hände ausgebreitet zählt er alles auf: die Reichstagskuppel, Friedrichstraße und Unter den Linden; Eifelturm, Arc de Triomphe, Champs-Élysées; Picadilly, Buckingham Palace, Big Ben. Und ich bin hin und hergerissen zwischen untergründigem Zorn über dies dumme Gerede, – weiß er denn nicht, dass es diese Orte im Grunde lang schon nicht mehr gibt!-, und einer schweren Traurigkeit darüber, wonach sich solche sehnen, die doch hier sind, im Bannkreis der Zone, doch nicht gebannt sind wie ich von dem, was darinnen liegt.
Auf der Straße Vulytsja Lesi Ukrajinky stehe ich; am Straßenrand und aus Rissen im Asphalt brechen wild Bäumchen und Sträucher hervor; wie eine vergangene und künftige Prachtallee säumen und umfangen sie sie. Kyrylo ist in einem der Gebäude verschwunden, ich hatte nicht mit gewollt, ich will nicht dabei zusehen, wie er den Ort nach etwas absucht, was er draußen zu Geld machen kann; als würde man Grasbüschel herausrupfen in einem verbotenen Garten. die Sonne geht unter über den flachen Dächern; mein Blick schwebt, ohne es sehen zu können, zum eisernen Herzen meiner Reise. Da hinten, weiß ich, ist das Kraftwerk begraben, schlummert und brütet doch weiter, hat Wurzeln geschlagen in diesem Land, hat es in Besitz genommen, den Menschen abgetrotzt und den Przewalski-Pferden überlassen, die es in seinem Strahlengürtel beschützt hält. Kyrylo kommt aus dem Wohnhaus; mit aufgescheuchtem Ausdruck packt er mich am Arm und will mich mit sich ziehen, es sei nicht sicher hier im Dunklen, doch ich lach ihm ins Gesicht, schlag dann zu, stoß ihn von mir. Er lässt meinen Arm los, sieht mich an, als sei ich verrückt; und läuft davon in Richtung der Bäume.
Wie ein Wetterleuchten, ein Glühen in mir lenkt es mich durch die stillstehenden Straßen, in denen sich nichts regt als der Wind, der sich verfängt in leeren Fensterhöhlen; hin zum einen Ort, der von Anfang an mein Ziel war, der mich angezogen hat mit seinem Glanz; lange gehe ich, durchquere die ganze Stadt, und stehe schließlich am Ufer des Kühlsees, und kann es auf der anderen Seite sehen: in seinem Sarkophag ruht es, und kommt doch nicht zur Ruhe, verwandelt langsam, Stück für Stück das Land.
Es ist jetzt ganz Dunkel, und ich spüre das Leuchten in meinen Knochen, kleine Finger, die an den Ionen in meinen Zellen rütteln. Ich suche meinen gelben Geigerzähler aus dem Baumarkt, kann ihn nicht finden, doch finde plötzlich in meiner Hand ein altes Strahlenmessrohr, in der anderen den zylindrischen Kasten, von dem die Liquidatoren die Sievert-Zahlen abgelesen haben; Ich weiß, Tag und Nacht sind Mitarbeiter im Kraftwerk, um seinen Schlaf zu überwachen, Wagen fahren hin und her, niemand Unbefugtes kann es betreten; doch es ist alles ruhig, vollkommen dunkel, nur die Kuppel des Sarkophags vor mir scheint schwach, doch unerbittlich zu funkeln. Ich gehe darauf zu am Ufer entlang, ein alter Wind geht, und ich erwarte jeden Augenblick, dass der kritische Grenzwert überschritten wird, mein Geigerzähler knackt, knackt immer schneller, ich lese ab: 50.000 Mikrosievert in der Stunde, so viel wie im Kontrollraum des Reaktors am Tag der Explosion. Ich bin an meinem Grenzwert, dem Punkt, an dem es sich entscheiden wird: erleuchtet oder ein verhutzeltes Männchen werden, das das Zauberwort vergessen hat. Niemand ist zu sehen; ich weiß nicht, welche Zeit wir haben, ich brauche keine Zeit, und vor meinen Augen schwankt das Bild: ist der Sarkophag einmal funkelnd im Hier und Jetzt, einmal unsichtbar der Zeit entschwunden, sodass das Kraftwerk, Reaktor 4, offen und frei unter dem Himmel liegt, und funkeln da nicht rote Lämpchen, ist das Kraftwerk nicht in Betrieb? Und ich bin hin und her gerissen: weiter-oder zurückgehen, fliehen, retten, was von meiner Integrität zu retten ist? Ich dreh mich um: Lichter in den Fenstern von Prypjat, vereinzelt nur, doch kann man das auf die späte Stunde schieben, die Menschen ruhen; und höre ich nicht, ganz leise nur, das leise Brummen der Straßenbahn? Und dann laufe ich, laufe auf die Lichter zu und fort von den Ufern des vergifteten Sees. Doch ein geheimnisvoller Einfluss hält mich fest, zerrt an mir, lässt mich nicht mehr los, und ich weiß: mein Grenzwert war überschritten, und ich wusste nicht das Zauberwort, nicht die richtige Abfolge der Gesten; und zögerte einen Augenblick zu lang. Am Ende bin ich zu uneins, als dass ich hätte bleiben können wie Wadim oder kommen können wie Irina.
Ich spüre, wie ich aus der Fassung gerate, wie ich mich verstreue; eine Verwandlung geht vor. Wie ich ununterscheidbar werde von dem Ort. und auf meinem Gesicht bildet sich ein rotes Flügelrat, mit böse zusammengezogenen Augen; der untere Flügel ein zum Schreien aufgerissner Mund.