Sieger und Endauswahl des 18. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerbs zum Thema ‘Geschichten aus 1001 Nacht’
Es vergehen Tage und Wochen. Wachse. Meine Arme und Beine sind länger geworden. Halte sie dicht an meinem Körper. Kann kaum noch treiben. Kann mich kaum noch drehen. Mein winziges Herz rast. Rund liege ich in ihr, brauche Platz. Will nicht mehr wachsen. Es ist eng. Kann sie spüren. Der Alkohol dringt zu mir, verlässlich wie immer. Durchläuft meinen Körper. Meine kleine Leber arbeitet wie wild. Es ist dunkel und warm, stramm liege ich in ihr. Höre ihn brüllen, höre ihre Schreie. Spüre die Schläge in ihren Bauch, spüre ihr Fallen, bin zu groß.
Es vergehen Tage und Wochen. Es ist nicht gut, es ist anders als sonst. Es arbeitet in ihr, es nimmt mir den Platz. Mein Herz hämmert panisch, irgendetwas drängt mich nach außen. Habe wenig Luft. Will mich halten. Kann mich nicht stützen, nirgendwo abfangen. Es gibt kein Zurück. Schmerz und Angst. Mein Kopf, eingezwängt, spüre die Kontraktion. Immer wieder. Weiß nicht was passiert. Kann es nicht mehr aushalten. Völlig überrumpelt. Das Licht ist grell. Es ist laut. Kalt. Hände greifen nach mir. Sie trennen mich von ihr, zerschneiden die Nabelschnur. Weiß nicht wo sie ist. Will zu ihr, kann ihre Stimme nicht mehr hören. Spüre die Stiche, werde verklebt mit kleinen Schläuchen. Will zu ihr. Glas um mich herum. Und Wärme, endlich Wärme. Liege erschöpft, allein, verlassen. Zeit vergeht. Bin klein und hager. Der Entzug ist heftig. Er lässt mich zucken und zittern. Kann nur schreien. Sie nennt mich Trixi. Kann nur schreien. Ihr Finger berührt mich. Kann nur schreien. Sie geht entnervt.
Es vergehen Tage und Wochen. Glas um mich herum, jeden Tag, jede Nacht, Hektik, Licht. Habe mich erholt und bin gewachsen. Die Medikamente haben mir geholfen. Mein kleiner Körper braucht keinen Alkohol mehr. Mein Herz ist zu groß, ein wenig. Sie besucht mich selten. Sie nimmt mich auf den Arm, endlich. Habe gewartet. Habe auf diesen Moment gewartet. Rieche sie und schmecke ihre Haut mit meinem Mund. Könnte endlos an ihr hängen, mich festsaugen an ihrem Arm. Sie drückt mich weg. Schiebt mir den Nuckel in den Mund. Das Trinken strengt mich an. Kann schlecht atmen. Schlucke langsam aber stetig. Zu langsam. Sie drückt mir den Nuckel tiefer in den Mund. Sie schimpft, läuft aufgebracht mit mir durch den Raum, hektisch, drückt mich der Krankenschwester in die Arme.
Es vergehen Tage und Wochen. Bin endlich zu Hause. Kenne seine Schreie, das Gebrüll. Er ist jetzt lauter, viel lauter. Er ist näher, abscheulich nah. Ihr Bauch schützt mich nicht mehr. Adrenalin. Will sie um mich, wie eine Hülle. Suche ihren Geruch. Warten, Warten. Die Wohnung stinkt nach Alkohol und Zigaretten. Es ist kalt. Die Bettdecke ist verrutscht. Wund liege ich in meiner vollen Windel, stinke. Meine Beine sind bis an die Knöchel verschmiert. Habe Hunger, schreie. Sie kann mich nicht hören, die Musik ist lauter als ich. Viel lauter. Strenge mich an. Schreie und schreie und schreie und schreie und schreie.
Es vergehen Tage und Wochen. Bin gewachsen, habe kaum zugenommen. Sie zieht mich aus dem Bettchen und trägt mich nach nebenan. Sie wirft mich ins Kissen und drückt mir den Flaschennuckel in den Mund. Sie sieht mich nicht an. Sie blickt in das flackernde blaue Licht. Lärm. Versuche schnell zu trinken, fühle mich schwach. Muss mich beeilen, bevor sie die Geduld verliert. Sie zündet sich eine Zigarette an, jetzt habe ich Zeit. Blauer Nebel streift mein Gesicht. Blauer vertrauter Nebel. Meine kleinen Händchen suchen nach ihr, will sie berühren. Kann sie nicht erreichen. Mit ausgestrecktem Arm hält sie die Flasche. Sie ist unendlich weit weg. Sie starrt in das Flackern. Ihre Augen sind glasig, ihr Blick leer. Trinke und atme. Atme und trinke. Sie lehnt sich vor, drückt die Zigarette aus. Sie zerrt mich hoch. Kuschle mich an sie. Sie trägt mich zurück ins Zimmer, legt mich ins Bett und knallt die Tür zu. Die Ränder meiner Windel sind verkrustet, irgendwann wird sie mich wieder wickeln. Irgendwann. Es tut weh. Das Schreien fällt mir schwer. Wimmere mich in den Schlaf.
Es vergehen Tage und Wochen. Sie hat ihn weggeschickt. Sie hat mich gebadet. Trage frische Sachen. Das Fläschchen war randvoll, fühle mich satt, viel zu satt. Mein Bauch tut weh. Straff und gebläht zeichnet er sich unter dem Strampler ab. Sie hat den ganzen Tag geputzt. Wie eine Verrückte. Ihre Schnapsflaschen liegen unter meinem Bettchen, gut versteckt, nebeneinander wie gläserne Orgelpfeifen. Sie putzt die Zähne. Immer wieder. Ich spüre ihre Nervosität. Sie läuft in der Wohnung auf und ab. Höre ihre Schritte auf dem Laminat. Sie läuft und läuft, bis es klingelt. Höre ihre Stimme, sie spricht mit der Frau. In meinem Zimmer blicken sie auf mich hinunter. Sie reden und reden. Mein Bauch tut weh, als würde er sich nach oben wölben. Sie verlassen das Zimmer. Muss würgen, mich übergeben, schlucke Erbrochenes, huste. Die Wohnungstür wird geschlossen. Alles wird gut. Trage frische Sachen, voller Erbrochenem.
Es vergehen Tage und Wochen. Bekomme Zähne. Schiebe meine Hand in den Mund. Es gibt keine Linderung. Kaue den Zipfel der Decke. Bin gewachsen und habe ein wenig zugenommen. Bekomme klebrigen Brei mit zu wenig Wasser. Mein Bauch ist gebläht, weine. Sie wirft mir Kekse ins Bettchen. Er ist wieder da, brüllt in der Wohnung herum. Setzte mich hin und beginne zu schreien. Sein Brüllen wird aggressiver. Sie geht und schlägt die Tür zu. Warte. Bin wund. Bis an den Bauchnabel. Bis an die Knie. Kann die Schläge hören, kann hören, wie sie zu Boden geht. Sie lallt. Er reißt die Tür auf, tritt gegen mein Bettchen, schreit mich an. Sie erscheint in der Tür, nimmt einen Schluck aus der Flasche, lallt wieder. Er ist noch nicht fertig, verlässt mein Zimmer. Die Tür knallt. Höre sie nebenan. Schläge. Höre sie bis es still wird.
Es vergehen Tage und Wochen. Kann krabbeln und stehen, mein Bettchen ist mein Karzer. Zu wenig Platz. Dunkel, die Jalousie unten, schon viele Tage. Versuche zwischen den Stäben hindurchzukrabbeln. Gebe auf. Versuche zu klettern, meine Kraft reicht nicht. Warten. Noch ein Versuch. Nichts. Gebe auf. Zu eng die Stäbe, zu hoch. Sammele die Fusseln, kann sie essen. Finde Reste von Keksen und Zwieback, picke Krümel wie kleine Schätze mit Daumen und Zeigefinger. Meine blonden Haare sind klebrig und verfilzt. Das Fläschchen ist leer und ausgetrocknet. Nuckle am Daumen. Die Windel ist geplatzt. Der Kunststoff fleddert um meine wunde Haut, weiß-braune Flocken sind im ganzen Bett verteilt. Habe Durst. Es ist still. Sitze in meinen Exkrementen und warte. Wiege meinen kleinen Körper, ganz sachte, immer wieder. Vor und zurück. Vor zurück. Schließe die Augen und wiege. Ganz sachte. Meine Nase läuft.
Es vergehen Tage und Wochen. Dunkel. Liege vor meinem Karzer, schreie wie verrückt. Bin geklettert und gefallen. Mein Kopf blutet. Niemand kommt. Beruhige mich und warte, unbeweglich. Ganz lange. Eine Ewigkeit. Reibe meine Stirn, sehe das Blut an meinen Händen, weine. Niemand kommt. Der Nadelfilz am Boden stichelt an meinen nackten Beinchen. Die Windel ist verrutscht. Rapple mich auf und krabble zur Tür. Sie ist angelehnt. Niemand ist da. Krabble bis in den Flur und setzte mich auf den weichen Teppich. Wiege meinen Körper. Wohlig, vertraut. Immer wieder. Warten. Höre die Wohnungstür. Er kommt herein. Zurück ins Zimmer, auf allen Vieren. Er brüllt. Er ist hinter mir, groß, unberechenbar. Er brüllt wie verrückt, reißt mich am Arm hoch und schleudert mich in mein Bettchen zurück. Mein Arm fühlt sich schlimm an. Die Zigarette fällt herunter. Er drückt sie an meinem Beinchen aus. Er tritt gegen das Bett, immer und immer wieder. Wutentbrannt. Mit aller Gewalt. Tritt bis die Stangen bersten und das gesplitterte Holz auf mich zeigt. Dann ist es gut. Er geht, lässt mich allein.
Es vergehen Tage und Wochen. Sie hat ihn weggeschickt. Habe Pommes gegessen. Salzig. Das erste Mal. Sie hat mich gebadet. Trage frische Sachen. Meine Haare sind sauber und gekämmt. Das Bettchen ist nicht mehr da. Eine Matratze liegt in meinem Zimmer, eine frische Decke und kleine Kissen. Kuschle mich ein, rolle mich hin und her. Spüre ihre Nervosität. Sie putzt die Zähne, sie schrubbt sie wie eine Wahnsinnige. Sie trägt Flaschen durch die Wohnung. Versteckt sie, holt sie wieder hervor. Sie öffnet das Fenster und stellt sie vorsichtig draußen auf die Fensterbank. Zieht den Vorhang zu, um sie zu verbergen. Sie läuft im Flur auf und ab. Immer wieder sieht sie in mein Zimmer, bis es klingelt. Sie schließt meine Tür. Höre ihre Stimme. Sie reden. Die Frau öffnet die Tür und sieht mich an. Sie reden und reden. Die Frau beobachtet mich. Sitze auf der Matratze und spiele mit den Kissen. Die Kissen riechen gut. Lasse mich darauf sinken, drücke mein Gesicht hinein. Sie gehen in den Flur. Sie reden noch immer. Die Wohnungstür wird geschlossen, es ist still. Alles wird gut. Trage frische Sachen. Die Matratze ist weich.
Es vergehen Tage und Wochen. Die Luft steht. Das Zimmer ist mein Verließ, die Jalousie unten. Licht mogelt sich durch die Ritzen. Die Matratze ist dreckig und nass, die Kissen sind klebrig und stinken. Nage an einem Stück Brot, reiße ein kleines Stück mit den Zähnen ab, kaue. Es klebt an meinem Gaumen, hartnäckig. Muss beinahe würgen. Bearbeite es mit meiner Zunge. Es ist meine Beschäftigung. Die Zeit vergeht. Nage und kaue bis die letzte Brotkante verschwunden ist. Hangele mich an der Heizung hoch. Schwerfällig. Taumle beim Laufen, unsicher kraftlos. Quer durch das kleine Zimmer, bis zur Tür. Kann die Türklinke nicht erreichen. Recke mich. Muss wachsen. Lasse mich auf den Hintern sacken. Der Inhalt der Windel verteilt sich durch den Druck. Mein Blick schweift durch das matte Dunkel. Die Flasche liegt neben der Matratze, halb verdeckt durch ein Kissen. Krabble darauf zu. In der Flasche ist noch Tee. Süßer Tee. Lasse mich auf den Rücken sinken und trinke gierig. Sauge bis zum letzten Tropfen, bis zum allerletzten Tropfen. Sauge und sauge. Luft. Süße Luft. Lasse die Flasche fallen. Liege auf dem Rücken und drehe meinen kleinen Kopf hin und her, ganz sachte, immer wieder. Hin und her. Stundenlang.
Es vergehen Tage und Wochen. Er ist nicht mehr da. Hab seine Stimme nicht mehr gehört. Lange. Kein Gebrüll. Es ist ruhig. Sie geht weg, immer wieder. Lange. Manchmal kommt sie zurück, legt etwas zu Essen in mein Zimmer, füllt die Flasche. Sie wickelt mich nicht mehr. Trage ein Shirt, viel zu groß, es reicht bis über meine Knie. Muss husten. Sitze zwischen Fäkalien und Essensresten auf meiner Matratze und wiege meinen Körper. Stundenlang. Höre die Wohnungstür. Sie ist da. Höre das gläserne Geräusch der Flaschen, die sie auf den Wohnzimmertisch stellt. Sie lallt etwas. Stille. Lausche und starre auf das schwache Licht. Es lächelt durch die Ritzen. Wiege meinen Körper. Die Tür geht auf, sie kommt in mein Zimmer. Sie lallt, die Schnapsflasche hält sie in der Hand. Berühre ihren Schuh mit der Hand, während sie vor meiner Matratze steht. Sie wankt, taumelt ein paar Schritte rückwärts, lehnt mit dem Rücken an der Wand. Fahrig hebt sie die Flasche an den Mund und trinkt. Es klingelt. Sie lässt die Flasche sinken und lallt etwas, taumelt, strauchelt. Wie eine Statue kippt sie zur Seite, ihr Kopf schlägt mit Wucht auf den Heizkörper. Sie liegt reglos. Blut läuft auf den Nadelfilz. Schnaps ergießt sich auf den Boden. Krabble zu ihr und setzte mich neben ihren reglosen Körper. Wiege mich, vor und zurück. Stundenlang. Die blutigen Rinnsaale aus ihren Ohren sind getrocknet, ihre Haut ist kalt. Wiege mich bis ich den Durst spüre. Die Flasche ist leer. Ziehe mich am Heizkörper hoch. Die Tür ist offen, sperrangelweit. Stehe im Türrahmen, blinzle. Die Helligkeit brennt mir in den Augen. Tapse in die Küche, mit meinen schmierigen kalten Füßen. Ziehe an den Griffen der Schränke. Kartons. Tüten. Reiße alles auf, stopfe in mich hinein. Nudeln, Zucker, Zwieback. Spüre den Durst. Bin zu klein. Der Wasserhahn unerreichbar. Sitze auf dem Küchenboden und wiege meinen Körper, satt. Bauchweh. Stille. Warten. Sie liegt noch immer reglos, kalt, steif. Bin durstig. Krusten an meinen Lippen. Krabble ins Bad, der Klodeckel ist offen. Tauche meine Hände ein und lutsche sie ab. Immer und immer wieder.
Es vergehen Tage und Wochen.
2.Platz: Vier Sekunden - Katharina Kutil
Noch vier Sekunden, alles, was ihr bleibt. Beten? Dieser Allah, der nie da war, wenn sie ihn brauchte. Wenn Mutter Stöcke an ihr zerschlug, wenn sie geschrien hatte, um Hilfe geschrien, wo war Allah da? In dunklen, feuchten Keller gesperrt, voller Angst – wo war Allah? Wenn er kleinen Kindern nicht hilft, warum dann ihr? Warum dann jetzt? In ihr taucht das Bild Machmuds auf, sein Körper zerfetzt, überall Blut, Machmud verteilt im ganzen Raum, das Haus brennt, die Abla schreit, wo ist Isi, Feuer breitet sich aus, Hitze, Geschrei, Schüsse, wo ist Isi? Sie kriecht durch den Schutt bis in die Küche, Isi starr vor Schreck mit Mehl bedeckt auf dem Fußboden, um ihn herum, Gewürze, Datteln, Pfannen, Messer, die Druckwelle hat alles aus den Schränken gerissen. Sie packt Isi. Als sie aus dem Haus läuft, weint er, klägliches, angstvolles Weinen, hinter ihnen schreit die Abla, sie soll bleiben, sie läuft an Machmuds rechtem Arm vorbei, nur weg, nur weg!
Und ein Bild, sie ist neun Jahre alt, Sommer, sie schläft auf dem flachen Dach, es ist früher Morgen und sie steht auf, sie muss die Ziegen melken, sie muss Mutter beim Wäschewaschen helfen, sie muss beim Kochen helfen, sie muss den Vater und die Brüder bedienen, alles wie immer, alles wie jeden Tag, doch heute steckt man sie in ein teures Kleid, glitzernd, glänzend und sie fragt warum und wieso und Mutter sagt: „Heute kommt dein Bräutigam“. Was für ein Bräutigam, sie weiß von nichts, keiner hat ihr was gesagt, was geschieht hier, geschieht mit ihr? Dicker Kajal um ihre Augen, sie wehrt sich, sie will das nicht, Kajal verschmiert, verklebt, solange geschlagen, bis keine Tränen mehr und da kam er, Machmud, so groß und schwer, sie war ihm versprochen, er kam ihr schrecklich alt vor, sprach kein Wort zu ihr, beachtet sie kaum. Doch seine Abla packte sie, dreht sie hin und her, kleines Mädchen mit zitternden Knien und was heißt das überhaupt, jemand versprochen zu sein? Sie hat Angst, aber die Mutter ist zufrieden, Machmud würde sie zur Frau nehmen. Von da an noch mehr Arbeit, sie muss noch so vieles lernen und die Zeit drängt, man weiß nicht, wann das Blut kommt, dann wird Machmud sie holen. Welches Blut, wer wird bluten und warum holt Machmud sie, wohin bringt er sie? „In sein Haus und du wirst ihm eine gute Frau sein, sei dankbar, Machmud ist ein guter Mann. Er ist mächtig, er hat Geld und macht gute Geschäfte.“ Angst. „Wenn das Blut kommt, bist du eine Frau und dann wird Machmud dich holen.“ Und so wartet sie, wartet auf dieses Blut, das da kommen soll, das fließen muss, damit sie eine Frau ist, ob sie will oder nicht, bis sie Machmuds Frau ist, ob sie will oder nicht. Doch es dauert noch, dauert, sodass sie manchmal darauf vergisst, auf die Angst und auf das Blut und drei Jahre vergehen, drei Jahre, in denen sie nichts hört, nichts sieht von Machmud und sie hat auch schon vergessen, wie er aussieht, als eines Morgens Blut zwischen ihren Schenkeln ist, kleines Rinnsaal, tirkelt langsam ihr Bein hinab, helles Blut, es riecht nach Eisen. Sie erschrickt, sie zittert, ihr Herz rast, nein, bitte nicht, bitte nicht das, sie will nicht fort, will nicht zu diesem Mann, nicht in ein fremdes Haus und so wäscht sie sich, fein, säuberlich, heimlich. Doch immer fließt neues Blut nach, Krämpfe, Schmerzen, sie weint, aber sie hat keine Wahl. Sie wird Machmuds Frau.
Noch drei Sekunden. Wie von fern hört sie Isi`s „Anne, Anne!“, kaum spürt sie die kleinen Hände, aber den Schmerz der Geburt, auf einmal, heftig, eine Wehe und ihre Mutter schreit „pressen, pressen“, die Frauen stützen sie, rufen ihren Namen, feuern sie an, beten, doch sie hat keine Kraft mehr, jemand hält ihr etwas scharf Riechendes unter die Nase, fährt wie ein Blitz in ihr Gehirn und noch einmal „pressen, pressen“ und mit letzter Kraft, sie schreit, kurze Stille, dann schreit noch einer, ein Kind, ihr Kind und sie weint, erleichtert, der Schmerz lässt nach, sieht blutverschmiertes Bündel, hält es im Arm, es ist ein Sohn, ihr Sohn, ihr Isi, ihr ein und alles, Machmud wird zufrieden sein und zärtlich streicht sie über das kleine Gesicht, ein Leben, ein Wunder, Frieden und Stille. Leise summt sie das Schams alatfal, bis man ihr, bis Mutter ihr, aber warum, das Kind, ihr Kind wegnimmt. Welches Recht hat die Mutter? Es ist ihr Sohn, selbst ist sie Mutter, keiner darf ihr mehr etwas sagen. Aber alle haben etwas zu sagen, Machmud, die Abla, ihre Mutter, Machmuds Vater, nur sie nicht. Und wenn man ihr etwas sagt: Befehle, Anordnungen, „tu dies“ oder „tu das“, einerlei. Sie tut. Dies. Und das. Nicht anders gewohnt, nur manchmal tauchen Fragen auf, wer antwortet? Sie kann nicht lesen, nicht schreiben, nicht rechnen. Wozu denken, aber hat sie nicht auch Geist? Oder Gedanken oder ist das dasselbe, sie weiß nicht und wenn sie zuviel fragt, schlägt Machmud sie, jeder schlägt sie, jeder darf sie schlagen, weil sie ein Nichts ist. Und nun ist sie Mutter und immer noch nichts. Und manchmal denkt sie, einzig über ihren Sohn hat sie Macht, der einzige, der kleiner und schwächer ist als sie. Aber diesen kleinen Körper, dies hilflose Wesen schlagen? Wenn er ein Mann ist, vielleicht beschützt er sie dann und lässt nicht zu dass – aber auch er muss gehorchen, Machmud müssen alle gehorchen, wie kann es dann sein, dass Männer in ihr Haus kommen, die Machmud anschreien, sie werfen ihn gegen die Wand, schlagen auf ihn ein und erst als er regungslos auf dem Boden liegt, ist es aus, vorbei, keiner der Männer hat sie angesehen, sie, in eine Ecke gekauert, voller Angst, nicht wissend, was passiert, was ist los und warum, Schreie auf der Straße und es fallen erste Schüsse. Keiner erklärt ihr etwas und wenn sie fragt, sagt Machmud „das verstehst du nicht“. Ja, vielleicht, aber sie hat Angst. Früher, ja, sie war froh, wenn sie aus dem Haus konnte, wenn auch nie alleine, aber wenigstens sehen, dass da eine andere Welt ist außer ihre eigene zu Hause, die sie nicht mag. Andere Gerüche als die Machmuds, die sie nicht mag. Nur Isi riecht immer gut, immer ist sie in seiner Nähe und je lauter die Welt um sie wird, um so stiller wird es in ihr, sie hört und fühlt nurmehr Angst, sie riecht ihre Angst, sie sieht Angst in Isis Augen, kein Kinderlied, kein Spiel, keine Zärtlichkeit kann seine Angst vertreiben, auch die ihre nicht und diese Angst verbindet sie, Isi sucht ständig ihre Nähe, berührt sie, versteckt sein Gesicht in den Falten ihrer Burka. „Wir kämpfen bis zum letzten Mann“ hört sie Machmud zu seinem Vater sagen, sein Gesicht blau geschlagen, das Sprechen fällt ihm schwer, ein Zahn fehlt, nun, da auch er einmal erniedrigt, geschlagen und verhöhnt worden war. „Wir gehen nicht“, sagt er, „Wir kämpfen“. Um was, gegen wen und nachts, als sie Machmuds Wunden kühlt und Isi schläft fragt sie ihn, aber er dreht sich um, schweigt, schläft, schnarcht. Am nächsten Tag fiel die Bombe auf ihr Haus und zerfetzte Machmuds Leib. Eben stand er noch im Raum, ein Glas Apfeltee in Händen, als es kracht, Glas zersplittert, Staub, Steine, Schreie und sie packt Isi, läuft, rennt, hinaus auf die Straße, aber wohin? Sie weiß nicht, wer der Feind ist, weiß nicht, wer ein Freund ist, wohin soll sie also? Rund um sie fallen Schüsse, liegen Tote in den Straßen mit schreckverzerrten Gesichtern, soviel Grauen, soviel Blut, wohin nur wohin, in Gedanken rennt sie noch, läuft um ihr Leben.
Bis die Gegenwart sie wieder hat, Isi weint verzeifelt, ihr Isi, sie greift nach ihm, schreit vor Schmerz, presst Isi an sich, der Weg ist zu Ende.
Noch zwei Sekunden. Flucht! Vielleicht schafft sie es noch, zuckt es durch ihr Gehirn, sie muss weg, sie muss Isi retten, doch jeder Atemzug, jede Bewegung, soviel Schmerz, sie schreit, unzusammenhängend, für Worte fehlt ihr die Kraft. Sie will Isi zur Seite schieben, er muss weglaufen, er muss! Doch Isi krallt sich an ihr fest. Und sie erinnert sich an andere Hände, die sich an ihr festkrallten, an ein anderes Schreien, an ein Betteln um Leben, Hannems Hände, Hannem, ihre Freundin Hannem, sie war die Frau von Machmuds Bruder und sie hatte ihren Schoß für einen anderen Mann geöffnet, leise flüsternd hatte sie ihr erzählt von den Freuden der Liebe, von Zärtlichkeit, von stillen Seufzern der Lust, von Armen, die sie fest hielten, von Liebesworten und von Glück. Doch man hatte Hannem gesehen und jemand sagte es Ismail und er schlug seine Frau, weil es sein Recht war, weil Allah es so will, prügelte er auf Hannem ein, sie schrie, die Schwiegermutter schrie und trat nach ihr, Hannem floh, lief aus dem Haus, wohin, wohin, eine laufende Frau alleine auf der Straße, unmöglich, also ins Nachbarhaus zu ihrer einzigen Freundin, verzweifelt weinend: „Hilf mir, hilf mir, er schlägt mich tot!“ Aber da ging die Türe auf, Machmud und Ismail packten Hannem, verzweifelt krallte sie sich fest, schrie, bettelte, flehte, nichts half, nichts, gar nichts. Sie zerrten sie hinaus und am nächsten Tag war Hannem tot.
Machmud aber nahm den Koran und las ihr aus der 4. Sure: „Wer aber gegen Allah und seinen Gesandten widerspenstig ist und seine Gebote übertritt, den lässt er in ein Feuer eingehen, damit er ewig darin weile. Eine erniedrigende Strafe hat er zu erwarten. Und wenn welche von euren Frauen etwas Abscheuliches begehen, so verlangt, dass vier von euch Männern gegen sie zeugen! Wenn sie zeugen, dann haltet sie im Haus fest, bis der Tod sie abberuft oder Allah ihnen eine Möglichkeit schafft zurückzukehren!“ Und er las weiter: „Die Männer stehen den Frauen in Verantwortung vor, weil Allah sie ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind Allah demütig ergeben und geben acht mit Allahs Hilfe auf das, was verborgen ist. Und wenn ihr fürchtet, dass Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch gehorchen, dann unternehmt nichts gegen sie! Allah ist erhaben und groß.“
Sie sah Hannems toten Körper nicht, doch hieß es, es sei ein Unfall gewesen, Hannem wäre gestürzt, mit dem Kopf aufgeschlagen und sofort tot gewesen. Was soll man glauben?
Eine Sekunde. Das Antlitz ihrer Großmutter, ist das ein Traum oder steht sie wirklich, tatsächlich, hier, vor ihr, im Krieg um diese Stadt, im Krieg um den wahren Glauben, im Krieg um den Sieg, wo man Blut mit Blut wegwaschen will? Großmutter, die sie stets „mein Augenstern“ nannte, Großmutter, die ihr sagte, wie schön und klug sie war, die stets Rat wusste und Liebe gab. Auch Isi weint nicht mehr, nurmehr leise schniefend liegt sein Kopf auf ihrer Brust und es tut nicht mehr weh, bestimmt, weil Großmutter da ist, Großmutter, die immer da war für sie und ja, doch, sie fühlt die kühle, faltige Hand, sie streichelt über ihr Gesicht, wischt Tränen fort, wie sie immer die großen, dicken Kindertränen aus dem Gesicht der Enkelin streichelte. Wenn Großmutter da ist, ist alles gut, bestimmt, denn sie war Großmutters Liebling, zu ihr kam sie, um Freude zu teilen, um Schutz zu suchen, Großmutter versteckte sie, beschämt über die eigene Tochter, die ihre Kinder schlug. Weißes Haar, das immer unter der Burka hervorrutschte, strahlend blaue Augen, groß und aufrecht, gelassen, ruhig, ohne Angst, stets Hoffnung und Freude schenkend. Und sie erinnert sich an Großmutters Honigküchlein, niemand konnte Honigküchlein so gut machen, nie wieder hatte sie etwas Vergleichbares gegessen und welch ein Tag, was für ein Stolz in ihrem Kinderherz, als die Großmutter ihr, ihr ganz allein das Rezept, das Geheimrezept für die Honigküchlein ins Ohr flüsterte. Und sie sprach jedes Wort leise nach, wieder und wieder, nur nicht vergessen, niemals vergessen! Auf einmal, ja, sie leckt mit der Zunge über ihre staubtrockenen Lippen, leckt und schmeckt, ganz bestimmt, es kann nur der Geschmack der Honigküchlein sein und sie wird Isi auch eines abgeben und wenn Isi alt genug ist, wird sie ihm das Rezept verraten, ihrem Isi, ihrem Augenstern. Die Großmutter winkt ihr zu, entfernt sich, löst sich auf, „Bleib!“ will sie rufen, „Bitte geh nicht! Verlass mich nicht, ich habe solche Angst!“ will sie rufen, „Nimm uns mit!“ flüstert sie, haucht sie, den rufen geht nicht, der Schmerz ist zu groß. Auf einmal ist die Großmutter weg und sie liegt im Staub auf der Straße, eine Straße, die sie nicht kennt, Isi auf ihrer Brust, Schmerzen, der ganze Körper schmerzt, es ist so laut, Schüsse und ein Pfeifen und je …
Die Zeit ist um.
3.Platz: Ao Por do sol - Cathy Kellermann
Ich war zu früh, aber ich wollte auf keinen Fall zu spät sein, es sollte alles vorbereitet sein, wenn du kommst. Zum Glück habe ich einen freien Platz gefunden, es sollten nicht zu viele Leute um uns sein, sollte aber auch nicht zu weit weg vom Cais de Sodre sein, wo wir uns verabredet haben. Ich habe die weiße Decke ausgebreitet, Weingläser, Wein und das Essen aufgedeckt, mich rechts davon hingesetzt, links ist dein Platz. Alles ist bereit, auch die Sonne ist in Startposition, steht bereits tief, aber wird nicht untergehen, bevor du kommst.
Es ist kühl; ich ziehe mir mein Kleid über die Knie und bin froh, dass ich mich dafür entschieden habe. Erst hatte ich die Jeans Hot-Pants und das neonrosa Top mit den grauen Punkten angehabt, aber mich dann doch noch einmal umgezogen. Ich mag es, wenn der Wind das Kleid aufbläst und der weiche Stoff meine Haut berührt. Vielleicht würden wir uns auch berühren heute, ich würde es schön finden, wenn wir uns vielleicht in den Arm nehmen könnten. Ich werde genau darauf achten, ob sich unsere Hände begegnen, wenn ich dir das Weinglas gebe oder ob wir beide gleichzeitig nach den Trauben greifen, vielleicht küsst du mich auch einfach, du bist da bestimmt nicht so unsicher wie ich. Hoffentlich gefalle ich dir, nicht, dass du Ringelkleider nicht ausstehen kannst. Bitte sag‘ mir das einfach, ich hänge nicht an diesem Kleid, ich kann auch jedes andere anziehen.
Der Wind ist stark, bläst mir die Haare ins Gesicht, da ich nicht will, dass sie mir nachher beim Sprechen in den Mund fliegen, binde ich sie zusammen, nicht zu einem tiefsitzenden Zopf am Nacken, sondern zu einem richtigen Mädchen-Pferdeschwanz.
Jetzt wirst du gleich kommen. Wir werden auf das Wasser schauen, das sich sanft kräuselt, wir werden die Golden Gate bewundern, wie sie sich filigran über den Fluss spannt und den Atlantik dahinter erahnen. Ich werde dich fragen, ob der Tejo salzig ist, weil eigentlich ist er doch ein Fluss, sieht aber aus wie das Meer. Und du wirst dich über die Kaimauer beugen, ich werde deine Beine halten, damit du nicht vorn über kippst, du wirst einen Finger ins Wasser halten, abschlecken und mir das Ergebnis mitteilen. Die Flüsse bringen Salz ins Meer, wirst du erklären und ich werde nicken und beeindruckt sein.
Hoffentlich gelingen uns die Übergänge, das ist wichtig, dass keine langen Pausen entstehen, bevor wir das nächste Thema besprechen; der Flow ist das Wichtigste, es muss wie von selbst gehen. Wenn wir uns bisher gesehen haben, waren meistens andere dabei, wir haben über Dozenten geredet oder welche Kurse man belegen sollte und welche man sich sparen konnte und ausgemacht, wo man sich am Abend treffen würde. Das erste Mal richtig unterhalten haben wir uns auf dem Fest. Du hast vom Surfen erzählt, und versucht, das Gefühl zu beschreiben, über dem Wasser zu schweben und über die Wellen zu hüpfen. Das könne man nicht in Worte fassen, hast du gesagt, das müsse man schon selbst erleben. Erasmus in Lissabon ohne Surfkurs geht gar nicht, hast du gesagt und vorgeschlagen, ich könne doch mal mitkommen zum praia do Guincho, und dabei so geschaut, als würdest du es ernst meinen.
Ich habe mich vertraut mit dir gefühlt und deswegen habe ich dir vom Besuch meiner Schwester erzählt und dass ich Medizin studiere, weil sie Leukämie hatte und wir als Kinder viel in Krankenhäusern waren und ich immer so sein wollte wie die Frau im weißen Kittel, die uns helfen konnte. Das habe ich noch nicht oft erzählt, vielleicht ist es auch albern, aber du hast genickt und gesagt, du könntest mich verstehen und dann hast du nachgefragt, über den Verlauf der Krankheit und wie es ihr heute gehe und ob ich noch andere Geschwister habe und ich habe mir gedacht, dass du bestimmt einmal ein guter Arzt wirst.
Die Fähre nach Cacilhas legt ab; wenn sie in zehn Minuten am anderen Tejo-Ufer ankommen wird, wirst du bereits da sein.
Du bist zu spät, das ist nicht schlimm. Ich bin nicht so eine, die gleich zickt, nur weil jemand nicht pünktlich ist. Die Zeit vergeht aber auch schnell gerade, ich versuche nicht auf die Uhr zu schauen, aber es ist nun schon viertel vor acht.
Hoffentlich hast du mich richtig verstanden, manchmal redet man von völlig unterschiedlichen Dingen und merkt es nicht, weil jeder beim anderen das heraushört, was auf seine Vorstellung passt. Und wenn man es nicht aufklären kann, verpasst man sich. Sicherheitshalber schaue ich noch einmal auf die letzten sms, die wir uns geschrieben haben: Ort und Zeit stimmen.
Die Sonne ist bereits tiefer gesunken, hat sich noch nicht orange oder gar rot gefärbt, aber viel Zeit wird sie uns nicht mehr geben, sie wird nicht stillhalten, ob du nun da bist oder nicht.
Ich fühle mich nicht wohl, denn ich spüre, wie sich die Passanten hinter meinen Rücken anstoßen und mitleidig lächeln, schließlich ist es offensichtlich, dass ich warte. Wenigstens ist mein Schatten bei mir und wird immer länger. Auch die zwei Weingläser werfen Schatten, nur deiner fehlt.
Vielleicht bist du mit der Metro in die falsche Richtung gefahren oder du hast, kurz bevor du gehen wolltest, einen wichtigen Anruf bekommen, oder jemand ist bewusstlos geworden und du leistest Erste Hilfe, legst die Person in stabile Seitenlage, machst vielleicht sogar eine Herzmassage, ich verstehe, dass man in so einer Situation nicht sagen kann, dass man weiter müsse, weil man eine Verabredung am Kai habe. Ich höre ein Handy klingeln, denke, dass du das bist, aber ich habe mich getäuscht, jemand schreit englisch ins Telefon, it’s really amazing.
Wenn du deine Angelegenheiten geregelt hast, wirst du bestimmt gleich kommen und dann werden wir jeder ein pastel mit Zimt bestreuen und beim Kauen auf den Fluss schauen. Ich werde etwas erzählen, woran du erkennen kannst, dass ich ein guter Mensch bin. Vielleicht die Geschichte von der Südafrikanerin, der ich gestern zwanzig Euro geschenkt habe. Wie sie ihren Kinderwagen an mir vorbeigeschoben hat und ich mich schon gewundert habe, warum sie es so eilig hat, als sie sich plötzlich zu mir umgedreht hat und wissen wollte, wo man hier Rand in Euro wechseln könne. Ich habe das nicht gewusst, eigentlich habe ich ohnehin vergessen, dass Geld wechseln wichtig sein kann, ich fliege in dieses oder jene europäische Land und gehe einfach an den Geldautomaten, für den Fall, dass er Geld ausspuckt, ist es dann immerhin in der richtigen Währung. Sie sei Psychologin, mache nun ein Seminar in Lissabon, sei heute Morgen angekommen, aber Air France habe ihr Gepäck verschlampt und sie müsse es nun am Flughafen abholen. Um 21 Uhr sollte sie dort sein. Sie hat mir leidgetan, sie war sehr dünn und sah müde aus, sie hat ihr Kind hochgehoben, mir erzählt, dass Lianni zwei Jahre alt und ihr Ein und Alles sei. Genau habe ich nicht verstanden, warum sie jetzt nicht an Geld kommt, aber ich wollte ihr gerne helfen. Am Ende habe ich ihr zwanzig Euro geliehen, sie hat sich meine Adresse aufgeschrieben und gesagt, dass sie es mir später bringen würde. Ich habe ihr gesagt, dass es okay wäre, sie brauche es mir nicht wiederzugeben. Daran kannst du doch erkennen, dass ich großzügig und mitfühlend und hilfsbereit bin, das sind doch wichtige Eigenschaften. So jemand könnte man doch mögen. Ich würde es jedenfalls schön finden, wenn heute etwas Neues beginnen würde. Unser gemeinsames Leben, das nur entstehen kann, wenn wir beide unsere Talente, unsere Schwächen, unsere Ausgangsbedingungen zusammenwerfen und dann mal sehen, was entsteht. Ich finde das einzigartig, denn nur wir beide werden es genauso erleben können, wir bauen uns unsere Geschichte. Wenn wir dann schon lange zusammen sein würden, würden wir uns gerne an unser erstes Treffen erinnern, wie du mich hast warten lassen, weil du verschlafen hast. Wir würden lachen und uns erzählen, wie du dich in Windeseile angezogen, noch schnell die Zähne geputzt und dabei gehofft hast, ich würde noch da sein. Wie du mich angerufen, gehetzt geklungen, dich tausendmal entschuldigt hast und ich so getan habe, als hätte ich gar keine Angst gehabt, du könntest nicht kommen, aber dabei viel zu laut gelacht hätte. Ich würde dich daran erinnern, wie ich vorgeschlagen habe noch zum Mirodouro Nossa Senhora do Monte hochzugehen und die Lichter der Stadt anzuschauen. Und du würdest lachen und sagen, ja, das war wunderschön, aber es war meine Idee gewesen, Baby!
So könnte es sein, wenn du kommst. Mittlerweile ist die Sonne schon ein oranger Ball, sie wird bald untergehen, du hast nur noch wenige Minuten Zeit.
Hoffentlich hast du es dir nicht anders überlegt, hoffentlich hast du nicht einfach keine Lust mehr auf ein Treffen mit mir.
Vielleicht warst du auch betrunken und hast dich am nächsten Morgen geärgert, warum du das ausgemacht hast oder du hast in der Zwischenzeit eine bessere Einladung bekommen. Ich kann verstehen, dass du dich vielleicht nicht festlegen willst, du hast viele Möglichkeiten, das habe ich auf dem Fest schon gemerkt, wie dich die Mädchen beobachtet haben, du bist interessant, weil du fröhliche Augen hast, ein talentierter Surfer bist und aber nicht nur deine show abziehst wie die anderen Jungs, sondern den Mädchen das Gefühl gibst, sie seien etwas Besonderes. Und einzigartig wollen sie ja alle sein, dabei ist ein Mensch wie der andere, besonders sind nur die Erlebnisse oder Erinnerungen, die man teilt.
Vielleicht hat dir die Idee mit dem Sonnenuntergang nicht gefallen, vielleicht hast du gedacht, wenn sie jetzt mit mir den Sonnenuntergang anschauen will, dann will sie mich übermorgen heiraten und dann Kinder und dann hättest du eine Familie und vielleicht wäre eine Familie mit einer anderen aber besser als eine Familie mit mir; das muss man sich schon alles gut überlegen. Andere, die nicht so ein gewinnendes Wesen und Aussehen haben wie du, haben dieses Problem vielleicht nicht, sie freuen sich, wenn sie überhaupt jemanden finden, der mit ihnen ausgeht, und dieser eine ist dann natürlich der beste, denn es gibt ohnehin keine Alternative. Bei dir ist das anders, du hast viele Möglichkeiten.
Du könntest dich zum Beispiel in eine Portugiesin verlieben, eine Fado-Sängerin mit großen Busen und braunen Augen und dunklen langen Haaren, die stolz ihre weiße Stola um die Schultern drapiert, während sie mit tiefer und warmer Stimme ihre saudade besingt. Sie würde dir das Haus am Meer ihrer Eltern zeigen, du könntest mit ihrem Bruder Freundschaft schließen, ihr könntet eine luso-deutsche Familie werden, du könntest mit ihr süße kleine Kinder bekommen, eu gosto de ti, würden die zu dir sagen.
Du bist Surfer, hast mir erzählt, dass man immer auf der Suche nach der perfekten Welle sei, die besten in Europa sind hier in Ericeira, hast du mir erzählt, und vielleicht hast du furchtbare Angst du könntest die perfekte Welle verpassen, du könntest auf die falsche setzen, das Risiko ist groß. Vielleicht sollte man komplett still halten, dann müsste man wenigstens nicht hinterher feststellen müssen, dass es die falsche gewesen war.
Ich bin nicht so schön wie Nadine aus Hamburg mit ihren schlanken Gliedern und ihrer schmalen Nase, den langen Wimpern und ihren geschwungenen Lippen und nicht so schlau wie Syvie aus Paris, die an der Sorbonne Philosophie studiert, ich bin nicht so sportlich wie diese Australierin, die du mir auf dem Fest vorgestellt hast. Ich bin sicher nicht besser als alle anderen, ich bin auch nur eine Möglichkeit von vielen.
Du bist nicht mehr gekommen. Du hättest es auch einfach sagen können, du hättest sagen können, dass du dich nicht festlegen willst, dann hätten wir halt einfach der Sonne zugesehen.
Und Wein getrunken und gegessen und vielleicht uns auch gut unterhalten, am Ende hätten wir uns vielleicht drei Stunden nebeneinander gut gefühlt, mehr nicht. Wir hätten uns nach diesem Abend noch einige Male gesehen, an der Fakultät oder beim Weggehen in Alfama oder im Bairro Alto, vielleicht wäre ich tatsächlich mal mit dir zum Surfen gegangen, ich hätte bestimmt noch ab und zu an dich gedacht und gehofft, du würdest noch einmal fragen, ob wir uns noch mal treffen könnten.
Vielleicht hast du Recht, vielleicht ist es besser, dass wir unsere Leben nicht zusammenwerfen, auch, wenn ich dich jetzt gerne mag, ich weiß ja nicht, wie sich das alles entwickeln wird. Vielleicht wirst du streng gläubig oder du würdest einmal zu viele Drogen nehmen und dich zum Schlechten verändern, rechthaberisch und jähzornig und unausgeglichen werden oder vielleicht hätte sich deine Mutter vorgenommen, mir das Leben zur Hölle zu machen. Dann wäre ich vermutlich gegangen, wenn es sich nicht gebessert hätte und ich hätte es auch verstanden, wenn du dasselbe getan hättest, falls ich irgendwie unausstehlich geworden wäre.
Die Sonne ist weg, hat nur einen rosa Schimmer zurückgelassen, der nun über der Stadt liegt. Vielleicht war Sonnenuntergang einfach zu viel für dich, wir hätten uns zum Derby verabreden sollen, davon sprecht ihr ja seit Tagen, Benfica gegen Porto, ich interessiere mich nicht für Fußball, aber wahrscheinlich wäre es besser gewesen als Sonnenuntergang.
4.Platz: Eine Minute 53 Sekunden - Barbara Kenneweg
erstens ist das thema blumen vollkommen abgeschmackt, und zweitens ist es unmöglich, auch nur ansatzweise die schönheit einer blüte zu beschreiben, die reinheit eines tiefen blumenblaus, die frische des frischen rosas einer frisch erblühten rosanen rose (mein gott!), das ist quatsch, das kann man nicht beschreiben, und zu malen ist das privileg der maler, beziehungsweise ihr fluch, denn warum (mein gott!) malen menschen blumen, wo es doch echte blumen gibt, göttliche blumen, von denen ein einzelnes blatt tausendmal schöner ist als jeder noch so kunstvoll gemalte strauß, vom duft ganz zu schweigen, den duft lassen wir hier mal außen vor, der läßt einen ja gleich verstummen, wenn ich meine nase in einer rose vergrabe, könnte ich stundenlang weinen, natürlich vor glück. aber dann hält das glück überhaupt nicht lange vor, ein blick auf die uhr zeigt, das es genau eine minute und 53 sekunden gedauert hat.
apropos zeit und glück muß ich an einen film denken, einen ebenso genialen wie unbekannten essay – film, den außer mir keiner zu kennen scheint, er heißt „sans soleil“, und beginnt mit bildern aus island, weißblonden, lachenden kindern auf einer langen schwarzen teerstraße zwischen baumlosen hügeln, riesiger himmel, am ende ein dorf. ein jahr darauf, das erfahren wir später, würde der nebenstehende vulkan ausbrechen und alles unter mehreren metern asche begraben. der film handelt vorrangig von zeit und glück, weswegen ich ja darauf zu sprechen kam, und irgendwann kommt etwas über wunden vor, das jemand, dessen namen ich vergessen habe, laut dem film gesagt haben soll, ich habe ein schlechtes namensgedächnis, auch an den wortlaut kann ich mich nicht genau erinnern, in meinem kopf ist sperrig und schwer die behauptung hängen geblieben, daß die zeit keine wunden heile. im gegenteil lasse die zeit alles, was die wunde hervorgerufen habe, personen, umstände, allmählich verblassen, bis schließlich sie, die wunde, als destillat ihrer selbst allein zurückbleibe, körperlos. „sans soleil“ ist ohne zweifel der beste film, der je gedreht wurde, auch wenn er außer mir keinen interessiert, und das sage ich jetzt nicht aus eitelkeit, denn die eitelkeit, die darin befriedigung finden könnte, einen ausgefallenen geschmack zu haben, wird unendlich überwogen durch die aus dem aus der reihe gefallenen geschmack resultierende einsamkeit, nichts macht einsamer als ein ausgefallener geschmack, es ist todtraurig, viel besser ist es, beispielsweise keinen geschmack zu haben. aber eigentlich wollte ich etwas über blumen sagen.
in sans soleil wird sei shonagon zitiert, eine japanische hofdame des elften jahrhunderts, deren werk zu einem nicht unbeträchtlichen teil, und vielleicht ist es sogar der wertvollste teil, aus listen besteht. die frau war klug genug, sich mit adjektiven und attributivsätzen, welch gotteslästerliche zeitverschwendung, nicht aufzuhalten. blüten finden sich bei ihr in der liste namens: dinge, die verlieren, wenn man sie malt. diese liste kommt in sans soleil allerdings nicht vor, dort findet sich die liste der dinge, die herzklopfen verursachen, und ganz abgesehen von dem, was die dichterin in diese liste hineinschreibt, zum beispiel den anblick gerade aus dem ei geschlüpfter vögel, hebt der regisseur die liste an sich hervor, ihr kriterium, WAS DAS HERZ HÖHER SCHLAGEN LÄSST. WAS DAS HERZ HÖHER SCHLAGEN LÄSST im kontrast zu beispielsweise, füge ich eigenmächtig hinzu: WAS MAN KAUFEN KANN; WAS DIE ZEIT VERSCHLINGT; WAS IM SONDERANGEBOT IST… unter shonagons schönen listen gibt es eine, die aus dem rahmen fällt, sie heißt: was zu nichts zu gebrauchen ist, und es ist nur eine einzige sache darin aufgeführt: EIN HÄSSLICHER MENSCH, DER EIN SCHLECHTES HERZ HAT. das läßt einen erzittern, vorallem innerlich, instinktiv blicke ich nach abflauen des erzitterns auf die uhr und stelle fest, daß eine minute und 53 sekunden vergangen sind.
ich besitze eine postkarte, die mir vor jahren ein freund geschickt hat, auf der ein hässlicher mensch mit schlechtem herz zu sehen ist und welche ich kürzlich, als handele es sich um die bestmögliche ergänzung, neben das foto von hatun sürücü über meinen schreibtisch gehängt habe, womit wir wieder oder vielmehr noch immer mitten im thema sind. die postkarte ist eine gemäldereplikation und zeigt im zentrum einen herrn in roter uniform, seine füsse sind klobig, seine beine fette säulen, im schritt sieht er unter der enganliegenden hose aus wie eine frau. nach oben hin wird er immer kleiner, der brustkorb ist bereits sehr unbedeutend, trotz der goldenen uniformtroddeln, die hände sind die eines säuglings, der kopf sitzt auf dem fetten hals rund und glatt wie eine erbse mit schnäuzer. der gesichtsausdruck gleicht ebenfalls dem einer erbse. um die gestalt herum reihen sich weitere fette erscheinungen in militärgrün, ein mann auf einem spielzeugpferd, frauen, die dem roten bis zur hüfte reichen, ein kniegrosses kind mit säbel. alle haben ein gesicht, rund, dumm, erbsengleich. nur der pudel unten rechts sieht etwas lebhafter aus, er scheint zu grinsen. es handelt sich bei diesem bild um ein gemälde von 1971, genauer: das offizielle porträt der kolumbianischen militärjunta, gemalt von fernando botero. es ist das hässlichste bild, was ich je gesehen habe, und es erfüllt mich täglich mit mehr ehrfurcht, denn, auch wenn es unfaßbar scheint, scheint es so zu sein, daß der maler dem diktator sein metapyhysisches ebenbild, wie es abstoßender kaum sein könnte, als künstlerische abstraktion seiner größe verkauft hat, mit falschen engelszungen, unter lebensgefahr, und so den tyrannen unter dem vorwand der verherrlichung vor aller welt der lächerlichkeit preisgab. darüber kann man stundenlang weinen, vor bewunderung, natürlich. dann aber ist diese regung relativ schnell wieder vorbei, der blick auf die uhr zeigt, daß lediglich eine minute und 53 sekunden vergangen sind, das halbe leben steht bevor, noch immer, und hatun sürücü liegt noch immer in ihrem grab, und ich merke, daß ich ganz schön unter strom stehe, es ist höchste zeit, zu den blumen zurückzukehren, zur entspannung sozusagen.
ich betrachte die blüten und blätter und die dicken hummeln und die zahllosen geflügelten und ungeflügelten krabbelwesen, deren namen ich nicht kenne. ein schlanker, länglicher käfer verliert in einer frisch aufgeblühten rose den kopf, hektisch sich drehend, fast sich überschlagend, tastet er mit seinem rüssel alles ab, fällt beinahe herunter; kein wunder, ein wesen, daß sich hauptsächlich mit dem geruchssinn orientiert, mitten in einem frisch aufgeblühten rosenkopf. unbegreiflicherweise interessiert sich in meiner umgebung niemand für sowas. ein staksiges tier mit durchsichtigen flügeln, sieht aus wie eine mischung aus heuschrecke und schmetterling, marschiert zielbewußt und unbeirrt den langen stiel einer weißen lilie hinauf, deren blüte oben thront wie der unberührte schnee des mount everest. mein herz hüpft, mich streift die arglose achtlose vollkommenheit der natur, und, ich habe irgendwann mal platon gelesen, und noch andere sachen, ich denke, daß das doch ein spiegel sein muß, daß es das doch auch in uns geben muß, irgendwo, das schöne, die reinheit. auch wenn das schöne und die reinheit natürlich auf jeder kitschpostkarte zu haben sind, wobei ich als eingefleischter kitschhasser mit zunehmendem alter vermute, daß der kitsch die eigentliche höhere wahrheit ist, der ich mich nur allzu schmerzlich entfremdet habe.
während ich dies schreibe, fliegt vor meinem fenster immer wieder ein schmetterling, wahrscheinlich ist es jedesmal ein anderer, aber immer ist er weiß und fliegt von links nach rechts, das sehe ich aus dem augenwinkel; möglich, daß ich die, die von rechts nach links fliegen, einfach nicht sehe, weil mein eines auge schlechter ist oder mein gehirn einseitig strukturiert, ich gehe davon aus, beschränkt zu sein, und diese annahme beruhigt mich ungemein, genaugenommen ist sie sogar das einzige, was mich aufrecht hält, neben den blumen. jedes mal, wenn der schmetterling vorbeifliegt, meldet mein hirn, es kommt jemand, ein mensch, oder wenigstens ein hund, und diese verwechslung eines flüchtigen falters mit einem massiven domestizierten säuger müßte man in die liste der erfrischend belustigenden dinge aufnehmen, sie amüsiert mich ausgesprochen, ich irre mich, bewiesenermaßen sehe ich die dinge falsch, das tröstet mich mehr als alles andere, vielleicht gibt es hoffnung. allerdings hält die klarsicht der beschränktheit nicht länger vor, als der schmetterling braucht, an den blumen zwischen meinen unkräutern zu nippen und dann hinter den koniferen des nachbarn zu verschwinden, der blick auf die uhr informiert mich, daß ihre dauer auf eine minute und 53 sekunden beschränkt ist.
die wahrheit ist, daß es zwischen den blumen meines gartens häuserschnecken gibt, viel mehr schnecken als schmetterlinge, unglaublich weiche delikate wesen mit noch delikateren fühlern. sie sind, vorallem bei feuchtem wetter, überall, unter blättern, zwischen halmen, an steinen, man kann unmöglich alle sehen, also, durch die simple notwendigkeit, mich in meinem garten fortzubewegen, trete ich drauf. jetzt. es gibt ein krachendes geräusch und auf dem boden zurückbleibenden matsch mit kalksplittern, wo vorher ein zartes wesen mit noch zarteren fühlern war. das ist etwas anderes, als einer jungen frau auf offener straße drei kugeln in den kopf zu jagen, etwas anderes, als seine eigene schwester umzubringen, gewiss, etwas ganz, ganz anderes, doch bleiben das krachen im ohr und der schleim auf der netzhaut zurück als körperlose wunde.
man muss sich zusammenreißen, pflegte meine mutter zu sagen. auch meine großmutter sagte das. wie unzureichend. das einzige, was mir als trost einfällt, als eine art trost, falls es das gibt, trost, ist ein gedicht von blake, william, nicht über blumen, sondern über eine totgeklatschte fliege, in welchem er, ein wenig verkürzt, die behauptung aufstellt, wenn denken leben, und mangel an denken tod bedeutet, tot oder lebendig in etwa das äquivalent einer glücklichen fliege zu sein. das wünsche ich mir auf meinem grabstein, sowie im übrigen auch einen birnbaum und vergißmeinicht, soviel zum kitsch. und damit wären wir wieder bei den blumen, diesmal durch schicksalhafte, wenn nicht göttlich zu nennende fügung, in zusammenhang mit blake, william, gestorben 1827, der in einer blauen blume am wegesrand nur eines sieht, das einzig wahre, meine ich, und eben das, was ich auch sehe, vielmehr, eben nicht sehe, sehe wie durch eine wand, aus einer anderen welt, ahnend, aber abgetrennt, etwa so wie NIMM IHN DOCH, GIB IHN MIR HER, DEN VOLLEN MOND, WEINTE DAS KIND, aber das ist nicht blake, sondern ein gedicht von issa, kobayashi, gestorben 1827, ich bin sicher, die beiden hätten sich gut verstanden, auf jeden fall hätte es issa nicht gestört, daß blake vielen als geisteskrank galt, oder wenigstens als idiot. müßte man heutzutage nicht solche angst haben, schon bei kleinen anlässen unter psychopharmaka gesetzt zu werden, würde ich zugeben, daß ich die beiden dichter vor mir sehe, im jahre 1827, wie sie auf einer wolke gemeinsam in den himmel schweben, händchenhaltend. das ist bestimmt wieder der strom, unter dem ich stehe, nun gut, was blake sah, jedenfalls, in der zufälligen feldblume, einem unkraut, genaugenommen, war einfach himmel, nicht SKY, sondern HEAVEN. das reicht, um stundenlang zu weinen, vor ergriffenheit. dann jedoch gehtt diese regung wieder vorüber, schneller als man dachte, der blick auf die uhr zeigt, daß nur eine minute und 53 sekunden vergangen sind. das halbe leben steht bevor, immer noch, meine bluse hat schweißflecken, igitt, mein kleiner zeh tut weh, wahrscheinlich gebrochen, gebrochen vom leben, von der stuhlkante, vom kleinkind, mama, wie lange noch?, an der bushaltestelle in berlin tempelhof, wo hatun sürücü von ihrem bruder niedergeschossen wurde, welken unterdessen die vergißmeinicht, winzige kränze himmelweiten blumenblaus, dahinter eine unterwäschereklame von c&a, dahinter die hochragende wand modernisierter plattenbauten. der himmel gebe, daß die zeit vergeht, himmel!, welch eine kardinalsünde, das zu denken, darüber muß man doch stundenlang weinen, vor scham natürlich, aber dann ist diese regung doch recht schnell vorbei, schneller als man dachte, besser man guckt nicht auf die uhr.
man sollte sich nicht zusammenreißen. daß man nicht aufgeben darf, versteht sich von selbst. im angesicht des todes nicht, das ist schwer, und im angesicht des mordes nicht, das ist schwerer. das ist zu schwer, das kann man nicht schaffen, ich bin sicher, das man das nicht schaffen kann, denke ich, dabei fällt mir sogleich sheherazade ein, die ich als kind geliebt habe. nachdem der sultan, unter dessen herrschaft sie aufwuchs, ihre altersgenossinnen zu hunderten umgebracht hatte, eine nach der anderen, ging sie hin, heiratete den mann und erzählte ihm geschichten. er hörte er ihr drei jahre lang zu, tausendundeine nacht, wieviel mal eine minute und 53 sekunden?, danach mordete er nie wieder.
das ist alles höchst unwahrscheinlich. sogar verrückt. sheherazades schicksal ist das unmögliche nötige. ein märchen. das märchen handelt davon niemals aufzugeben.
5.Platz: Batgirl aus Bagdad - Cornelius Grupen
Otto von Reventlow ist der Geschäftsführer des Hans-Albers-Instituts für Völkerverständigung. Den Posten haben ihm die Freien Wähler als Trostpreis verschafft, nachdem er bei den Landratswahlen im Kreis Schleswig-Flensburg am charismatischen Vertreter der dänischen Minderheit gescheitert ist. Er hat die Visitenkarten und die Aufwandsentschädigung dankbar angenommen, aber nie geplant, sich ernstlich mit den Amtsgeschäften des Hans-Albers-Instituts zu befassen. Deswegen hat er beim Bundesamt für den Zivildienst einen Assistenten angefordert. Wie er das geschafft hat, weiß niemand so genau. Das Institut ist zwar gemeinnützig, hat aber eigentlich keinen Anspruch auf Zivildienstleistende. Doch nun habe ich sie schwarz auf weiß, die “Einberufung zum Ersatzdienst”. Ich habe mich schon siebenmal zurückstellen lassen und eigentlich nicht mehr mit dem Ernstfall gerechnet, aber nun ist er da. Ich stelle mich bei ihm vor.
“Ich bin nicht mehr der Jüngste, und ich will noch was vom Leben haben”, begrüßt mich der Alte. Auf seinem imposanten Schreibtisch steht ein Foto von Hans Albers samt Pfeife und Akkordeon.
“Und wie kann ich Ihnen dabei helfen?”, frage ich vorsichtig.
“Sie schmeißen den Laden für mich, und ich lass Sie in Ruhe”, sagt er.
“Für achtfünfzig pro Tag?”, frage ich.
“Ich leg noch zehn Prozent von meiner Aufwandsentschädigung drauf”, sagt er.
Ich erkundige mich nach den genauen Zahlen. Es stellt sich schnell heraus, dass seine Aufwandsentschädigung ungefähr dem Hundertfachen meines Solds entspricht. Das wären fast zwei Tausender zusätzlich für mich, bar auf die Hand. Jeden Monat. Zwei Jahre lang. Die Freien Wähler haben in solchen Sachen offenkundig mehr Spielraum als das Bundesamt für den Zivildienst. Ich habe keine weiteren Fragen. Ich gebe von Reventlow die Hand.
“Abgemacht”, sage ich.
“Willkommen an Bord!”, sagt er und reicht mir einen dicken Schlüsselbund. Ich lasse ihn versuchsweise um meinen Zeigefinger kreisen. Einmal, zweimal, dreimal. Fühlt sich ganz gut an.
Offiziell darf ich als Zivi allerdings keine Amtsgeschäfte übernehmen. Offiziell bin ich deshalb nur der zweite Assistent des Geschäftsführers, obwohl es keinen ersten gibt. Inoffiziell erledige ich die gesamte Veranstaltungsplanung, die Verwaltung der Gebäude und den laufenden Betrieb: Ausstellungen. Versammlungen. Vorträge. Feste. Seminare. Exkursionen. Irgendwas ist immer. Nur die Buchhaltung macht der Alte selbst. Er wird schon wissen, warum. Jedenfalls hat er jetzt sehr viel Zeit. Außerdem hat er sehr konkrete Vorstellungen davon, was es heißt, das Leben zu genießen. Also betrügt er seine Frau. Sie hat ihm drei Kinder geschenkt, die alle seinen guten Namen tragen. Das muss reichen, findet er. Die beiden leben sowieso getrennt. Sie stammt vom Bosporus, und er stammt aus dem Baltikum. Seinen zweiten Frühling verbringt er mit jungen Frauen aus der alten Heimat. Sie schweigt dazu. Eifersüchtig ist sie schon längst nicht mehr.
Was aber macht Otto von Reventlow? Er geht mit seiner neuen Freundin Elena aus Litauen zum Abonnentenkonzert in die Musikhalle. Elena hat ihn trotz der Gefahr brisanter Begegnungen mit Bekannten dazu überredet. Sie hat die Geheimniskrämerei wohl satt. Der Alte führt sie auch ganz gerne vor. Hohe Wangenknochen. Hohe Absätze. Hohes Risiko. Hätte er sich vorher das Konzertprogramm angesehen, hätte er wohl einen Rückzieher gemacht. Es ist die Premiere von Felix Dühses “Sonate für Schifferklavier und Nebelhorn”, eine Uraufführung unter Leitung des Komponisten höchstpersönlich. Dühse ist eine Art Popidol der kultivierten Kreise. Das lässt sich natürlich auch Frau von Reventlow nicht entgehen. Das Foyer der Musikhalle ist zwar weitläufig, aber leider nicht weitläufig genug. In der Pause laufen die Reventlows einander in die Arme.
“Willst Du mir die junge Dame denn nicht vorstellen?”, fragt sie ihren Mann.
“Äh, das ist Elena. Elena, meine Frau”, sagt der Alte. Was soll er auch sagen?
Elena zieht ihn zum Getränketresen, und Frau von Reventlow ergreift die Flucht, begleitet vom Getuschel gelangweilter Konzertbesucher, teils mitleidig, teils hämisch. Wegen der Premiere ist auch Franziska Binsen vom Holsteiner Herold gekommen, und zwei Tage später steht alles in ihrer Klatschkolumne ‘Böses Blut’. Das ist selbst für Frau von Reventlow zu viel an Demütigung.
Aus Rache drückt sie dem Alten eine Festveranstaltung ihrer Wohlfahrtsorganisation aufs Auge. So kommt das Hans-Albers-Institut zu einem Bauchtanzabend des Arabischen Kulturvereins. Frau von Reventlow, geborene Gibran, ist die Schirmherrin. Der Alte ist erleichtert. Er hat Schlimmeres befürchtet. Außerdem sind Veranstaltungen aller Art ja meine Sache.
“Also Bauchtanz, im Ernst?”, fragt er trotzdem seine Frau.
“Hast Du vielleicht etwas dagegen?”, fragt sie zurück.
“Ach was. Ich tue alles für die Völkerverständigung”, sagt er.
“Besonders, wenn es um baltische Blondinen geht”, giftet sie.
“Fängst Du schon wieder davon an?”, fragt er.
“Nicht, wenn Du Dein Versprechen hältst”, sagt sie.
“Darum kümmert sich der Zivi”, sagt er.
“Typisch”, sagt sie, “Deine Suppe dürfen immer die anderen auslöffeln.”
Sie mustert mich misstrauisch.
“Wissen Sie von seinen Abenteuern?”, fragt sie mich.
“Nur, was in der Zeitung steht”, sage ich wahrheitsgemäß.
“Schlimm genug”, sagt sie.
Bauchtanz klingt eigentlich gar nicht schlecht. Ich hoffe auf einen lustigen Abend bei geringem Aufwand, aber Pustekuchen. Vier Wochen vor dem Termin kommt Frau von Reventlow vorbei, um “die Räumlichkeiten zu inspizieren”. Sie geht mir schon nach zehn Minuten so auf den Geist, dass ich sie am liebsten in den Müllschuppen sperren würde. Stattdessen zeige ich ihr den Saal.
“Wo werden Sie denn die Kulissen aufstellen?”, fragt sie.
Kulissen? Ich versuche, durch verständnisloses Blinzeln Zeit zu gewinnen.
“Muss das Licht hier denn so grell sein?”
Ich drehe am Dimmer, aber sie ist nicht zufrieden.
“So sieht man ja die Bühne kaum.”
Das kann ja heiter werden. Ich schiebe sie sanft, aber entschlossen aus dem verglasten Saal und schließe von innen ab.
“Morgen kommen wir zur Probe”, schreit sie von draußen durch die Scheibe. Wir? Wieso wir?
“Morgen ist Samstag”, schreie ich zurück, aber da ist sie schon verschwunden. Ich sehe zur Uhr. Der letzte Bus ist weg. Ich schlafe in der Kellerbar.
Am nächsten Morgen steht sie wieder vor der Tür, und sie hat ein hübsches Mädchen mitgebracht. Ein sehr hübsches Mädchen. Ich schließe auf.
“Darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen?”
Tochter? Ich höre wohl nicht richtig.
“Ich bin Selma”, sagt das Mädchen und pustet sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht.
“Ich bin der Zivi”, sage ich. Geht es noch debiler? Selma drückt mir eine CD in die Hand.
“Das ist die Musik”, sagt sie.
“Selma ist die Tänzerin”, sagt Frau von Reventlow.
“Wo kann ich mich denn umziehen?”, fragt Selma.
Umziehen? Das wird ja immer besser. Ich zeige ihr die Garderobe und verschwinde in den Regieraum. Ich setze mir die Kopfhörer auf und lege die CD ein. Mehr Michigan als Morgenland, aber es klingt nicht schlecht. Ich drehe den Pegel so weit hoch, dass es fast schon schmerzt.
“Licht!”, keift Frau von Reventlow durch das Saalmikrofon direkt in meine armen Ohren.
Ich schalte, sehe und staune. Selma hat sich umgezogen. Ihr Kostüm ist sehr modern. Fast futuristisch. Ich hatte Schleier, weite Hosen und Schnabelschuhe erwartet. Stattdessen trägt sie wadenhohe schwarze Stiefel, einen hautengen schwarzen Overall und ein schwarzes Halsband. Ein Batgirl aus Bagdad.
“Musik!”, verlangt ihre Mutter. Ich lege den Ton auf die Lautsprecher im Saal, und Selma legt los. Mit Bauchtanz hat das nichts zu tun. Viel athletischer. Und aggressiver. Sie macht eine Sache mit ihrem Becken, die mich sehr beschäftigt. Es sieht aus, als würde sie zu einem Sprung ansetzen, es sich aber in letzter Sekunde anders überlegen. Der Effekt ist umwerfend. Das zweite Stück ist langsamer. Dazu macht sie Hoola-Hoop-Bewegungen. Ohne Reifen. In Zeitlupe. Ich bin verliebt.
Nach der Probe ist sie verschwitzt und will duschen. Ich schließe ihr eines der Zimmer im Gästetrakt des Instituts auf. Die Zimmer werden sonst an Seminargäste vermietet, aber im Moment steht alles leer. Sie setzt sich aufs Bett und zieht die Stiefel aus. Ich bleibe in der Tür stehen. Ich würde ihr gerne aus dem Kostüm helfen, aber das kann ich ihr ja schlecht anbieten.
“Ist noch was?” fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie hat echte Augenbrauen. Nicht abrasiert und aufgemalt wie bei den Schminkteufeln, denen ich morgens im Bus gegenübersitze.
“Nein, nein, entschuldige”, stammle ich und merke, wie ich rot werde. Rückzug.
Als sie aus der Dusche kommt, glänzen ihre Haare wie in der Shampoo-Werbung. Bestimmt benutzt sie eine sündteure Spezialspülung, aber ich finde, es ist gut angelegtes Geld. Sie steht vor dem Spiegel im Foyer und begutachtet unentschlossen ihre nassen Ponyfransen. Schließlich streicht sie die Haare aus dem Gesicht und macht sich einen Pferdeschwanz mit dem schwarzen Gummidings, das ich bisher für ein Armband gehalten habe. Sie ist die Schönste im ganzen Land.
“Was glotzt Du, Zivi?”, fährt sie mich an. Es klingt nach Verachtung, aber sie meint es nicht so.
Die Proben dauern fast zwei Wochen. Ich verpasse keine einzige, obwohl Frau von Reventlow mich wahrlich nicht schont. Sie erklärt mir die Rahmenhandlung. Der Pascha habe die Prinzessin in seinen Palast verschleppt, wolle ihr aber die Freiheit schenken, wenn sie für ihn tanzt.
“Das ist sozusagen ein feministisches Manifest”, sagt sie.
“Eine Frau als Gefangene?”, frage ich.
“Schönheit als Waffe!”, sagt sie.
Meinetwegen. Nachdem ich Selmas Auftritt gesehen habe, glaube ich nicht, dass sich jemand ernsthaft für die Rahmenhandlung interessieren wird, aber ihre Mutter besteht auf einer prächtigen Palastkulisse mit allen Schikanen. Nur kosten darf das Bühnenbild natürlich nichts.
“Wir brauchen ein Minarett”, sagt sie. Ich hole Bierfässer aus der Kellerbar und stapele sie zu einem Turm, aber die Fässer sind ihr zu bauchig.
“Wir brauchen Halbmonde für die Turmspitzen”, sagt sie. Ich wickle ein paar Bananen in Alufolie, aber die sind ihr zu mickrig.
“Wir brauchen Blumen für den Palastgarten”, sagt sie. Ich schleppe aus dem ganzen Haus Büropflanzen an, aber die sind ihr zu traurig.
Dann habe ich die rettende Idee. Ich schiebe den Wagen mit dem Diaprojektor hinter die gesammelten Requisiten, baue ein Gerüst aus Garderobenständern und hänge Tischdecken aus der Institutskantine davor. Ich schalte den Projektor ein. Der Schattenriss sieht super aus.
“Fertig ist das Serail”, sage ich. Sie schüttelt den Kopf.
“Wir brauchen noch Sitzkissen”, sagt sie.
“Sitzkissen gehen nicht”, sage ich.
“Und wieso nicht?”, fragt sie.
“Brandschutz”, sage ich und verziehe mich in den Regieraum. Da hört man das Gezeter nicht.
Es ist, als hätte ich eine Schwiegermutter, aber keine Frau. Pflichten, aber keine Rechte. Ich soll immerzu Getränke bringen, die ich privat bezahlen muss. Zwischen den Proben wasche ich die Handtücher und das Bettzeug aus dem Gästezimmer. Das orientalische Bühnenbild darf ich wegen anderer Veranstaltungen ständig ab- und wieder aufbauen. Eine Ehe ohne Extras.
Ein paar Tage vor der Aufführung – ich sitze wie immer im Regieraum – steht überraschend von Reventlow in der Tür. Wochenlang hat er sich nicht gemeldet. Nach dem Eklat in der Musikhalle ist er mit Elena erstmal in sein Ferienhaus an der Ostsee verschwunden.
“Na, wie laufen die Proben?”, fragt er.
“Ziemlich mühsam”, sage ich.
“Lohnt die Mühe sich denn?”, fragt er.
“Sehen Sie selbst”, sage ich und deute durch die Scheibe nach unten in den Saal.
Selma ist dort gerade mit einem Standspagat beschäftigt. Sie hat ein Bein gestreckt an das Bierfassminarett gelehnt und berührt mit beiden Händen ihre Stiefelspitze. Durch das enge Kostüm zeichnet sich ihre Wirbelsäule ab, wie eine schwarze Schlange. Sie wechselt das Bein.
“Oh”, sagt der Alte.
“Ja”, sage ich.
Plötzlich dreht Selma sich um, und von Reventlow erkennt seine Tochter. Sie dagegen sieht weder ihn noch mich, denn von außen ist die Scheibe verspiegelt. Sie fährt sich mit den Händen durch die Haare und macht dann diese Sache mit ihrem Becken. Der Alte wird blass. Seine Frau hat ihm wohl nichts gesagt.
“Oh”, sagt er noch einmal und verschwindet. Danach lässt er sich bei den Proben nicht mehr blicken.
Ich selbst verbringe den Abend der Aufführung in der Kellerbar. Erst nach dem Schlussapplaus traue ich mich nach oben in den Saal. Selma sieht gefährlich aus. Das liegt wohl am Kajal und an den falschen Fingernägeln. Nach erfolgreicher Flucht aus den Fängen des Paschas ist sie nun von Bewunderern aller Arten und Altersklassen umringt. Die Mädchen wollen ihr Autogramm. Die Jungs wollen ihre Nummer. Die Mütter wollen wissen, wo sie sich die Haare schneiden lässt.
Selma verscheucht ihre Verehrer wie lästige Parasiten und verschwindet in der Garderobe. Ich warte auf sie. Es dauert sehr lange. Schließlich steht sie in Jeans und T-Shirt vor mir, ausgelaugt und abgeschminkt. Sie sieht müde aus. So gefällt sie mir noch besser als mit Kampfanzug und Kriegsbemalung. Ich halte ihr eine Schachtel Marzipan hin. Mädchen mögen Marzipan. Oder?
“Für Dich”, sage ich. Sie sieht mich entgeistert an.
“Du willst wohl, dass mir eine Wampe wächst?”
Ist das ein Witz? Es ist kein Witz. Ich schüttele den Kopf. Sie wirft die Schachtel hinter sich. Hätte ich mir denken können. Vermutlich ernährt sie sich von Datteln und Joghurt. Letzter Versuch.
“Sehen wir uns denn trotzdem wieder?”
Ich halte die Luft an. So lange sie nicht antwortet, ist noch nichts verloren.
“Du spinnst ja”, schnaubt sie und lässt mich stehen. Ich habe nichts anderes erwartet. Sie ist der Star, und ich bin nur der Zivi. Ich sehe ihrem wippenden schwarzen Pferdeschwanz nach. Schade. So schöne Haare, und so ein hartes Herz. Vor dem Institut wartet ihr Vater, stolz wie nie, und nimmt sie in den Arm. Sie steigt zu ihm ins Auto. Alles hat wieder seine Ordnung. Selma ist weg.
Ich gehe zurück in den Saal, um auch dort Ordnung zu machen. Zwischen den Kulissen entdecke ich Elena, blond und blass und fassungslos. Sie sitzt auf einem Bierfass und starrt dem Auto nach.
“Er hat mich einfach stehen lassen”, sagt sie.
“Willkommen in meiner Welt”, sage ich.
“Wegen der Tanzmaus!”, sagt sie.
“Die Tanzmaus ist seine Tochter”, sage ich.
“Seine Tochter?” fragt sie verwirrt.
“Seltsame Geschichte”, nicke ich. Elena sieht mich lange an.
“Wollen wir was trinken?”, fragt sie schließlich.
Wir haben beide schon genug getrunken, aber wir gehen trotzdem in die Kellerbar.
6.Platz: Las Vegas - Stefan Gieren
Auch heute ist der Mittagsschlaf seines Vaters nicht tief genug. Er packt den kleinen Dieb beim Handgelenk und der windet sich geübt aus seinem Griff und rennt aus dem Wohnzimmer. Vorbei an der Küche, vorbei an der Mutter, die ihm hinterherruft “Jami! Vergiss nicht das Mehl!”. Hinaus ins Freie.
Jami atmet schwer, als er bei seiner kleinen Freundin Leila ankommt, die am Brunnen auf ihn wartet. In einer kleinen Staubwolke kommt er zum Stehen und auf ihren fragenden Blick schüttelt er den Kopf: wir müssen es ohne Schlüssel versuchen!
Die beiden Kinder ziehen zu dem Steinacker, auf dem der Pickup vor langer Zeit abgestellt wurde. Jami zieht eine abgegriffene Postkarte aus seiner Hosentasche. Sie ist von seinem Bruder. “LAS VEGAS” steht in grellbunter Schrift quer über eine Collage aus Impressionen, die hier in der staubigen Einöde von Palästina wie aus einem Paralleluniversum erscheinen. Die Springbrunnen vor dem Bellagio. Die Gondoliere des Venetian. Die Automaten im Caesar’s Palace. Siegfried & Roy & ihre Tiger und der legendäre Strip aus der Perspektive eines 1952er Cadillac Fleetwood.
Jedes Detail auf dieser Karte kennt Jami. Er hat sie wieder und wieder studiert. Mit dem Vergrößerungsglas. Er hat sie betastet und beschnuppert. Mittlerweile weiß er Leila viel über Amerika zu berichten.
Zum Beispiel, dass es in Las Vegas immer Nacht ist – wegen der rießigen Sonnenschirme, die man über der Stadt aufgespannt hat. Und warum die Briefmarke nicht in Las Vegas abgestempelt wurde sondern in Tucson. In Las Vegas gibt es genauso wenig ein Postamt, wie in ihrem Dorf. Es liegt ja auch in der Wüste.
Überhaupt ist Las Vegas im Grunde wie ihr kleines Dörfchen. Nur eben viel größer und schöner. Auch durch Amiriyaa zieht sich eine schnurgerade Straße wie der Strip. Der Brunnen steht für das Bellagio und auch hier gibt es Palmen – und früher einmal Tiger. Wenn man seinem Großvater glaubt.
Sorgfältig kontrolliert er den Füllstand des Tanks und schraubt mit scheinbar geübtem Blick an den Zündkerzen im Motorraum des Pickups, während er Leila von seinem Bruder erzählt. Vor 5 Jahren ist der nach Amerika geflüchtet. Und seither schickt er diese Postkarten. Er ist ein reicher Mann geworden in Übersee und eines Tages wird auch Jami nach Amerika fliehen. In dem alten Truck seines alten Herrn.
Da erwischt ihn sein Vater.
Wütend zieht er Jami aus dem Auto und drischt mit der flachen Hand auf ihn ein: Taugenichts. Spielt an diesem Häufchen Schrott, während die Mutter sich zu Hause den Rücken krumm und die Hände blutig scheuert. Denn natürlich hat Jami vergessen, das Mehl für das Fladenbrot aus der Mühle abzuholen.
Mitten in die wütenden Tirade platzt ein Geräusch, dass die Bewohner des Dorfes nur allzu gut kennen. Das bissige Flapp-Flapp-Flapp der Rotorblätter eines Kampfhubschraubers im Sinkflug. Wegen der nahen Anhöhe werden sie oft von der israelischen Armee überflogen. In Amiriyaa steht man unter dem Generalverdacht, Terroristen Unterschlupf zu gewähren.
Instinktiv ziehen Vater und Sohn den Kopf ein. Doch dieses Mal ist das Geräusch anders als sonst. Es klingt unwuchtig – irgendwie ungesund. Der Apache-Helikopter, der über ihre Köpfe donnert, brennt und schlingert. Mit stockendem Atem sieht Jami der furchteinflössenden Maschine hinterher. In einem majestätisch anmutenden Wirbeln und Tanzen verschwindet sie hinter einem Hügel aus seinem Sichtfeld, nur um wenige hundert Meter weiter krachend in die Erde einzuschlagen.
Mit einer bösen Vorahnung rennt Jamis Vater in Richtung des Dorfes. Der Helikopter kann nicht weit davon entfernt zu Boden gegangen sein. Ein blasses: “Hol das Mehl!” stottert er Jami noch entgegen. Dann ist er weg.
Mühsam schleppt Jami den Mehlsack ins Haus. Er ist schwerer als sonst.
Überrascht schaut der Junge auf ein Meer aus Straßenschuhen, das auf dem Teppich im Hauseingang auf ihre Besitzer wartet. Nicht feinsäuberlich aufgereiht wie sonst, wenn sie Besuch bei sich empfangen, sondern wild durcheinandergeworfen.
Aus dem Wohnzimmer hört er Stimmen, die aufgeregt durcheinander reden.
Neben seinem Vater erkennt Jami Ismail, den Dorfarzt und mehrere Bauern. Es sind diese Männer, die sich am souveränsten Gehör verschaffen, aber auch sonst scheinen viele der Anwesenden das Bedürfnis zu haben, ihre Meinung zu äußern.
Etwas langsamer als nötig schleift der Junge den Mehlsack in die Küche. Auf Höhe des Wohnzimmers bleibt er kurz stehen. In dem Raum drängen sich die Männer des Dorfes.
“Wer auch immer geschossen hat. Auf uns wird nachher alles zurückfallen.” – “Wenn wir anfangen, etwas zu verbergen, dann werden wir uns nachher nicht hinter unserer Unschuld verstecken können.” – “Nach Schuld oder Unschuld fragt keiner mehr, wenn die Panzer erstmal hier sind.”
Der Vater bemerkt Jamis neugierigen Blick, macht zwei schnelle Schritte zur Tür und wirft sie zu.
In der Küche wartet seine Mutter mit einem Tablett. Eine dampfende Suppe, ein warmes Brot und ein Stückchen Fleisch mit einer Kartoffel und etwas Soße in einem eigenen Schälchen.
“Da bist du ja, Jami. Du musst mir helfen!”
“Für wen ist das?” fragt Jami.
“Ich zeige es dir.”
Leise führt seine Mutter Jami durch die Räume des verwinkelten Lehmhauses, bis in eine abgelegene Kammer im obersten Stock. Vor der geschlossenen Tür bleibt sie stehen. Mit einem Nicken deutet sie auf das Zimmer:
“Hilf ihm ein wenig beim Essen. Er ist sehr schwach.”
In dem Zimmer muss ein fremder Mann sein – Jami weiß, dass seine Mutter von hier aus keinen weiteren Schritt mehr machen würde. Als er nickt, wendet sie sich um und lässt ihn alleine.
Vorsichtig öffnet Jami die knarzende Tür. Im Inneren ist es schummrig. Trotzdem erkennt der Junge sofort die schwer atmende Gestalt auf dem improvisierten Matrazenlager im Eck.
Ein israelischer Pilot liegt da und ganz offensichtlich ist er verwundet. Er schwitzt stark und auf seiner sandfarben gefleckten Uniform deuten Blutflecken auf mehrere verdeckte Verletzungen hin.
Mit einem Arm angelt sich Jami einen Hocker und stellt ihn an das Kopfende des Lagers. Das Tablett mit dem dampfenden Essen soll möglichst nahe bei dem verwundeten Piloten stehen. Ganz offensichtlich hat ihn der Mann überhaupt noch nicht wahrgenommen.
Die Suppe steht einige lange Sekunden unberührt da, bis Jami sich traut, neben den fremden Soldaten zu sitzen, den Löffel für ihn in die Hand zu nehmen und ihm einen Schluck an die ausgetrockneten Lippen zu führen.
Der salzige Duft und die Wärme an den Lippen bringen den Verletzten wieder ein wenig zu Bewusstsein. Als ob es die größte denkbare Kraftanstrengung bedeutet dreht er den Kopf ein wenig ein und öffnet die Lippen gerade weit genug, dass Jami ihm den Schluck auf die Zunge fließen lassen kann.
In den langen Sekunden, bis der Verletzte die Brühe schluckt, beobachtet Jami ihn aufmerksam. Der Mann dürfte in etwa so alt sein, wie Jamis ältester Bruder. Er hat Bartstoppeln und wirres, verschwitztes Haar. Auf seinen Schulterklappen prangt ein schräger Streifen und ein Stern, der ihn als Offizier ausweist. Ein Aufnäher auf der Brust benennt ihn als “A. Levin”.
Er hatte sicher nicht damit gerechnet, dass ihn sein Tag in dieses Haus führen würde. Das muss Jami unweigerlich denken. Sonst hätte er sich rasiert.
Langsam richtet der Soldat seinen Blick auf Jami. Der ist jetzt klarer und seine Lippen, formen ein stimmloses “Thank you” zusammen mit der Andeutung eines Lächelns. Ganz so, als wäre es Jami, dem man jetzt Mut zusprechen müsste.
Jami antwortet ebenfalls kaum hörbar: “Welcome”. Da geht die Türe mit einem Schwung auf. Gefolgt von einem schnellen Klopfen an die ohnehin schon geöffnete Tür. Im Eingang zu der engen Dachkammer steht Ismail, der Arzt des Dörfchens.
“Du kannst jetzt gehen” sagt er stoisch zu Jami, ohne ihn dabei anzugucken. Jami wirft noch einen Blick auf den Piloten. Es wird ihm erst in diesem Augenblick bewusst: Der fremde Soldat ist ein Gefangener. Ein Feind. Das Dorf befindet sich jetzt im Krieg.
Unten hat sich die Versammlung aufgelöst und die Familie sitzt beim Abendessen. Jami setzt sich schweigend dazu.
Eine Weile essen sie schweigend, dann tritt Ismail ein. Jamis Mutter macht sofort Anstalten, aufzustehen und dem Arzt ihren Platz zu räumen. Doch der bedeutet ihr, sitzen zu bleiben. Er will den Vater sprechen. Die beiden Männer stellen sich in den Flur und beratschlagen. Kaum hörbar im Esszimmer zwischen dem Klappern der Löffel auf den Tellern. Aber Jami, spitzt die Ohren – er muss wissen, was die beiden Männer besprechen und Fetzen kann er tatsächlich verstehen.
Ismail ist überzeugt davon, dass der Pilot sterben wird. So Gott will erscheint das beiden als die beste Lösung. Jamis Vater betont, dass er keine Ahnung hätte, was man sonst mit ihm anstellen solle. Ismail verweist auf die Hizbullah – die wissen schon, wie sie eine so wertvolle Geisel für ihre Zwecke einsetzen könnten. Vielleicht würde man ein Exempel an dem Piloten statuieren. Vielleicht würde man mit seiner Hilfe auch eine ansehnliche Gruppe palestinensischer Gefangener freipressen können. Immerhin haben sie da einen Offizier.
Ein Tumult im Hof unterbricht das Gespräch. Nur Sekunden später wird die Eingangstür aufgerissen und einer der Dorfbewohner streckt den Kopf herein.
“Sie kommen. Ein Konvoi. Mit Jeeps und Panzerfahrzeugen.”
“Wo?”
“An der Absturzstelle. Ein paar haben sich aber auf den Weg zu uns gemacht.”
“Schnell. Wir müssen ihn verstecken. Kommt! Jami! Du auch!”
Sie hetzen nach oben zur Kammer und beeilen sich, einen Wandschrank so vor die Türe zu wuchten, dass sie dahinter verborgen ist. Doch ehe sich Jami versieht, schiebt ihn sein Vater in das Zimmer zu dem Gefangenen und zischt: “Sieh zu, dass er still ist.”
Im Inneren hört Jami noch das Kratzen des Schrankes an der Türklinke und einige sich enfernende Schritte. Dann ist es still.
Jami wirft einen Blick aus einer Fensterluke. Da laufen einige Männer hin und her. Aber von Soldaten ist da keine Spur.
Als er sich wieder umdreht, um nach dem Piloten zu schauen bemerkt Jami, dass der ihn schon die ganze Zeit beobachtet. Matt und mit flachem Atem, auch einige der Blutflecken auf der Uniform scheinen größer geworden zu sein, aber den Blick ruhig und konzentriert auf den Jungen geheftet.
Mit brüchiger Stimme stellt er eine Frage auf hebräisch, die Jami nicht versteht. Jami schüttelt den Kopf.
Der Soldat versucht es in einer anderen Sprache: “English?” Jami nickt vorsichtig.
“What will they do to me?”
Jami versteht die Frage und er meint, die Antwort sehr genau zu kennen. Er wendet den Blick ab.
Der Soldat lässt nicht locker:
“I am injured. I need to go to a hospital.”
Jami reagiert nicht. Es fällt ihm schwer, kühl zu bleiben.
“Do you have access to a phone?”
Jami hält das jetzt nicht mehr aus. Was hat er mit den Problemen und Fehlern seines Vaters zu tun? Er geht geradewegs zur Tür, nur um erinnert zu werden, dass die von außen blockiert ist.
Der Pilot stöhnt auf und stößt ein “I’m sorry” hervor. Als würde ihm langsam die Kraft ausgehen, sackt er in sich zusammen. Der Anblick ist für Jami unausstehlich.
Um wenigstens irgendetwas zu tun, geht Jami zurück zu dem Lager und gibt dem Gefangenen einige Schlucke zu trinken. Dann sinkt auch Jami in sich zusammen. Verzweifelt lehnt er sich gegen das provisorische Krankenlager und fingert aus seiner Tasche die Postkarte seines Bruders. Irgendetwas. Einfach irgendetwas, um sich daran festzuhalten. Dass ist das was Jami in diesem Augenblick braucht.
So findet ihn sein Vater. Jami ist verwirrt. Er muss eingeschlafen sein. Er hat keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen ist, doch er spürt, dass es draußen schon dunkel sein muss. Sein Vater bedeutet ihm mit einer Kopfbewegung, aus dem Zimmer zu kommen.
Jami richtet sich mühsam auf und wirft noch einen Blick auf den Piloten. Er sieht nicht gut aus. Seine Stirne ist schweißbedeckt und er zuckt leicht in einem unruhigen Schlaf.
Auf dem Weg nach unten spricht ihn sein Vater an:
“Ich bin stolz auf dich, Jami. Du hast dich heute wie ein richtiger Mann verhalten.”
“Warum können wir ihn nicht einfach laufen lassen?”
“Das geht dich nichts an, Jami.”
“Aber er wird sterben, wenn wir ihm nicht helfen.”
Jamis Vater fast ihn sanft an der Schulter.
“Ich hoffe, dass er stirbt. Wir müssen ihn sonst morgen der Miliz übergeben und die werden nicht gut mit ihm umgehen. Es ist besser so.”
Jami beisst die Lippen zusammen. Der Vater lächelt ihn an.
“Das sind die Zeiten, in denen wir leben. Wir haben diesen Krieg nicht angefangen.”
Er gibt ihm einen Klaps auf den Rücken.
“Geh jetzt schlafen.”
Er drückt seinen Sohn noch einmal fest an sich und dann gehen sie auseinander.
In seinem Bett wälzt sich Jami hin und her. Er kann einfach nicht schlafen. Die Postkarte von Las Vegas hält er immer noch fest umklammert.
Schließlich hält er es nicht mehr aus.
Jami steht auf und zieht sich an. Die Postkarte steckt er fein säuberlich in die Gesäßtasche seiner Jeans. Dann schleicht er sich aus dem Zimmer.
Dieses Mal wird er ihn bekommen! Jami beugt sich über seinen schlafenden Vater. So oft hat der 10-jährige schon versucht, ihm den Autoschlüssel für den verstaubten Pickup aus der Westentasche zu ziehen, der am Rand des abgelegenen palestinensischen Dörfchens vor sich hin rostet.
Und dieses Mal schafft er es tatsächlich. Nahezu lautlos gleitet der Schlüssel aus der Tasche des Vaters in die Faust des Jungen, der ihn umschließt wie einen heiligen Gegenstand.
Dann schleicht sich Jami vorsichtig aus dem Zimmer und schließt die Türe sorgfältig.
Das Mondlicht, das in die Dachbodenkammer fällt, bringt das verschwitzte Gesicht des Piloten zum Glänzen.
“Mr. Levin!” Immer stärker rüttelt Jami an der Schulter des Piloten, bis der halb wach und halb im Wahn die Augen aufreisst.
“Mr. Levin. We have to leave now.” Jamis Worte dringen nur halb zu dem Verletzten durch.
“You have to help me. You must walk.”
Jami schiebt die Füße des Piloten von dem Lager und zerrt an ihm, bis der seinen Bewegungen folgt und unter heftigem Stöhnen sein Gewicht auf Jamis Schulter verlagert. Der Junge kämpft um sein Gleichgewicht.
Allmählich kommt soetwas wie ein Bewusstsein zurück in den Piloten. Mit zusammengebissenen Zähnen und balanciert er sich auf Jami gestützt durch das Haus.
Scheinbar endlos. Meter für Meter. Über den Hof. Das Bellagio zur Linken. Gerade den Strip herunter. Am Caesar’s Palace rechts ab. Außer Atem kommentiert Jami den Weg, um den Piloten wach zu halten.
Noch nie hat sich Jami so sehr über den Anblick des Pickups gefreut wie heute Nacht. Mit letzter Kraft wuchtet er den Verletzten auf die Ladefläche. In einem letzten Spurt nimmt er die paar Meter zur Fahrertür. Setzt sich hinein und greift nach dem Schlüssel. Dies ist sie: die eine Fahrt, die ihn weg bringen wird von hier. Die eine Fahrt, von der er so lange geträumt hat.
Jami steckt den Schlüssel ins Schloss und klemmt die Postkarte aus Las Vegas an den Rückspiegel. Dann schließt er die Augen: Der Wagen wird anspringen. Er muss – Insha’ Allah.
7.Platz: Strandgut - Nikolaus Neu
Aber erst einmal bringe ich die Füße nicht hoch, weiß aber genau, wo sie hingehörten, in diese Vertiefung, auf diese Schuppe, denn durch Spreizen brächte man ja Druck auf den Fels, ja, es stimmt, zum hundertsten Mal, der wichtigste Muskel, das ist der Kopf, und der Kopf, der will heute nicht und kann heute nicht. Achte Seillänge. Der Fels ist kleinsplitterig und abdrängend. Und alles leuchtet in Gelb. In schönstem Dolomitengelb. Die ganze Südwand, die wie ein riesiger Hohlspiegel wirkt, die Lärchenwiesen 300 Meter unter mir und die Sonne sowieso. Sebastian hört wieder mal nicht, dass er das Seil einziehen soll, weil er sich sein i-Pod in die Ohren gestopft hat, aber was soll´s, ich denke einfach an letztes Jahr. Da war alles so schön, da bin ich raufgeturnt in Shorts und Oberteil, schon beim Herfahren haben wir uns mit hundertzwanzig Watt Slipknot aufgewärmt, und über den Steinschlag haben wir nur gelacht und Fotos gemacht, die Kristin und ich, viel besser als die Fotos, wo ich für diesen Bergsportausrüster posieren musste – Gott war das anstrengend. Mal in Goretex, mal in Daune, Stunden und Stunden und tausende Bilder, bis endlich Licht und Schatten zusammengestimmt haben, und dann die ganze Session nochmal mit Stirnband und Stirnlocke – aber da wusste ich, dass diese Welt nicht die meine ist, trotz der 300 Euro pro Tag. Aber jetzt bin ich endlich am Stand. Ganz automatisch macht mich Sebastian an dem einzigen Ringhaken fest, dein Gewicht hält der locker, lacht er noch, nimmt das Material von meinem Gurt und ist schon wieder weg.
Der Rest der Tour ist zwar bis auf den Doppelüberhang nicht mehr schwer, und trotzdem, ich reiße mich nicht um den Vorstieg. Und habe dazu noch den Kopf frei für meine Story. Für meine Therapiesitzung. Der Nöllinger würde jetzt sagen, Frau Doktor Solleder, Sie sind doch Chemikerin, also bringen Sie es bitte auf den Punkt. Einen einzigen Satz bitte! Das Dumme ist, wenn sich die Wahrheit auf einen einzigen Satz reduzieren lässt, krieg ich immer ein Problem mit der Wahrheit. Sonst hätte ich Bernhard ja auch schon längst gesagt, dass das mit der Liebe nicht so weit her ist. Jedenfalls nicht bei mir. Und schon hat Sebastian wieder Stand, Mensch bist du heute schnell, ich löse die Sicherung und starte los. Die Verschneidung weitet sich, also jetzt erst recht Beine auseinander, den Spagat, ich kann ihn immer noch, und trotzdem stecke ich nach fünf Metern wieder fest. Ich muss mich strecken, verliere Körperspannung, dieser dämliche Tritt ist viel zu weit drüben, und letztes Jahr, da war das alles so leicht, aber jetzt hab ich´s endlich kapiert, Stützgriff lautet das Passwort und alles löst sich auf. Entschuldige, sage ich, als ich endlich bei ihm bin, heute ist nicht mein Tag, ja, hat er gemeint, das kenne ich, da würdest du am liebsten einpacken und heimgehen, und während er das sagt, sortiert er Schlingen und Klemmkeile, schnorrt noch etwas Magnesium aus meinem Beutel und verschwindet um die Kante.
Also. Wie fange ich an? Vielleicht so. Bei uns in der Analytikabteilung ist zurzeit alles krank. Der gutmütige Nöllinger ist zwar immer noch mein Chef, aber seit einem halben Jahr gibt es da einen, der sich für den neuen Leithirsch hält. Du kennst ihn sogar von der Zeitung, errätst aber nie, wer es ist. Der abgesägte Chef von der Inneren. Er soll für irgendwelche klinischen Studien gut bezahlt worden sein und auf über 300 Publikationen draufstehen, ohne zu wissen was drinnensteht. Und jetzt hat er bei uns Asyl gefunden. Genommen haben sie ihn natürlich nur aus Publicitygründen. Professor Sailer, der prominente Gastroenterologe, beglückt ab sofort unsere Abteilung. Die Ärzte, die unsere Hochglanzbroschüren lesen, sind ja dumm genug und lassen sich von sowas beeindrucken. Aber die Insider belächeln ihn. Es sei unglaublich, was das Meer so alles anschwemme. Welches Strandgut. Eine Firma könnte sich so einen nie leisten. Ein Konzern aber schon. Aber dummerweise reichen seine Kontakte bis zur Zentrale in Cleveland. Wie soll ich ihn beschreiben? Clever. Smart. Und aalglatt natürlich. Einer, der sich nur mit wichtigen Menschen abgibt. Mal im Nadelstreif, mal im Steirer. Erst war ich noch ganz stolz, dass er mich auf einen Espresso ins Büro geholt hat, auch wenn sein Parfüm etwas störend war. Bei der Weihnachtsfeier hat er mich dann gleich nach dem offiziellen Teil zum Tanzen geholt, und ich sage dir, geführt hat er mich wie ein Weltmeister. Das hat mich fasziniert und angewidert zugleich. Diese ach so tollen Tänzer haben ja sowas schnöselig-Dressurreiterhaftes an sich. Und irgendwann ist er nur noch auf mir draufgeklebt. Warum tust du das, hat mich die Corinna am Montag dann gefragt, du kommst doch sonst auch immer mit deinem Scheiß-Männer-die-nur-das-Eine-wollen. Der ist ja gar nicht mein Typ, habe ich geantwortet, und außerdem sei es nur reine Blödelei, schließlich sei er verheiratet und habe zwei Kinder und ich einen Freund, und außerdem brauche ich ihn ja noch, du weißt ja. Danach, aber das hab ich der Corinna nicht mehr erzählt, hat er sich einfach zu mir ins Taxi gesetzt und wollte mit in die Wohnung. Das ginge nicht, weil meine Eltern hier seien, habe ich gelogen, und überhaupt… Warum ich ihm aber verschwiegen habe, dass ich einen Freund habe, der mich im Juli heiraten wird, weiß ich nicht, und genau das macht mir Angst, genau das, und vielleicht habe ich nur geschwiegen, weil ich wie gelähmt war, wie von einem Curarepfeil, ja, es stimmt, auch Arschlöcher haben ihre Aura.
Eigentlich hatte ich kaum was mit ihm zu tun. Er ist ja oft weg. Dienstreisen, wie sich das nennt. Und wie man munkelt, immer von einer Ministrantin begleitet. Trotzdem hat er mich regelmäßig ins Büro geholt, piekfein und mit weißer Ledergarnitur, und mich dauernd so irrelevantes Zeugs gefragt. Über die Löslichkeit des Methionins im Infusionszusatz. Oder über die Stabilisatoren in der Fettemulsion, die gar keine ist. Und einmal, als ich meine Proben auf die Chromatographiesäulen aufbrachte und eh schon genervt war, hat er mir vor versammelter Mannschaft erklärt, dass eine Gelchromatographie da doch viel besser sei. Spätestens da habe ich gemerkt, dass der Mann keine Ahnung hat. Nicht die geringste Ahnung. Wichtige Leute haben nie eine Ahnung, höre ich dich schon wieder ätzen. Man muss sich im Leben zwischen zwei Sachen entscheiden: eine Ahnung haben oder wichtig sein. Ja, lieber Sebastian, du hast es leicht. Du bist derjenige, der alles erreicht hat. Und das schon mit dreißig, als du draufgekommen bist, dass man das Penicillin nur über eine Sauerstoffbrücke mit dem Benzylrest verbinden muss, um es Magensaftresistent zu machen. Ja, dreißig. Das hätte ich auch schon geschafft.
Zwölfte Seillänge. Sebastian nimmt das Klimbim von meinem Gurt, greift nochmal in meinen Magnesiumbeutel und hat es immer eiliger. Als wüsste er, welchen Seelenmüll er heute noch zu entsorgen hat. Er schwingt sich über den Doppelüberhang wie bei einer Turnübung, putzt sich die Finger an seiner Kletterhose, die nur noch aus Löchern besteht, dann ist er verschwunden. Als er wieder Stand hat, ist das Seil schon zu Ende.
In der Broschüre steht, dass es solche gibt, die das Erlebte beiseiteschieben, und solche, die das Geschehen immer wieder durchspielen. Wie einen Film. Zur Faschingsfete wollte ich erst gar nicht hingehen. Dann aber doch und extra spät. Denn wenn man zu früh dran ist, weiß man ja nie was reden. Vor dem Hintereingang habe ich noch eine geraucht, und kaum war ich drinnen, wollte ich auf der Stelle wieder umdrehen. Stickige Luft, das Foyer gerammelt voll, alle betrunken und alle lustig, doch dann hat mich die Isa zur Bar geschleppt, und gleich schon am Anfang ist mir dieser Gockel aufgefallen, von dem keiner gewusst hat, wer es ist. Eigentlich war es gar kein Gockel, sondern ein Küken, ein riesiges Küken, weil ein Gockel, der ist ja nicht knallgelb, egal, nach dem zweiten Ramazotti sind wir bei den Biertischen im Konferenzraum gelandet, und plötzlich ist wieder dieses Küken dagestanden, und irgendwann hat es mit mir getanzt, ganz klein hat es sich gemacht und mich dauernd angegriffen, an der Taille, seine Hände sind in so einer Art Flügelstummel gesteckt, und mit Flügelstummeln, da darf man ja alles, besonders im Fasching, und ich wollte einfach wissen, wer sich da so für mich interessiert. Unbedingt wissen wollte ich es, vielleicht, weil ich gedacht oder gehofft hatte, es sei der Claudio. Und wie es dann diese Bohnensuppe gab, da war ich es plötzlich, die an ihm herumzufingern begann, ich habe an seinem Schnabel gezogen und an seinem Kamm, hey du komischer Vogel, du kannst doch deine Suppe so nicht löffeln, und als es dann geschafft war, hätte ich mir doch gleich denken können, dass er es war. Der Sailer. Hey du Model mit der Stirnlocke, hat er herumgeschäkert und mit dem Finger auf meine Nase gestupst, wie kommst du auf sowas, habe ich gefragt und gar nicht gemerkt, dass ich du gesagt habe, tjaaa, dieser Bergsport-Katalog, der sei schon was besonderes, den habe er schon zwanzigmal durchgeblättert, und ob ich sowas öfter mache? Nein, keine Zeit, und gleich war er mir wieder unsympathisch, mit seinem geschliffenen Charme, von dem ich geglaubt habe, es gäbe ihn nur im Kino – ja, manche stehen auf so was. Dann bin ich mit ihm ins Büro, um eine zu rauchen, ich hatte ja noch dieses dämliche Empfehlungsschreiben für Cleveland im Hinterkopf, und kaum hatte er die Tür zugezogen, habe ich schon seine Hände gespürt, kaltschweißige Hände, die sich unter mein T-Shirt schoben, und seine Lippen an meinem Hals, und wieder war ich wie gelähmt, eingeklemmt zwischen ihm und seinem Schreibtisch, schick bist du in diesem Katalog, todschick, wie du vor diesem Zelt kokettierst, mit deiner Stirnlocke, er wollte mein Oberteil aufklipsen, bis er gemerkt hat, dass es ein Sportoberteil war, und bevor ich was sagen konnte, waren seine Pfoten schon unten bei meiner Hose, ich habe seine Hände gepackt und sagte noch, lass das, wenn da jemand kommt, bitte lass das, nein, geflüstert habe ich es, und Flüstern, das hat doch was mit Zärtlichkeit zu tun – also bin ich selber schuld. Komm schon, hat er gestöhnt, ich habe nichts mehr gespürt, am wenigsten dort, wo ich am empfindlichsten bin, nur das kalte Leder der Couch und dieses schwitzende Etwas, ich wollte die Beine zusammendrücken, aber da waren seine Hände schon bei meinen Knien, eine Ewigkeit hat es gedauert, eine ganze Ewigkeit, und dann, als es endlich vorüber war, vorbei und vorüber, bin ich hinausgestürzt und habe erst da gemerkt, dass er die Tür abgesperrt hatte. Jetzt tu doch nicht so, habe ich ihn noch sagen gehört, du hast dich doch selber über diesen Blümchensex lustig gemacht, ja, das habe ich, nach dieser Scheiß Weihnachtsfeier, Blümchensex sei sowas wie Seniorenerotik, und das hat er als Aufforderung verstanden, so wie Männer alles als Aufforderung verstehen, außer Sebastian natürlich, der schon wieder Stand hat und herunterruft, nur noch drei Längen und wir sind oben.
Der Kamin. Ich drücke meinen Rücken an die linke Wand, stütze und klemme, dann geht es hinaus auf die Kante. Und schon bin ich bei ihm und übernehme – wenigstens dieses Mal – den Vorstieg. Das tut dir gut, sagt Sebastian noch, als ich weiterklettere, in mittlerweile bombenfestem Fels mit Löchern und scharfen Leisten. Ein altes Riff, eine alte Unterwasserwelt voller Fossilien. Als die Tierchen zu Stein wurden, war die Welt noch in Ordnung. Vor dem Ausstiegsriss finde ich einen Ringhaken, der noch vom Hermann Buhl stammen könnte, und jetzt bin ich diejenige, die Stand macht und nachkommen hinunterruft. Aber das registriert er nicht, wahrscheinlich weil er sich wieder mal mit Jimi Hendrix die Ohren durchbläst. Erst als ich ein paar Mal am Seil zerre, hat er´s kapiert.
Wie eine Irre bin ich dann durch die Stadt gelaufen, nein, ich bin nicht dabei gewesen und ich war nicht dabei, als er sich über meinen Körper hergemacht hat, und Bernhard, was ist, wenn er noch wach ist und was will von mir – jetzt, wenn ich nach Hause komme? Natürlich, Bernhard war noch wach. Plötzlich dagestanden ist er und richtig lieb gewesen. Und ich beinahe aggressiv. Dann bin ich unter die Dusche und habe nicht mehr aufgehört, so, als könne man damit alles wegwaschen, alles was geschehen war, und immer wieder habe ich angefangen damit, weil ich das Gefühl hatte, es sei da noch was drinnen von dem Zeugs. Als ich dann ins Schlafzimmer geschlichen kam, war Bernhard gottseidank eingeschlafen.
Siebzehnte Seillänge. Schwarze Schuppen, hinter denen Wasser hervorquillt. Die Griffe, die nach links schauen sollten, schauen nach rechts und umgekehrt. Ich habe ja gewusst, dass da noch was kommt. Aber nach zehn Metern legt sich der Fels zurück und zwei entkräftete Arme wuchten einen müden Körper auf das letzte Sims. Endlich.
Auf dem Plateau liegt noch Schnee. Die Salami, die Sebastian mir angeboten hat, habe ich nicht hinuntergebracht. Mich nur hundertmal entschuldigt, dass ich so langsam war. Warst du doch gar nicht, hat er mich aufzumuntern versucht, und nächstesmal bist du wieder die Chefin. Dann hat er mir noch ein paar Berggipfel erklärt und gesagt, wir müssten gleich weiter. Der Abstieg sei lang und verwickelt. Mit blöden Abseilstellen. Ja, das wüsste ich.
Der Abstieg war lang. Länger als letztes Jahr. Felsbänder, Kamine, Klemmblöcke. Die letzte Abseilstelle schon im Dunkeln. Beim Heimfahren hat er mir von seiner Tochter erzählt. Sie sei jetzt in Wien. Und da vorne käme gleich dieser See. Er sei durch einen Bergsturz entstanden. Der Wald habe sich aber noch immer nicht erholt, obwohl das Ganze schon 300 Jahre her sei. Der See wird auch nicht mehr abfließen, habe ich geantwortet.
8.Platz: Schönheit und Biest - Georg Petz
Dann schlug sie die Tür wieder zu, hart, ein Schlag, ein scharfer Kiefer, Klauen. Warte, sagte sie, darunter das Trommeln rascher Pfoten gegen das Türblatt.
Ich sperre nur noch den Hund weg, hörte Jan hinter der Schwelle, die Taubheit nach dem Türenschlagen wie ein Tinnituston unter ihren Worten, das terpentingelbe Treppenhaus in seinem Rücken, das in der Vorstellung nicht recht ins Bild des Mädchens aus der Reihe hinter ihm zu passen schien: sie mit ihren Freundinnen, die in den Pausen auf den Toiletten heimlich rauchten.
Sie mit dem Nagellack an den Fingern, das einzige der Mädchen, das sich bereits regelmäßig schminkte.
Für gewöhnlich wäre sie das Echo, das ihm spitz zwischen die Schulterblätter fiel, wenn sie hinter ihm im Flüsterton, der ihr Akzent war, den er nicht verstand, all das wiederholte, was er sagte – und in jenem Flüsterton sonderbar gegen ihn verkehrt, Beiklang eben: Akzent. Und alle anderen schienen mit ihr über das zu lachen, was sie sagte: was er sagte, ebenfalls Beiklang, stumm, Generalpause, lediglich der Lehrer nickte, gut, gut äffte sie, die Konstantinische Schenkung, sehr gut, Klassenstreber, wer hätte es gewusst?
Komm herein, ein schmaler Korridor, den das unablässige Bellen und Kratzen des Hundes gegen eine der Türen, die darin mündeten, noch enger machte, muss ich die Schuhe ausziehen? und sie lachte, oder äffte seine Frage nach, oder das war immer noch das Echo hinterrücks, die offene Wohnungstür, dann fiel sie ins Schloss.
Sheila stellte sich zwischen ihn und das Bellen und deutete mit der Hand auf die Tür gegenüber: ihr Zimmer. Er drückte sich an ihr vorbei, sie trug kein Parfum, aber da war der sanfte Geruch ihres Makeups: Mastix, Vanille, und hatte sie bereits am Vormittag in der Schule Lippenstift getragen?
Oder hatte sie… rasch, rasch, Fingerzeig, trinkst du Kaffee?
Wasser, sagte er, sie kicherte ein wenig, hier, das Bett, nimm Platz, das Buch bereits, ein breites Maul, über der Tagesdecke aufgeschlagen, die Reformen des römischen Reiches und das Soldatenkaisertum, das Bellen wurde wieder etwas leiser, als Sheila in den Gang hinaustrat und zur Küche weiterging.
Er hörte, wie sie eine Schranktür öffnete, sah sich um, ein Schreibtisch am Fenster, kaum Bücher, dafür an allen Wänden und in den Regalen jene sonderbaren Devotionalien, mit denen jetzt die Mädchen seiner Klasse jede Pause regen Handel trieben: zu kleine Fotos in zu weiten Bilderrahmen, deren Tageskonjunktur, Tausch, Börse, der Kursverfall ihrer Gesichter, Freundinnen, zuerst, dann Feinde, die in langen Ampeln vor dem Fenster hingen, und eben war Medina, ein Mädchen aus der Parallelklasse an erster Stelle. Keine Poster, dafür ein paar kurz abgezwickte Rosen, die in einem Glas am Nachttisch standen, Ausbreitung des Christentums und die Schlacht an der Milvischen Brücke, und wie sonderbar es für sie sein musste…?
Warum er immer noch herumstehe, fragte sie und deutete mit dem Kopf auf Buch und Bett, zwei Gläser Wasser auf den Fußboden davor gestellt, die Türe hinter sich rasch ins Schloss gezogen, jetzt war das Bellen des Hundes gar nicht mehr zu hören.
Er zögerte, ihrer Bewegung, dem nagellackbraunen Imperativ ihrer Finger zu folgen, hatte plötzlich Scheu, die Polster, die Matratze, das Bettzeug zu berühren, auf dem auch sie saß, worin sie lag, worin sie schlief, als ginge er ihr selbst mit der Berührung auf die Haut, auf Tuchfühlung, dachte er, jetzt lachte er still in sich hinein, und hatte er das nicht bereits getan, als sie ihn am Nachhauseweg – immer noch mit hängendem Kopf – gefragt hatte, ob er ihr in Geschichte helfen könnte?
Ob er mit ihr lernen könne?
Die letzte Stunde: der Lehrer wie einer jener Rothaubenturakos aus der Vitrine im Biologiesaal, steil aufgeflogen und wild flatternd im falschen Fach gelandet, Vertiefungskurs Geschichte, und was sie hier verloren habe, wenn sie sich nicht einmal diese paar Daten und Ereignisse merken könne, und das plötzliche Schweigen der anderen dazu, den nahen Sommer und den Notenschluss vor Augen.
Hatte sie sich deshalb am Weg zur Haltestelle aus der Barrikade einander eingehängter Arme und lässig über der Schulter tänzelnder Rucksäcke gelöst, von ihren ebenso lässig um sie herumtänzelnden Freundinnen, und sich zu ihm zurückfallen lassen, isoliert, seine eigenen Schultern wie ein schützender Kragen enggezogen, und ihn gefragt…
Was hatte sie ihn gefragt?
Wie war das jetzt mit dem Fall des römischen Reiches, sagte sie und hatte gleich neben ihm Platz genommen, das Buch nun offen über ihre Knie gelegt und angestrengten Blickes darübergebeugt, und immer wieder müsste sein Blick auch an sie gehen, wollte er hineinsehen.
Aber er müsste nicht hineinsehen, das wusste er, das wäre seine Welt, die nun weit aufgeschlagen über ihren Beinen lag, ein sonderbares Gefühl… ihr Lippenstift, ihr Nagellack, die Haare, die ihr immer wieder nach vorne in die Stirn fielen und ihr Geruch: die ganze fremde Welt, die sie ihm wäre, so nah, und seine Welt: Worte und Duft und ohne Atem, die Sassanidenkriege und die Tetrarchie des Diokletian, das wäre es worin er gut wäre. Das wäre es, wozu er gut wäre, und plötzlich überkam ihn etwas heiß und namenlos, dass er ebenso plötzlich vom Bett aufsprang und seine Bewegung sprang am Bett auf das Mädchen über, das Buch fiel zu Boden.
Was hast du, fragte Sheila.
Jan war bleich. Seine Lippen zitterten, seine Knie, wie lang und dünn er war.
Wo ist das Klo, den Gang hinunter, die Türe auf, wieder das Bellen, das – so schien es – gemeinsam mit ihm aufgesprungen war und nun hart in seinen Nacken biss. Das Kratzen der Pfoten an der Tür, bald musste das Tier hindurch sein, so nahe, dann war er daran vorbei.
Als er in ihr Zimmer zurückkam, saß Sheila auf dem Bett, die Beine überkreuzt und mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Das Geschichtebuch lag immer noch am Boden.
Ich möchte nicht mehr lernen, sagte sie.
Soll ich gehen, fragte Jan.
Nein. Sie lachte. Bleib noch, wir könnten etwas spielen. Soll ich dir die Karten legen?
Etwas klang in ihrer Frage, als hätte sie ihm darin Angelschnüre ausgelegt: unsichtbar unter der Oberfläche, ihren Worten, ihrem dunklen Haar, das Sie sich mit einer raschen Handbewegung aus der Stirn, aus ihren Augen strich, als müsste sie zugleich auch den lichten Ausdruck daraus nehmen, der darin auf ihn lauerte: Klang, Blick, Ton, dass er ihn nicht bemerke. Und natürlich hatte er ihn bemerkt und alles das blieb dennoch unleserlich, blieb fremde Schrift und fremde Sprache, die eine ihm – noch – fremde Welt erschuf. Der Isthmus zwischen dem terrain, dem er vertraute und dem, das sie ihm auftat, unüberbrückbar weit.
Ich weiß nicht, sagte er. Ich gehe besser.
Ob er Angst davor habe, fragte sie und lachte plötzlich spitz auf, das war dasselbe Lachen, das ihm in der Schule so oft aus ihrer Reihe in den Ohren stach, und wieder spürte er es, Wut und ohne Worte, in sich wachsen – Hast du Angst vor mir? –, und er wollte nur noch fort, sie weit weggestoßen, fest gegen die Wand, an der sie lehnte. Ein Schlag gegen das Bettgestell mit der flachen Hand, und plötzlich war da eine Antwort von jenseits der Tür, ein Scharren und Schaben und Kratzen und Sheila sah ihn an, die Lippen immer noch spitz, wie um ihn gleich wieder auszulachen, verdammt, sagte sie, der Hund ist frei.
Sperr ihn wieder ein, sagte er, oder wollte er das sagen? Schüttelte sie den Kopf, stumm, hatte sie nein gesagt, nein, ich geh’ da nicht raus?
Geh du doch, du wolltest ohnehin schon gehen.
Jans Hand schmerzte von seinem eigenen Schlag gegen die Bettkante. Er bückte sich, hob das Buch auf und nahm an Sheilas Schreibtisch Platz, sah nicht zu ihr hinüber.
Er wusste, dass sie ihn ansah – was war das, Valerians Gefangenschaft am Hof der Sassaniden? Ihre weiten Augen, und was von dem, was das Geschichtebuch hier schrieb, wäre immer auch noch, und immerfort in ihr – unbeugsam, da das dunkle Persermädchen und dort der bleiche rätische Junge, und wie sie ihn ansah, ihre Hunde, ihre Klauen gleich draußen vor der Türe, und alles, was er tun konnte, um sie sich noch vom Leib zu halten, wäre, ihr Geschichte zu erzählen, all die Geschichte, die da vor ihm ausgebreitet war, die er noch hinter seiner Stirn trug, vom Aufstieg und Fall des Weströmischen Reiches, und hatte der Osten nicht damals schon, nicht immer schon, den längeren Atem bewiesen?
Und während er ihr erzählte, bemerkte er, wie ihr Lachen allmählich seine Spitze verlor, wie ihr die Augen stattdessen immer größer wurden, immer tiefer in ihn gingen und endlich schwerer wurden. Schlief sie?
Träumte sie?
Auch das Bellen und Kratzen von draußen gegen die Tür war einem sanften Winseln gewichen, das nur mehr ab und zu, und aus anderen Räumen, aus größerer Ferne, so klang es: im Echo, zu ihnen zu kommen schien.
Jan stand von seinem Platz am Schreibtisch auf und ging langsam in Richtung der Zimmertür. Er drückte sie vorsichtig einen Spalt auf – nein, der Hund war nicht zu sehen. Nur der schmale Gang der Wohnung lag vor ihm aufgeschlagen, das Halblicht, die geöffnete Küchentür in seinem Rücken und unlesbar in der Stille, die plötzlich darin Platz genommen hatte.
Er machte vorsichtig einen Schritt nach vorne, dann blickte er zurück zu Sheila – sie hatte die Augen weit offen und sah ihn an. Etwas wie ein Protest war darin lesbar, war schon wieder still, zu müde. Dann richtete sie sich auf und folgte ihm zur Tür. Gut, schien sie zu sagen, schienen ihre Augen zu sagen, seine Geschichte habe ihn gerettet, sie lasse ihn für heute gehen.
Aber nur für heute.
Ob er ihr morgen auch wieder Nachhilfe gebe?
Ob er ihr morgen weitererzähle… und wie sie neben ihm stand: die Hand an die Klinke ihrer Zimmertür gelegt, dass es so aussah, als lege sie zugleich den Arm um ihn, der darauf wartete, endlich aus seiner sonderbaren Entführung in ihr Serail zu fliehen… dass er sich einen Augenblick nicht sicher war, ob sie ihn nun tatsächlich gehen lassen wollte oder ihn nicht doch noch bei sich halten, und so nahe wie jetzt zum Abschied war er ihr noch nie gekommen: Er konnte plötzlich erkennen, wo sie mit Kajal und Lippenstift jene erwachsen dunklen Ränder um ihre Augen und um ihren Mund gezogen hatte, die ihn in der Klasse stets so eingeschüchtert hatten, und die Farbe und Struktur der Haut darunter, die Lippen anders als die Lider, beides glatt, der dünne Haarflaum am Hals, an ihren Unterarmen, und Fleisch und Blut und Puls und Atem wäre sie und nicht das unnahbare Ende der bisher auf den Seiten ihres Geschichtebuchs gediehenen Erzählung, die vom Reich von Palmyra und der Teilung unter Konstantin über die Türkenkriege bis heute einen eisernen Vorhang durch ihre, seine Welt gezogen hatte.
Sie war stattdessen Wärme und Geruch und plötzlich ein Ausdruck: Angst, Alarm auf dem Gesicht, der Gang der Wohnung und ein neues Echo, das er trug: Schritte.
Der Vater, sagte sie, dachte er das nur?
War er früher als gewohnt von der Arbeit heimgekommen und überraschte seine Tochter nun mit einem fremden Jungen auf dem Zimmer?
Heiß und namenlos wie vorhin überkam es ihn, aber anders, ohne ihn mit sich zu ziehen, und ebenso heiß, fand er, musste es ihr plötzlich über die Haut gehen.
Was ist, schien sie zu fragen, als Jan die Tür rasch wieder zustieß und ihre Hand von der Klinke löste. Sei still, sagte er, sagte der Moment, der sie ihm nun so unvermittelt in die Hand gespielt hatte, und wenn sie ihm gehorchte, wenn sie ruhig bliebe, würde der Vater nichts bemerken, oder er könnte sie ihm je nach Laune auch ans Messer liefern.
Schwere Schritte vor der Zimmertür, den Atem angehalten fuhr Jan dem Mädchen mit der Hand an ihre Taille. Sie stand immer noch reglos und in derselben Abschiedsgeste angehalten, in der sie ihn vorhin scheinbar umarmt hatte, gehorchte nun stumm all dem, was sie in seinen Augen las und blieb auch stumm, als er ihr Leibchen langsam hochschob und mit den Fingern spitz darunter fuhr, und höher.
Er spürte die glatte dunkle Haut unter den Fingerkuppen, dann war da ein wenig Stoff und der harte Bügel ihres BHs, ein Schlag gegen die Tür, ein Schaumstoffpolster, fester und voller, als er ihn erwartet hatte, klopfte jemand?
Rief da jemand Sheilas Namen?
Sie blieb stumm, sie sollte stummbleiben, dann wieder etwas Tüll und Spitze und endlich ihr nackter warmer Busen, lauter von draußen, sag ja kein Wort, der fremde Ton der Stimme hinter der Zimmertür, der fremde Akzent, der jener Sprache die jeder Sprache unabdingbare Ordnung von Höhen oder Tiefen, von Silben, Semen, Kratz- und Hechellauten nahm.
Dann fiel ihm ihr Nippel klein und hart wie eine Perle in die Finger und Sheila schrie kurz auf, ein Schlag gegen das Türblatt, härter diesmal, das widerspenstige Biest, und Sheila drückte von der anderen Seite mit dem Arm gegen die Türe, drückte sie sie auf…?
Der nächste Schlag, Schatten, Spalt und darin eine Schnauze und dann war das Zimmer mit einem Mal weit offen, ein Bellen, ein Beißen, das Echo in seinem Nacken, und lauf, schien Sheila zu sagen, lauf, als er in den Gang hinausstürmte, der Hund ihm hinterher, kein Vater, keine Zeit mehr, eine Geschichte darin zu fassen, und endlich auch kein Heulen mehr, das ihm mit der Wohnungstür in den Rücken fiel.
Nur noch der taube Terpentinton entlang des Korridors.
9.Platz: Für meine Schwestern - Maike Braun
Die Eröffnungsrede hält eine von uns, sie ist gerade Mal sechzehn und hat schon einige Berühmtheit erreicht. Sie trägt einen signalroten dupatta um Kopf und Schultern geschlungen und spricht davon, dass eine Stadt ohne Bücher wie ein Friedhof ist. Wir rücken dichter zusammen, denn tief vom Osten her weht ein frostiger Wind. Die schneebedeckten Gipfel unserer Heimat sind näher, als man denkt. Wir lauschen ihrer Geschichte, die auch die unsere ist.
Die meisten von uns haben langes, schwarzes Haar. Einige haben die Augenbrauen gezupft, so dass sie schmal und elegant wie die ausgebreiteten Schwingen eines Kranichs über den dunklen Augen schweben, andere sind froh, wenn ihr Mund nicht verschmiert ist und die Nase nicht läuft. Wir haben runde und schmale Gesichter, volle und blutleere Lippen, manche von uns sind groß und kräftig wie Arbeitstiere, andere so hager, dass man meint, die Knochen klappern zu hören, wenn sie den Haushalt machen. Wir springen gern Seil und spielen mit Murmeln, wir rollen einen alten Autoreifen durch die Gasse und hüpfen mit einem Luftballon an der Hand. Manche von uns knattern mit ihren Vätern und noch weiteren Geschwistern auf dem Motorrad durch die Stadt, andere verlassen nie das Haus. Wir gehen mit unseren Müttern zum Markt, um die rotbackigsten Äpfel, die saftigsten Orangen oder frische Okras auszuwählen. Wir befingern die bunten Bänder auf dem Basar. Manche von uns lackieren sich zu Hause die Fingernägel und wirbeln zu Popmusik oder traditioneller Volksmusik im Kreis herum, andere haben keine Schuhe.
Wir gehen mit unseren Eltern spazieren, aber nur vor Einbruch der Dunkelheit. Früher machten wir auch Ausflüge zum Weißen Palast oder zu den Smaragdminen, wo wir solange in den Souvenirläden die Ketten und Armbänder bestaunten, bis unsere Väter drohten, ohne uns nach Hause zu fahren. Nicht weit von uns gibt es sogar ein Skigebiet. Das Hotel wurde allerdings abgebrannt.
Für Idu l-Fitr, das Fest des Fastenbrechens, schrubben wir das Haus und kochen Sirup, den wir in mundgerechte Stücke schneiden, sobald er fest ist, und anschließend in Puderzucker oder Kokosraspeln wälzen.
Wir leben zu acht in einer Lehmhütte und wir haben ein Stadthaus mit eigener Dachterrasse, Strom und fließend Wasser. Wir balancieren Reissäcke auf dem Kopf und wählen Stoffe aus, wir kaufen uns den neuesten Lip-Gloss und wir stellen uns bei einer mobilen medizinischen Behandlungsstation an. Häufig kurieren uns unsere Mütter auch mit Hausmitteln oder wir beten, dass unsere Wunden wieder von alleine heilen.
Viele von uns arbeiten von klein an auf dem Feld mit oder im Haushalt. Schon früh lernen wir mit getrockneten Büffelfladen ein Feuer machen, fegen oder spülen das Geschirr. Manche arbeiten als Dienstmädchen in fremden Familien, waschen die Wäsche, kochen und hüten kleinere Kinder, andere gehen zur Schule. Sie schlürfen morgens ihren Tee und ziehen sich dann die Schuluniform an, die aus dem kamiz besteht, einer Tunika so blau wie der Himmel über dem Hindukusch, und einer gleißend weißen Hose, dem salwar. Andere Schulen haben andere Farben. Den dupatta in rot oder schwarz, manchmal auch weiß, wickeln wir lose um das Haar.
Wir tragen die Taschen über die Schulter geschlungen, manche ziert ein Teddybär oder es lugt daraus ein Kuschelbär hervor. Die Jüngeren halten sich an den Händen, wenn sie die Straße überqueren, und kreischen, wenn das Hupen einer Autorikscha sie aus dem Weg scheucht. Vor dem zornigen Blick eines Bärtigen wenden wir uns ab und gehen zügig weiter. Wir sind froh, wenn wir das Schulgelände erreichen.
Wir sitzen auf Holzbänken und auf dem Fußboden, im Freien oder zusammengepfercht in einem Raum. Manche Schulen verwenden Schiefertafeln und selbstgemalte Willkommensgrüße kleben an den Kalkwänden, andere sind mit White Board ausgestattet und mit PCs.
Wir lernen lesen und schreiben und was Apfel auf Englisch heißt. Wir mühen uns mit Bruchrechnung ab und dem Satz des Pythagoras‘. Wir lernen, was ein Benzolring ist und dass Indien unser traditionell Feind ist. Wir fassen uns in den Pausen an den Händen und drehen uns wie wild im Kreis. Wir rennen im Slalom um orangefarbene Hütchen und wir lachen viel. Manche können nur bis zur vierten oder fünften Klasse bleiben, weil die Eltern nicht genug Geld haben.
Wir wollen später Ärztinnen werden und Journalistinnen, ein Modegeschäft eröffnen oder Musikvideos drehen, als Näherinnen arbeiten oder in einem Kosmetiksalon und manche träumen sogar davon, ein internationaler Hockeystar zu werden. Vor allem aber, wollen wir in die Schule gehen.
Die Taliban sagen, Bildung für Mädchen ist obszön. Lehrerinnen, die ihren Beruf freiwillig aufgeben, werden im Radio gepriesen, andere werden bedroht. Einer Schulleiterin wird nahe gelegt, die Schule zu schließen. Als sie sich weigert, verlangen die Taliban, dass die Mädchen Burkas tragen, selbst die jüngsten. Es ist schwer, etwas durch das Plastikvisier der Burka zu erkennen, das die Taliban vorschreiben. Eine Krankenschwester in Ganzkörperschleier hat neulich die Venen eines Patienten nicht getroffen. Die Schulleiterin und ihre Schülerinnen leisten trotzdem Folge. Kurz darauf bricht jemand nachts in die Klassenräume ein, zerschlägt alle Stühle und zerfetzt die Übungshefte. Sie setzt den Unterricht kurzerhand in ihrem Garten fort.
Es heißt, unsere Schule soll auch geschlossen werden.
Wir wechseln die Straßenseite, wenn wir einem Taliban begegnen, und wir vermeiden den Green Chowk, einen der größten Plätze der Stadt. In der Nacht schreckt uns Artilleriefeuer auf.
Wir schleichen uns an den Hauswänden entlang zur Schule und hüllen uns in einen dunklen Schal, die Bücher gegen unseren Leib gepresst. Man hat uns gesagt, wir sollen nicht länger die Uniform tragen, aber unsere Alltagskleidung ist den Taliban zu bunt. Wir bitten unsere Mütter, Tanten und Großmütter um Tuniken und dupattas in gedeckten Farben, damit wir trotzdem in die Schule können. Wir fassen uns nicht länger an den Händen und wir hüpfen auch nicht mehr. Wir senken die Häupter, wenn wir an einem Bärtigen vorbeikommen. Wir weichen keinen Rikschas aus und keinen Motorrädern, denn die Polizei hat die Straße gesperrt aus Angst, dass sich jemand vor dem Schulgebäude in die Luft sprengt. In einem anderen Stadtteil wurden vor kurzem weitere drei Schulen in Brand gesetzt.
Die Ferien kommen und es gibt keine Ankündigung darüber, wie es weitergeht. Wir schlafen aus und gehen zum Spielplatz oder treffen uns zu Hause. Wir diskutieren hitzig darüber, ob die Schule wieder aufmacht. Einige nehmen die Poster berühmter Schauspielerinnen von der Wand, andere ziehen weg. Manche lernen hinter verschlossenen Türen weiter. Es gibt einen Softwareanbieter, der Rätsel und Quizfragen per SMS verschickt.
Wir schließen die Fenster und stellen die Musik ab, sobald wir Schritte auf der Straße hören, und fürchten uns vor dem Hämmern der Fäuste an den Haustüren. Wir wollen zum Markt und jemand flüstert uns im Vorbeigehen ins Ohr: wir werden euch töten. Dann merken wir, er spricht nur in sein Telefon. Es beruhigt uns nicht.
Sie verbieten uns ganz zum Markt zu gehen.
Eine Frau, die in einer Galerie arbeitet und ein ärmelloses Kleid trägt, wird zusammengeschlagen. Ein Mädchen wird öffentlich ausgepeitscht. Die im Internet kursierende Begründungen sind widersprüchlich.
Singen und Tanzen ist ebenfalls verboten. Sie nennen es ehrlos. Zwei Teenager filmen sich beim Tanz im Regen. Sie tragen traditionelle Kleidung, das Video stellen sie ins Internet. Als der Stiefbruder davon erfährt, gibt er die Hinrichtung in Auftrag, um die Ehre der Familie zu retten. Die Schwestern und die Mutter werden von fünf bewaffneten Männern niedergestreckt. Eine Sängerin wird aus einem fahrenden Auto heraus von den Schergen der Taliban erschossen. Sie kommt gerade von einer Hochzeit, bei der sie aufgetreten ist.
Sie zerren eine bekannte Tänzerin aus ihrem Haus, zerschmettern ihr die Hüfte mit einem Gewehrkolben, bevor sie sie an den Haaren auf den Green Chowk, den Grünen Platz schleifen und dort erschießen. Sie reißen Bilder aus ihrem Fotoalbum und streuen sie zusammen Geldscheinen und CDs von ihren Auftritten über ihre Leiche. Die Mutter der Tänzerin wirft sich den Taliban vergeblich in den Weg. Sie tritt dabei in eine Glasscherbe und zieht sich eine Blutvergiftung zu. Als sie den Leichnam der Tochter auf dem Platz ausgestellt sieht, wartet sie einfach, bis ihr Körper den Kampf gegen die Infektion aufgibt und stirbt.
Von den tausend tanzenden Mädchen, die es einmal gab, ist keine mehr übrig. Den Grünen Platz nennen wir jetzt den Blutigen Platz. Männer werden dort geköpft, Frauen erschossen. Wer die Toten vor Ablauf des Tages bergen will, wird ebenfalls erschossen.
Sie tätowieren uns ihren Namen auf den Arm und behandeln uns wie Sklaven. Wenn uns ein Verwandter vergewaltigt und wir uns beklagen, jagen sie uns aus dem Haus oder sie schneiden uns Augen und Ohren ab. Wenn unsere Eltern einem Kandidaten nicht zustimmen und uns nicht verheiraten, schlagen sie uns ebenso oder sie schütten uns, während wir schlafen, Säure ins Gesicht. Vor allem wenn die Baumwollfelder blühen, kann man Säure überall billig kaufen. Sie ätzen uns das Gesicht weg, die Lippen, den Hals, ein Auge. Wir lernen, mit dem Ekel der anderen umzugehen, und wenn nicht, verbergen wir uns hinter einer Sonnenbrille und verlassen nicht länger das Haus.
Wir werden geschlagen und missbraucht. Zu manchen von uns, legen sich nachts die Väter. Wenn wir uns wehren, werden wir mit einer Eisenstange, einem Holzknüppel, einem Stein, was gerade greifbar ist, verprügelt.
Sie berufen eine Dschirga ein, die über uns richten soll. Die kommt zu dem Schluss, dass eine Gruppenvergewaltigung der Schwester die angemessene Bestrafung dafür ist, dass deren zwölfjähriger Bruder mit einem Mädchen aus einem verfeindeten Stamm geredet hat. Als die Männer mit der Schwester fertig sind, treiben sie sie splitternackt durchs Dorf. Ihr Vater, ein alter Mann, legt ihre einen Schal um und bringt sie nach Hause. Wenn wir zur Polizei gehen, kann es uns passieren, dass wir vergewaltigt werden.
Wir nennen uns Kornblume und bloggen über unsere Schule und unseren Alltag. Wir werden aus dem Schulbus gezerrt und in den Kopf geschossen. Wir schreiben Theaterstücke und sie übergießen uns mit Benzin, um uns anschließend anzuzünden. Sie sagen, dass wir unser Land an den Westen verraten und dass eine Polioimpfung unislamisch ist.
Wir liegen im Krankenhaus, Schläuche verbinden uns mit Maschinen, Titan ersetzt Teile unseres Schädels, künstliche Haut wird über Knochen gelegt, eine Augenprothese wird eingesetzt, ein Gehörimplantat. Eine dreifache Mutter, die sich von ihrem prügelnden Mann scheiden wollte und deren rechte Gesichtshälfte jetzt von Säure zerfressen ist, bekommt ein neues Gesicht. Ein plastischer Chirurg, der in England lebt, operiert sie kostenlos. Eine andere, die nach der Säureattacke aussieht wie eine bei lebendigem Leib Verwesende, hat weniger Glück.
Wir gehen vor Gericht, statt uns, wie erwartet, selbst umzubringen. Wir nehmen unsere Zeugenaussage mit dem Handy auf, bevor wir unseren Verbrennungen erliegen. Wir drehen einen Film über die Opfer der Säureattacken und treten im Fernsehen auf. Wir erhalten Preise und erzählen unsere Geschichte sogar vor der UN. Wir bekommen Unterstützung von Ärzten und von Spendenorganisationen, einige von uns von ihren Vätern und Brüdern und manchmal von einem Mullah.
Aber wir werden auch als CIA-Agentinnen beschimpft und als Huren. Man wirft uns vor, das Ansehen unseres Landes in den Dreck zu ziehen oder uns nur deswegen vergewaltigen zu lassen, um leichter nach Kanada ausreisen zu können. Eine Restaurantkette wirbt mit unseren entstellten Gesichtern für ihre gegrillten Hähnchengerichte.
Gesetze werden erlassen, aber unser Leben ändert sich nicht. Vergewaltiger kommen wieder frei oder gar nicht erst vor Gericht. Schulen sind nicht sicher, Schulwege zu lang. Karo-kari, Morde zur Wiederherstellung der Familienehre, sind weit verbreitet.
Einem Mädchen wurden die Lippen und der Mund zugeklebt, die Knochen gebrochen und schließlich wurde es erwürgt. Der Richter wollte von einer Anklage nichts hören.
Wir wissen morgens nicht, ob unsere Schule noch steht oder ob wir eingestürzte Decken und zersplitterte Fenster vorfinden. Wenn wir Pech haben, explodiert die Bombe auf dem Weg nach Hause und zerfetzt uns. Eine Mutter und ihre beiden Töchter wurden ermordet, weil sie zusammen vor ihrem Haus standen und lachten.
Solange das der Fall ist, müssen wir weiter unsere Geschichte erzählen, in Filmen, im Internet, in Zeitungen, im Fernsehen, im Radio. Wir müssen ganze Bücher damit füllen. Denn eine Stadt ohne Bücher ist wie ein Friedhof. Und wenn unsere Städte wie Friedhöfe sind, was wird dann aus unserem Land?
Anmerkung der Autorin:
Alle geschilderten Ereignisse sind Medienberichten entnommen. Insofern ist nichts erfunden. Die Zusammenstellung und einzelnen Formulierungen bzw. Übersetzungen stammen von mir.
10.Platz: Bismillah-Rahmani-Rahim - Eva Burkard
Musik aus Bagdad. Um Kathum oder die Filmmusik zu Mavi – der Frau mit den blauen Augen. Reis mit Rosinen. Sanfte Haut. Kirchenglocken im Hintergrund. Regen wäscht Bombenalarm weg.
Blindwütig, blauäugig will ich etwas herausfinden, das mit mir zu tun hat. Und mit dem Anderen. Gegen jede Warnung öffne ich meine Türen, lasse zu, will etwas, das unmöglich ist in Möglichkeit überführen.
In ihm brodelt Zorn. Fucking Europa. Aussichtsloses Warten. Monate, Jahre vergehen. Lebenszeit verrinnt. Essen, Schlafen, Rausgehen, Rauchen, Telefonieren mit den eigenen Leuten, die 5000 km entfernt leben, täglich fallen Bomben. Es geht mal wieder ums Ueberleben.
Gegen die fremde Sprache sich wehren. Sie soll nicht eindringen in den Körper, die Gedanken, die Träume, in das Eigene, was geblieben ist. Das Verrinnen der Zeit, der Zucker im Chai, gebratener Fisch, food aus türkischen Läden. Enges Leben, gefesselter Traum. Vergessen suchen ohne Alkohol. Im Netz, das grenzenlos ist wie die Lust, die Angst macht. Sexfilme, jederzeit abrufbar, Millionen von Frauen, Millionen von intimen Körperteilen, ein unendlicher Reigen. Pornografie als distanzierter Idealzustand. Perfektion der Lust. Unerreichbar, unerschwinglich. Die Verheissungen Europas, die Versprechungen blonder Frauen im Netz, Freiheit, deren Preis unbekannt war. And don’t forget, if you like to come to Europe – people here are living without heart, höre ich ihn am Telefon sagen.
In der Mitte des Lebens. Transitraum. Warten. Auf Veränderung. No chance for real life. Interkulturelle Träume. Codes. Rätsel. Das Geschlecht ist an nichts gebunden und hat doch seine eigene Geschichte. Verlust ist die Lust am Verlorenen. Der Westen. Die Demokratie. Alles hat seinen Preis. Einkaufen in Billigläden und auf Flohmärkten. Basare in Zürich finden. Sachen mitnehmen, die andere Leute auf die Strasse gestellt haben. Da ist alles möglich. Da kann man neu beginnen. Das Haus von einer Granate getroffen. Der Vater erschossen, ein Bruder erschossen, einer verschollen. Narben von Messerstichen an seinem Körper und die von einer Gewehrkugel, als er im Auto sass, auf das geschossen wurde. Vielleicht gehört er zur Al Quaida, was weiss ich schon. Im Golfkrieg war er dabei, sieben Jahre Soldatenleben. Bomben und Granaten. Wurde er gefoltert oder hat er gefoltert? Keine Antworten. Schweigen oder widersprüchliche stories, immer wieder neue. Er war im Gefängnis, hier und in Bagdad. Es geht um Gewalt und Vergewaltigungen. Es geht um Zärtlichkeiten und Grenzüberschreitungen. Border Lines. Geschichten aus Tausendundeinenacht. Ich werde meinen Kopf verlieren.
Ich bin eine Königin ohne Thron und ohne Land. Verloren mein Reich. Im Transit auch ich. Das Eigene fühlt sich brüchig an. Lost my shoe in a foreign country. Scham. Ohne Ticket unterwegs zu sein. Kontrolleure fürchten. Verbotenes Leben. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, hiess es einmal. Inshallah. Englische Kommunikation gemischt mit Deutsch und Arabisch. Hamdillulah. Der Andere ist sich selbst und wohnt in seinem eigenen Haus. Vermischungen sind gefährlich , die Verständigung ein Weg durch Minenfelder.
Streichelnde Hände auf fremder Haut. Nähe ist nicht buchstabierbar und zu schreiben von rechts nach links ist verkehrtherum, und das ständige Misstrauen, ob die Worte das sind, was sie meinen. Globales Dasein. Mein arabischer Geliebter schenkt mir zum Geburtstag eine afrikanische Maske in Zürich. Wir essen Honig, den ich aus Istanbul mitgebracht habe. Das Leben rollt fort. Ich setze Worte aufs Papier.
Was will ich? Einen Film inszenieren, in dem wir Mann und Frau spielen, oder Mann und Maus. Mich zuhause fühlen, mich fremd fühlen, mich zuhause im Fremden fühlen.Was eine Sucht ist. Gemeinsam mit Tamilen, Iraki, Libanesen, Türken unsere Lebensmittel kaufen. In einem bestimmten türkischen Laden gibt es Halalfleisch. Halal ist das Erlaubte, Haram das Verbote für Muslime. Halalfleisch ist von Tieren, die nicht maschinell getötet wurden, sondern mit dem Messer, ausgeblutet. Wenn es denn möglich ist, so viele Tiere mit der Hand zu töten. Das Gefühl fremd und nicht dazugehörig zu sein erhält Bilder, durch die ich laufe. Ausgeschlossen aus allen bisherigen Zusammenhängen, meine ich wir seien uns ähnlich, unsere Schicksale hätten etwas miteinander zu tun. Vorübergehend. So wie wir uns begegnet sind. An einem Bahnhof.
Das Fliessende der Bewegungen von zu den S-Bahnen und Trams eilenden Menschen. Transit überall. Und tagsüber die hellen Stimmen der Gymnasiasten, ihr Gelächter, Gezwitscher der Vögel aus den Bäumen, Tauben, Krähen, Elstern. Abends wird das Gelände bewacht von Securitasmännern. Nie habe ich so mitten in Zürich gelebt, an exquisiter Lage, umgeben von Jugendstilgebäuden, schmiedeisernen Umzäunungen, beschützt und bewacht, im Ungewissen. Kein Land in Sicht.
Er entdeckt seine Religion und klammert sich an die Regeln. Die Strenge des Koran. Interpretierbar oder nicht. Islam heisst auch Unterwerfung. Oder Demut. Hingabe an das Leben. Verführerischer Sog, nicht immer alles allein zu verantworten. Sich einem Höheren unterwerfen. Mit dem Paradies rechnen. Ich bin eine Ungläubige, eine Zweifelnde, jedenfalls eine Suchende, manchmal Verzweifelnde.
Das Schreiben setzt mich ab und sammelt zerstreute Teile. Was schwimmend ist, fügt sich zu Bruchstücken, Fundstücken, Resten und Reichtümern.
Ein Zuhause suchen in der fremden Sprache, den unbekannten Gewohnheiten desjenigen neben mir. Sie anprobieren wie ein Kleid, das mir zu gross sein wird. Unpassend, unangepasst.
Das Flüchtige, die Transiträume, die Wartezustände. Die Niederlassungsbewilligung, das Bleiberecht. Das Gefühl, über eine Kante zu kippen, zu stürzen ins Bodenlose.
Fünf Jahr schwarz lebend und arbeitend, niemand wollte mich oder hatte auf mich gewartet. Meine Zeugnisse und Diplome ohne Wert. Versprechungen von Schuldirektoren, die Freunde bei der Fremdenpolizei hatten, dann der Brief von der Fremdenpolizei, ich möge das Land innerhalb eines Monats verlassen, mein Rekurs, mein Kampf Ausweis B, ein Aufschub immerhin. In dieser Zeit der Plan zu heiraten, wir uns, die wir uns liebten und die wir uns nach zwei Jahrzehnten getrennt haben. Keine Scheinehe, aber doch eine von aussen angestossene Ehe, eine anstössige Ehe ? Vielleicht war das kein guter Anfang, der jetzt zum bitteren Ende geführt hat, das ja freundschaftlich bleibt, dieses Ende, was mir kein Trost ist zur Zeit.
Am See der ägyptische Eisverkäufer, als wittere er meine Offenheit, mein Ausgesetztsein, bietet mir Männer aus seiner Heimat an, die ich kennenlernen könne, die eine Frau zum heiraten suchen. Und ich höre Geschichten und lese stories über die Sehnsucht der Nordeuropäerin nach dem ausländischen, südländischen oder dem orientalischen Mann. Ueber den Ueberdruss der Europäerinnen an ihren Partnern, die desinteressiert sind oder zu nachgiebig, zu weich, zu wenig “Mann”. Dazu passen die Fantasien der Männer aus dem nahen oder fernen Osten über die allzeit sexuell bereiten Westeuropäerinnen, die es mit der Liebe nicht so genau nehmen. Die Verführung von Illusionen und die Schmerzen beim Aufprall mit der Realität, die Enttäuschungen auf beiden Seiten ebenso wie der Eindruck, benutzt zu werden, für Papiere, für Sex. Wie buchstabiert sich Liebe? Die Bemerkungen in einem Restaurant, in dem ich mit ihm sitze, umgeben von einheimischen Familien und Männerrunden, die gemurmelten Sätze hinter vorgehaltener Hand: “Die streuen ihren Samen über ganz Europa.”
Leben aus Plastiktüten. Der Gebetsteppich ist darin, die Zahnbürste und eine Trainingshose, ein T-Shirt , seine Tabletten. Auf dem Sprung, immer bereit, weiter zu gehen, zurückzugehen in sein Zimmer. Dieses Zimmer in einem Dorf vor Zürich. Ein sechs Quadrtmeter kleiner Raum, ein Bett, ein Schrank, ein Fernseher, die Gemeinschaftsküche, die er mit drei schwarzen Frauen teilt so wie die Dusche. Und seine Sucht, sich fotografieren zu lassen, um sich wieder zu erkennen, in diesem fremden Land. Wer bin Ich? Wer war Ich? You are my family now. Und was will ich ?
Schreiben. Vor allem und zunächst einmal. Distanz finden, indem ich das, was ich wahrnehme in Worte fasse. Die Unmittelbarkeit, das Unfassbare aufs Papier, in den laptom setzen, mich absetzen.
Mein Arbeitsplatz im oberen Teil der Loft, mit Blick auf die Terrasse, fallende Blätter und die funkelnde Herbstsonne, die flimmernde Lichter durch das gelbe Laub wirft. Ein trockenes Blatt hängt an einem Spinnenfaden vorm Fenster in Augenhöhe. Ich sitze mitten in Bäumen und entdecke meine Texte neu, all die Reise- und Unterwegstexte, die am stärksten zu mir gehören.
Die Frau in der Lederjacke, die täglich die Stufen hinab zum Kiosk geht, um Zigaretten zu kaufen. Und die Verkäuferin sagt, mein Mann habe schon welche geholt. Für sie sind wir Mann und Frau und Hund. Stille in den Nächten. Das Surren des Kühlschranks, das Schnarchen des Fremden neben mir, der mit ausgestreckten Beinen und ausgebreiteten Armen seinen Platz einnimmt. Das Atmen und Seufzen des Hundes und meine Wachheit, Wachsamkeit. Der Morgen, an dem mein Geliebter mir mit einem Finger zart über die Lippen streicht, als er meint ich schlafe noch und mir später gesteht, er habe mich küssen wollen. Er küsst mich nie. Küssen bedeutet vergessen, sagt er. Den Moment leben. Rauschen der Blätter im Wind. Müdigkeiten like everyday. Hand in Hand nachts einschlafen. Wer ist dieser Mann? Was geht er mich an? Als lebe ich in einem Roman, vertieft und unwirklich zugleich fühlt es sich an.
Das Gefühl, beschützt zu sein, wenn er mich zur S-Bahn begleitet oder zur Treppe hinauf in die Wohnung, um dann wieder rauszugehen. Auf dass mir nichts geschehe, mich keine fremden Männer ansprechen oder gar berühren. Are you my woman? Seine Sinnlichkeit , die Wärme seines Körpers, seine Handbewegungen beim Teigkneten, beim Kochen, die Sorgfalt und Reinlichkeit, die er an den Tag legt und mich immer fragt, ob ich mir die Hände gewaschen habe, bevor ich koche. Er kontrolliert jeden meiner Schritte. Die Frau ist für ihn ein Abgrund und eine Gefahr und der ständige Spiegel, in dem er sich wahrnehmen muss.
Und dann das Reden über Trennung. Streit, Unverständnis über seine Forderungen. Ich schmeisse ihn raus, ich schmeisse Geschirr ihm nach, ich werde so aggressiv, dass ich erschrecke. Ich lerne mich kennen als eine Fremde. Crashkurs in Selbstbehauptung. Und kriege die geballte Ladung von Verachtung und Entwertung ab, die der Islam in seinen Verzerrungen der Frau zu bieten hat.
Wie ist zu schreiben über Schmerz ? Every word hurts. Wir hatten uns ineinander vertieft, ohne uns je zu erreichen. Worte sind zu wenig. Worte sind zuviel. Zusammen kochen, zusammen essen, zusammen einschlafen, zusammen Fernsehen sehen, zusammen im Internet surfen, zusammen spazieren gehen. Das Herzzerreissende, das Herz zerbeissende Bild des aus allen Zusammenhängen gerissenen Mannes, der glücklich aussieht, wenn er Vögel füttern kann oder wenn er eifrig und gegen jeden Protest Schnittblumen in Erde steckt, damit sie weiter wachsen. Oder ein leeres Aquarium säubert, mit Sand füllt und plant, dass eines Tages, wenn er mehr Ruhe hat, dort Fische leben werden.
Die fremde Sprache läuft neben mir her wie der weisse Hund. Angst vor den Hindernissen der Tage, sie zu überspringen, sie überwinden, was scheitert. Ueber die Hecke klettern, Flüchten, das kennen wir beide, Hautabschürfungen und Wunden. Inszenierungen sind Bilder, sind Filmsequenzen aus einem alten Regieraum. Schwarz-weiss, coloriert, um den Lebensspur Farbe zu geben. Alles flimmert und wird unscharf. Nachts erwache ich schreiend aus bekannten Träumen.
Seine Hände sind schön, seine Augen braune Wärme oder glühend vor Zorn. Seine Haut ist sanft, glatt, niemals ein Geruch an ihm, nur der von Sauberkeit. Seine Haut ist voller Narben. Ich bin ihm verfallen. Das hat mit Falle zu tun. Ich falle rein. Ich falle tief. Ich will es so. Ich sehe mir dabei zu. Ich bin Regie und Schauspielerin und Zuschauerin. Alles gleichzeitig. Und meine immer noch, ich hätte es in der Hand, das Drehbuch zu diesem Film. Revival einer alten story. Dramen spielen wir. Täglich. Jeder aus seinem Repertoire. So leidenschaftlich wie hilflos. So intensiv wie ratlos. Den Stoff liefern wir selbst, unsere Erfahrungen , unsere Verletzungen. Fucking the day I meet you. Auge um Auge. Blau gegen Braun. Hell gegen Dunkel. Alte Kultur gegen neue. Europa gegen den Orient und zurück. Bagdad ist zerstört. Narben tragen beide. Jeder lebt in seinem eigenen Film. What do you want with me, seine oft gestellte Frage von Beginn an. Als sei er ein Stuhl, eine Zigarette, ein Buch, ein Asylant.Das Drama der Völkerverständigung am eigenen Leib aufsuchen. Die Hartnäckigkeit dabei, etwas herauszufinden, das eigentlich mich angeht. Dazwischen liegen Jahre und Jahrtausende Fremdheiten, Gewohnheiten, Rituale, Sprachen, Jokes, Aggressionen, Männer- und Frauengeschichten. Aladins Wunderlampe kennen wir beide so wie Mr. Bean und Marylin Monroe, Brad Pitt, die Mathematik und den Ramadan, durch den er mich führt.
Was tue ich da? Wer bin ich? Wohin bin ich geraten? Und wie komme ich da heil heraus. Ein blaues Auge – vielleicht komme ich mit dem davon. Wieviele Identitäten mute ich mir zu, und wieviele Widersprüche erträgt ein Mensch?
Wenn man Nomade ist, stehen die Plastiksäche voll Kleider und Utensilien immer bereit. Nichts kann einen aufhalten. Nur der Gebetsteppich liegt noch bereit, uneingepackt, der rote Teppich auf dem blauen Sofa. In der Luft der Geruch gebratener Eier und Kaffee. Das Klirren eines Löffels, wenn er den Zucker im Chai umrührt. Die Geräusche des Zuges unten an der S-Bahn. Kein Wind in den Bäumen und Sträuchern.
Ich weiss nicht weiter.
Und ziehe weiter.
In eine andere Stadt.
11.Platz: Einer wie Du - Christina Leicht
Schorsch gehört eigentlich auch nicht hierher. Wenn ihr euch trefft, redet ihr von früher. Du erzählst von der Arbeit, deinen Assistentinnen, dem übervollen Kalender.
Mal keine Termine ist auch nicht schlecht, sagst du. Du gibst dich munter. Motivation ist dein Geschäft. Coaching für Führungskräfte und solche, die es werden wollen. Deine Seminare waren überlaufen. Du hast ein Handbuch herausgebracht: Die sieben Säulen der inneren Stärke. Die Kunden haben darauf geschworen wie auf die Bibel.
Im Moment hast du keine Kunden. Auch kein Geschäft. Nicht einmal eine Wohnung. Trotzdem blickst du nach vorne. Gerade jetzt.
Bis Samstag sind es nur noch zwei Tage. Max, denkst du. Und: Paul.
Schorsch zieht den Rotz in der Nase hoch.
Auch nicht schlecht, sagt er, hau mir ab.
Die Schiebetür des Fords öffnet sich, Freddy schaut in die Runde. Anstelle eines Kittels trägt er einen grauen Rollkragenpullover, die Haare sind kurzgeschoren. Wenn er grinst, verzieht sich sein Gesicht zur hoffnungsfrohen Ziehharmonika. Freddy hat es kapiert. Nach Regen kommt Sonne, nach Ebbe Flut. Es sind die einfachen Rezepte, die wirken.
Die Rastamütze stürzt an Freddy vorbei in den Wagen. Die Tür schließt sich. Schorsch schiebt seine Plastiktüte mit dem Fuß weiter. Du rückst vor. Freddy wird dich nicht hängen lassen.
Einen wie Freddy gibt es kein zweites Mal, sagst du. Auch das Sprechen fällt dir schwer heute.
Stimmt, sagt Schorsch, der früher in der Schlager-Branche war, Auftritte jeden Abend und immer unterwegs. Jetzt nur noch unterwegs. Er dreht sich eine. Manche gebe es, die neue Medikamente ausprobieren an einem oder falsche. Einem Bekannten sei eine dritte Brust gewachsen, die Haare seien ihm ausgegangen und die Fingernägel abgeblättert wie die Farbe an Freddys rostiger Schiebetür. Hast du auch von gehört. Das mit der dritten Brust – naja. Aber der Rest kommt hin. Es ist noch nicht lange her, da hättest du es nicht geglaubt. Inzwischen siehst du manches anders. Zwar nach wie vor positiv, aber auch realistisch. Muss ja kein Widerspruch sein.
Die Rastamütze springt aus dem Wagen und tänzelt mit seligem Blick vorbei. Freddy besieht sich den Fuß des nächsten noch auf der Straße.
Ein Loch im Fuß, schon wieder, sagt er nachsichtig wie zu einem Kind, das es nicht lassen kann. Dann hilft er ihm hinein.
Max und Paul. Du wirst ihnen zeigen, wie stark du bist. Nicht kleinzukriegen.
Die alte Phoenix-aus-der-Asche-Übung. Immer wieder aufstehen, auch wenn der Körper wie in Blei gepackt ist. Die Dinge nehmen wie sie sind. Neue Wege öffnen sich nur dem, der den Tatsachen ins Auge blickt. Hast du alles selbst jahrelang gepredigt.
Auch das vergeht, sagst du jetzt. Die Zunge liegt dir seltsam taub im Mund.
Schorsch zieht an der Zigarette, die so dünn ist, dass es aussieht, als rauche er zusammengerolltes Papier. Das abgebrannte Papier glüht auf und rieselt zu Boden. Du trittst auf der Stelle. Venenpumpe und gut gegen die Kälte. Am Wochenende soll es schneien. Du sorgst dich. Der letzte Winter steckt dir noch in den Knochen. Hat sich in die Gelenke gefressen, ist dort sitzengeblieben. Manchmal kommst du morgens kaum hoch.
Du siehst an dir herunter. Immer Anzug und Krawatte, auch heute. Der Stoff ist dünn geworden an Po und Gesäß und riecht nicht besonders. Den braunen Anorak von der Caritas trägst du nur im Notfall. Meist rollst du ihn unter dem Arm zusammen. So kommst du überall rein. In die Eingangshallen der Ämter, der Museen, ins Kaufhaus sowieso, aber das meidest du. Zu viele, die du von früher kennst. Nachbarn, Kollegen. Neulich hast du Frau Hohnert getroffen. Sie hat dich gegrüßt. Die meisten schauen durch dich durch, auch die, die dich kennen. Als sei das Gehirn auf derartige Schaltungen nicht eingestellt. Frau Hohnert dagegen hat getan, als wäre nichts. Man sieht sich, hat sie gesagt, als würdet ihr euch weiter regelmäßig begegnen, auf dem Fußballplatz mit den Jungs oder beim Grillfest.
Warum auch nicht. So sehr hast du dich nicht verändert. Du achtest auf dich. Isst und schläfst im Gemeindehaus oder im Wohnheim, die Schuhe putzt du dir vorm Karstadt und bald gehst du auch mal wieder zum Friseur. Bis dahin nimmst du Pomade. Selbst wenn du damit aussiehst wie ein in die Jahre gekommener Fußballspieler. Es gibt Schlimmere. Typen, die nach Kotze stinken, nach Scheiße, Pisse oder allem drei gleichzeitig. Denen die graubraune Jeans feucht in den Kniekehlen hängt, die Stunden brauchen, um auf ihren kaputten Füßen durch die Unterführung zu humpeln. Die nicht einmal die Kraft haben, weggeworfene Straßenmagazine aufzulesen und erneut zum Kauf anzubieten. Die auf dem Friedhof schlafen in vorweggenommener ewiger Ruhe, weil kein Asyl sie reinlässt.
Das kann dir nicht passieren. Du weißt, wie man aus Niederlagen Siege macht.
Dem Glück auf die Sprünge hilft. Sieben Säulen, die dich stützen.
Im Grunde bist so gut wie wieder auf den Beinen. Noch ein kurzer Check-up, bevor du richtig durchstartest. Wie sonst einmal im Jahr beim Hausarzt. Letztes Mal erst hat der Arzt deine Fitness gelobt und gefragt, ob du viel Sport treibst. Das vergrößerte Herz weise darauf hin. Du hast noch nie viel Sport gemacht, wozu auch. Dem Arzt gegenüber hast du so getan. Wo ihr doch beide so stolz wart auf dein großes Herz.
Schorsch tritt die Zigarette aus und hält sich das Transistorradio ans verschorfte Ohr, lauscht.
WDR 4, sagt er, mein zu Hause.
Zu Hause, das war einmal, sagst du. Hast gelernt, einen Schlussstrich zu ziehen, willst schließlich das Licht am Ende des Tunnels erreichen. Obwohl dein Haus nicht das Schlechteste war. Doppelhaushälfte, Carport, Garten. Blumen auch, Silke mit dem grünen Daumen hat dafür gesorgt. Orchideen auf den Fensterbänken, Rosenbüsche auf der Terrasse. Abends Wein und Gäste am Wochenende, und die halbe Branche kam am Geburtstag vorbei, all die Jahre, bis auf das letzte, da rochen die ersten schon den Braten. Manchmal fragst du dich, wo Silke ihren grünen Daumen heute hineinbohrt. Sicher hat sie einen neuen Garten angelegt. Andere Töpfe zum Blühen gebracht. Vielleicht sogar Max und Paul. Sie gedüngt mit Mutterliebe und Beharrlichkeit, ihre zarten Triebe immer wieder gekappt, sie vor Wildwuchs bewahrt.
Sie hielte den Druck nicht länger aus, hat Silke gesagt. Das wunderte dich dann doch. Vielleicht meinte sie es anders. Vielleicht meinte sie nicht dich und deinen finanziellen Drahtseilakt, sondern den Druck ihres eigenen grünen Daumens. Silke konnte sehr unnachgiebig sein, wenn etwas sich weigerte zu wachsen.
Es gab einmal eine Zeit, da hat dir das gefallen.
Die Frauen sind schuld, behauptet Schorsch, wenn ihr zusammen wartet. Vor der Suppenküche. Dem Wohnheim. Manchmal steht ihr auch einfach nur so herum. Dann sieht es trotzdem aus, als wartet ihr.
Weiß nicht, sagst du. Einiges, was du nicht weißt. Was Silke mit dem ganzen Geld angestellt hat beispielsweise. Dass sie kaufte, wahllos, unnötig, Sachen, die sie tütenweise im hinteren Teil des Schrankes versteckte, hortete wie versunkene Schätze. Sie zu bergen, hat sie dir überlassen, nach ihrem überhasteten Auszug, Schätze, an denen noch Etiketten hingen und Preisschilder. Du hast sie im Garten verbrannt. Knallen und Zischen wie Feuerwerk, es stank nach Wolle und Synthetik und wenn der Räumungsbefehl nicht schon auf dem Tisch gelegen hätte, hätten dir die Nachbarn spätestens jetzt die Polizei auf den Hals geschickt. So aber standen sie am Gartenzaun und sahen zu, wie der Rest deiner bürgerlichen Existenz in Flammen aufging. Als der Wind die Asche zu ihnen zu wehen begann, machten sie, dass sie ins Haus kamen. Wer kann schon sagen, ob es nicht doch ansteckend ist.
Freddy presst mit dem Stethoskop eisige Ringe auf dein Herz. Du siehst an dir hinab. Dein Bauch ist weiß und faltig, deine Arme blass, der Leberfleck oberhalb der Achselhöhle da, wo er schon immer war.
Warum, denkst du unvorsichtigerweise. Schon schießen dir Tränen in die Augen. Vielleicht ist es die Nacktheit. Vielleicht Freddys aufmerksamer Blick.
Du zwingst die Tränen zurück.
—trinken, hörst du Freddy gerade noch sagen.
Ich trinke nicht, sagst du. Das erste, was du dir abgewöhnt hast. Wein, Zigarren, schottischer Whisky. Kannst du dir nicht nur finanziell nicht länger erlauben. Wer in deiner Lage mit dem Trinken anfängt, säuft schneller ab, als er die Flasche wieder zudrehen kann. Schaufelt sich ein nasses Grab, aus dem er nie wieder aufsteht. Ohne dich, dafür bist du viel zu klar im Kopf. Normalerweise zumindest. Klar, schnell, erfindungsreich. Auch die Idee mit der eigenen Coaching-Firma war eine gute. Schließlich bist du vom Fach. Hast anderen jahrelang gezeigt, wie man über sich hinauswächst. Hast ihnen befohlen, aufzustehen und die untrainierten Büroarme auszubreiten, damit die Energie zu fließen beginnt. Bist auf den Tisch gesprungen mit beiden Füßen zugleich. Spüre die Welle, reite sie. Beach Boys, ihr alle. Du fetztest über den Wellenkamm wie kein Zweiter, kurz vorm Abheben, die Welle, sie trägt dich, warum also hättest du es nicht wagen sollen. Nur der Zeitpunkt war falsch, fiel zusammen mit der Krise, die keiner vorhergesehen hat, nicht einmal der Kreditberater, der kalte Füße bekam und den Kredit kündigte. Ein surfender Coach und ein Kreditberater mit kalten Füßen. Auf dem Scheitelpunkt brach die Welle und das, was dich hätte tragen sollen, zerstob zu Nichts, noch bevor du wieder Boden unter den Füßen spürtest.
Freddy fragt nach Herzschmerzen. Einen Augenblick treffen sich eure Blicke. Du versuchst ein Lächeln. Freddy schüttelt den Kopf.
Nicht diese Herzschmerzen.
Andere hast du aber nicht.
Ich habe ein großes Herz, sagst du mit schwerer Zunge und schlingst wieder einen Arm um deinen Oberkörper. Der Arm ist noch kälter als deine Brust.
Das gefällt mir nicht, sagt Freddy, aber du musst dich jetzt konzentrieren. Säule Vier? Fünf? Egal, dein Netzwerk steht. Max und Paul. Samstag wirst du sie wiedersehen. Am Telefon hat Silke gesagt, Max wirst du nicht wiederkennen, so groß ist er. Sie hat gelacht, so als bereite sie dir damit eine besonders erfreuliche Überraschung.
Paul dagegen, hat sie dann gesagt. Ohne zu lachen. Er sei im Prinzip unverändert.
Was das heiße, im Prinzip, wolltest du wissen.
Er spreche nur das Nötigste. Gewachsen sei er gar nicht. Einen Moment hat auch ihre Stimme kleiner geklungen.
Der eine wird größer, der andere bleibt klein, hast du nachdenklich in den fettigen Hörer des Wohnheimtelefons gesagt. Wie seltsam dieser Hörer riecht, hast du gedacht, so als habe er im Laufe der Zeit allen Schweiß und alle Angst, Hoffnung und Verzweiflung aufgesogen und dünste nun vor sich hin wie ein übersatt getränkter Schwamm.
Was soll’s, mit Kindern ist ja immer was, hat Silke gesagt, und du hast den Hörer weggedreht und dir die Nase zugehalten. Die Ohren wären dir lieber gewesen.
Verantwortung übernehmen, Säule egal jetzt welche. Was heißt schon schuldig?
Du wirst die Jungs sehen, nur noch zwei Tage. Ihr werdet ins Steakhaus gehen, Fleisch wird es geben und fettige Kartoffelecken. Du hast gespart. Ihr werdet zusammen am Tisch sitzen, essen, es gut haben.
Alles gut, sagst du mühsam. Einer wie du fällt immer auf die Füße. So leicht haut dich nichts um. Ein Teflon-Mann, nichts bleibt hängen. Im Herzen Sonnenschein, den Kopf frei, auch wenn es regnet.
Dir kommen schon wieder die Tränen.
Freddy legt dir eine Hand auf den Arm.
Zieh dich an, bitte, sagt er. Er zieht ein Formular aus der Schreibtischschublade. Du siehst beim Ausfüllen zu. Im Grunde lächerlich, dies Getue um dich. Um deine Jungs sorgst du dich mehr. Dein Max auf dem Weg zum Mann und keiner da, der ihm zeigt, wie das geht. Und Paul, der sich verpuppt, das Wachsen einstellt. Der kleine Paul. Wenn ihr euch seht, wirst du ihn auf die Schultern heben wie früher. Paul wird jauchzen und sich an deinen Haaren festkrallen. Max wird neben euch hergehen, die Hände in den Hosentaschen und den Kopf gesenkt, verlegen ob seiner plötzlichen Größe, nur manchmal wird er dich ansehen, voller ertapptem Stolz, auf sich und seinen Vater, der sich nicht unterkriegen lässt.
Stummer Herzinfarkt, sagt Freddy, bis man`s merkt, ist es schnell zu spät.
Mach keine Witze, sagst du. Spritz mich fit, Freddy, ich hab Termine.
Spritzen helfen da nicht, sagt Freddy und fährt sich durchs Bürstenhaar. Dann sagt er Krankenhaus und dass er jetzt einen Wagen bestellt.
Samstag, Samstag. Einer stammelt. Du. Freddy schüttelt den Kopf.
Der Rettungswagen ist schnell vor Ort. Freddy redet mit dem Sanitäter. Schorsch bietet dir das Transistorradio an, aber du hast anderes zu tun.
Du musst Silke anrufen.
Den Treffpunkt verlegen.
Den Termin bestätigen.
Nach dem Planen ist vor dem Planen. Samstag. Säule wieviel?
Max, denkst du. Paul.
12.Platz: Die eine Nacht - Silvia Berger
Haben Sie meinen Schlüssel? Geben Sie ihn mir. Sofort. Ich will nach Hause.
Hallo, Frau Kittel. Ich hab ihren Schlüssel nicht. Haben Sie schon in ihrer Tasche nachgeschaut? Da ist er sicher.
Ich warte, bis sie ihn gefunden hat.
Auf Wiedersehen dann, Frau Kittel.
Sie ist oft im Treppenhaus oder steht in der offenen Tür. Wenn die Frau vom Pflegedienst kommt, verschwinden beide in der Wohnung. Manchmal höre ich durch die Wand ihre Stimme, voller Empörung oder Jammer: Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie überhaupt? Gehen Sie, gehen Sie! Und die gleichgültige Stimme der Pflegerin.
Die Wohnungen sind hellhörig. Wenn der Typ von nebenan in der Nacht heimkommt – was er arbeitet, weiß ich nicht – und sich sein Essen macht, höre ich das Fett in der Pfanne brutzeln. Frau Kittel wohnt auf der anderen Seite. Wenn sie den Fernseher aufdreht, verstehe ich fast jedes Wort.
„Is this love, is this love, is this love, is this love, that I’m feelin“ –
(Ich muss diesen Scheißklingelton endlich ändern.) Was? Wie’s mir geht? Erst schmeißt du mich aus der Wohnung und dann willst du wissen, wie es mir geht? – Ach ja, du hast mich also gar nicht rausgeschmissen. Ach, verpiss dich und erzähl dein Märchen von der harmonischen Trennung jemand anders.
Die Wohnung ist immer noch ungewohnt, neue Geräusche, fremde Gerüche.
Frau Kittel
Ich sehe sie jeden Tag, morgens ist ihre Tür offen oder sie steht im Treppenhaus und wartet auf die Pflegerin. Oft höre ich sie sagen – denn sie spricht laut, so dass es durchs Treppenhaus hallt: Wie haben Sie mich denn nur gefunden? Das ist doch gar nicht meine Wohnung. Ich werde doch ständig woanders hingebracht.
Ach, Frau Kittel, sagt die Pflegerin. Sie wohnen doch schon lange hier, schon seit 20 Jahren. Jetzt kommen Sie, gehen wir rein.
Nachmittags geht sie aus, sehr sorgfältig gekleidet mit einem dunkelblauen Mantel, Hut und Handtasche. Meistens mit ihrer Pflegerin, bei der sie sich unterhakt. Manchmal geht sie auch allein.
Hallo, Frau Kittel, sage ich.
Grüß Sie Gott, Fräulein, sagt sie. Kein Mensch sonst nennt mich noch Fräulein.
Dass die noch alleine zurecht kommt, sagt die Alte von der Wohnung unter mir, wenn ich ihr zufällig über den Weg laufe und sie dabei ertappe, wie sie ihr nachschaut.
abendliches Date auf der Gänsewiese
Nicht weit von der neuen Wohnung ist ein kleines Schloss mit dem schaurig schönen Namen Blutenburg. Die Rettung meiner depressiven Wochenenden. Dort ist es hübsch, ein See, eine kleine Parkanlage, das Schloss mit Innenhof, Leute, die in der Wiese liegen oder auf Bänkchen sitzen, Eltern mit Kindern, Rentner, Radfahrer, Jogger. Und hunderte von Gänsen, Graugänse. Sie stehen in riesigen Scharen auf der Wiese herum und zupfen Gräschen. Äsen sagt man dazu, erklärt mir ein Rentner, der mir seine Fachkenntnisse über Gänse mitteilt. Die ganze Wiese und die Wege rundum sind voll mit dunkelgrüner Gänsekacke. Abends beginnen einzelne laut zu rufen, ein langezogener blecherner Laut. Ein Ruf mit hochgerecktem Hals. Und plötzlich nehmen ein paar von ihnen Anlauf mit ausgebreiteten Flügeln, heben ab und fliegen über die Wiesen und Bäume davon. Die Zurückgebliebenen werden nervös und rufen mit langgestreckten Hälsen hinterher. Nach und nach fliegen auch sie in Gruppen davon. Zurückbleiben ein paar Gänse, die ungerührt weiter die Wiese rupfen. Ich stelle mir vor, das sind die Erfahrenen, Alten, die es nicht mehr nötig haben zu üben für den großen Abgang im Winter. Ich war noch nie lange genug beim Schloss, um sie zurückkommen zu sehen. Nur spät abends höre ich sie manchmal rufen und erspüre hörend den Raum, den sie fliegend durchmessen. Am nächsten Tag sind sie alle wieder da und schwimmen in kleinen Trüppchen im See herum. Flaumfedern schweben auf dem Wasser und schmücken die Wiese wie weiße Blumen. Am Nachmittag hüpfen sie nach und nach ans Ufer und scheißen weiter die Wiese voll. Wirklich, es sind hunderte.
„Is this love, ist this love, is this love, is this love, that I’m feelin“ –
(Oh Gott, dieser Klingelton. Im Auto hab ich Bob Marley gehört, I wanna love you, und da habe ich an dich gedacht. So hat es angefangen. Dieser Scheißtyp! Und ich lad mir das auch noch als Klingelton hoch.) Hallo, Mama. Ja, geht schon – Nein, ich brauch nichts – Nächsten Sonntag? – Okay, ich komm dann um halb eins –
abendliches Date auf der Gänsewiese
Auch eine Schwanenfamilie wohnt auf dem Schlosssee. Fünf graubraune pelzige Junge und ihre großen, schneeweißen Eltern, die mit grimmig prüfendem Blick unter dem schwarzen Schnabelhöcker vor ihren Jungen her über das Wasser gleiten. Bald fällt mir auf, dass eine Graugans immer in ihrer Nähe ist. Auch wenn der große Schwan mit gestrecktem Hals auf sie losgeht, um sie auf Abstand zu halten, lässt sie sich nicht beirren. Um die anderen Gänse kümmert sie sich nicht. fliegt auch nicht mit ihnen die abendlichen Runden. Sie bleibt bei den Schwänen.
Frau Kittel
Meistens ist sie nicht verwirrt und antwortet freundlich auf meinen Gruß. Wenn ich sage: Hallo, Frau Kittel, wie geht es Ihnen?, dann antwortet sie: Ach, ich will nicht mehr. Aber man kann es halt nicht bestimmen, wann man geht.
Es ist wie eine Formel, die sie immer und immer wiederholt. Einmal sagt sie: Was glauben Sie, Fräulein, wenn ich einfach nichts mehr äße. Das ginge doch – ich hörte einfach auf zu essen. Sie spricht sehr gepflegt und spricht diese Konjunktive „äße“ und „ginge“ und „hörte“ überdeutlich aus wie eine Schullehrerin.
Ich steh mit meiner Edeka-Tüte vor ihr.
Ich lächle sie an, weiß nicht, was ich sagen soll, außer feige: ach nein, nein.
Dabei habe ich das selbst oft gedacht: einfach nichts mehr essen, wenn man alt ist und nicht mehr leben will, einfach nichts essen und einfach sterben.
Geben Sie mir meinen Schlüssel, sagt sie plötzlich, sofort. Ich will nach Hause.
Sie haben den Schlüssel doch in ihrer Tasche, Frau Kittel.
Ich warte, bis sie ihn gefunden hat.
Auf Wiedersehen, Frau Kittel.
abendliches Date auf der Gänsewiese
Seit Tagen gibt es für mich um 19 Uhr nur noch einen Termin: der Schlosssee mit den Gänsen. Ich muss schon heim, sage ich in der Arbeit, wenn die Mädels noch ausgehen wollen, hab noch einen Termin. Sie wundern sich, wie schnell ich über die Trennung hinwegkomme, und fragen sich wahrscheinlich, ob ich schon einen Neuen habe. Aber es sind nur die Gänse. Ich spaziere dorthin. Zuerst, bevor ich zur großen Gänsewiese gehe, suche ich die Schwanenfamilie und schaue nach der irregeleiteten Gans. Sie ist zuverlässig in der Nähe der Schwäne. Manchmal, wenn der Schwan sie nicht beachtet und sie in der Nähe der Jungen herumschwimmt, wirkt sie wie eine Gouvernante. Überhaupt haben Gänse etwas Tantenhaftes, etwas Unkapriziöses, Zuverlässiges, absolut Vertrauenswürdiges.
Dann erst gehe ich zur großen Wiese und beobachte die Gänse. Sie sehen so sympathisch aus und überaus klug. Sie stehen in Grüppchen zusammen. Und ich glaube, sie unterhalten sich miteinander.
„Is this love, is this love, is this love, is this love, that I’m feelin?“
Nein, verdammte Scheiße, das war es nicht – ich klicke den Anrufer weg und lösche den Klingelton.
abendliches Date auf der Gänsewiese
Am Samstagnachmittag sind die Wege und Wiesen um das Schloss voll. Leute und Gänse. Fast jeden Samstag wird in Blutenburg eine Hochzeit gefeiert. Zu all den Rentnern, Radfahrern, Familien mit kleinen Kindern und Joggern kommen fein aufgemotzte Leute dazu, die, wenn das Wetter schön ist, vor dem Schloss am See an weiß umkleideten runden Stehtischen ihren Sekt trinken. Die Bräute schweben wie große weiße Vögel über die Wiese und müssen sich vor der schönen Kulisse fotografieren lassen.
Die Gänse kümmert das nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich allmählich die Gänsesprache verstehe: wie sie sich rufen, beim Namen nennen und antworten. Und plötzlich ruft eine mit langem Hals „hab acht, hab acht, hab acht“, aufgeregt und bereit loszufliegen. Die anderen stimmen ein. Und es beginnt das große Fliegen. Man muss den Kopf einziehen, wenn man im Weg steht.
Das Gequake der Enten erscheint mir dagegen primitiv und wenig schön.
Frau Kittel am See
Vielleicht hat die Gans, die sich so unbeirrt den Schwänen angeschlossen hat, auch Alzheimer und deshalb vergessen, wo sie eigentlich hingehört. Die Attacken des Schwans werden immer beiläufiger. So avanciert sie tatsächlich zum Kindermädchen und schnappt sogar nach ihresgleichen, wenn eine der Gänse den jungen Schwänen zu nahe kommt.
Als die Gänse ihre Stimmen erheben, schaue ich auf. Mit blauem Mantel, blauem Hütchen und Handtasche steht Frau Kittel mitten auf der Wiese. Um sie herum hat sich ein gänsefreier Raum gebildet. Als das Rufen immer lauter wird, und sie Anlauf nehmen und losfliegen, hält Frau Kittel ihren Hut fest und mit der freien Hand schlägt sie um sich. Je näher ich komme, umso deutlicher höre ich ihr Jammern. Frau Kittel, rufe ich, hallo, Frau Kittel. Als ich vor ihr stehe, nehme ich ihren Arm und führe sie aus der Wiese.
Wo gehen wir hin, fragt sie klagend. Ich will nach Hause.
Wir gehen ja nach Hause. Ich bring Sie zu ihrer Wohnung.
Unsere Schuhe sind voller grüner Gänsekacke.
Ach, ich will nicht mehr, sagt sie. Aber man kann es halt nicht selbst bestimmen, wann man geht. Ich will nur noch meine ewige Ruhe.
Das ist als Formel neu dazugekommen. Sie sagt es zehn, zwanzig mal. Sie klingt wie ihr eigenes Bestattungsinstitut.
Die Nacht
Ich werde aus dem Tiefschlaf gerissen. Mein Herz rast. Die Türklingel ist in der Nacht laut wie Alarm. Und noch einmal klingelt es. Vor meiner Tür steht – nichts passt besser als das abgedroschene Wort „völlig aufgelöst“ – Frau Kittel. Barfuß steht sie da. Sie, die immer so altersadrett mit gleichfarbigem Hütchen, Mantel und Handtasche aus dem Haus geht, hat nur ein Nachthemd an, vorne alle Knöpfe offen, so dass ich ihren faltigen Brustlappen sehe. Ich zwinge mich nicht hinzuschauen. Die Haare wirr. Ein unangenehmer Geruch geht von ihr aus. Sie rudert mit den Händen. Helfen Sie mir, sagt sie, es war jemand in meiner Wohnung. Alles ist voller Dreck. Ich war es nicht, ich nicht. Da war einer, der hat alles schmutzig gemacht. Mein Bett ist voll, der Teppich.
Ich gehe mit ihr rüber. Aus der offenen Wohnungstür schlägt mir Gestank entgegen. Ich packe es nicht. Ich kann da nicht rein. Es würgt mich. Frau Kittel, sage ich, können Sie nicht auf der Wohnzimmercouch schlafen? Da ist bestimmt kein Fremder. Und morgen kommt ja ihre Bekannte. Legen Sie sich doch wieder hin.
Sie wird ruhiger und geht in ihre Wohnung, ohne mich noch einmal anzuschauen. Ich fühle mich beschissen, aber ich kann ihr einfach nicht helfen.
Zurück im Bett hört das Herzklopfen nicht auf. Ich zittre vor Scham und Zorn. Der Geruch verfolgt mich. Barfuß in meinen Stiefeln und mit der Jacke über dem Schlafanzug verlasse ich meine Wohnung und gehe zum Schlosssee. Dort ist es ruhig und kalt. Leise schnattert ab und zu eine Ente. Es klingt zärtlich in der Nacht. Rund herum höre ich das ferne Rauschen der Großstadtstraßen. Dann, von ganz weit, das Rufen der Gänse. Sie kommen näher, ein Flügelbrausen und helles Singen. Ich sehe sie kommen. Tiefer fliegen. Vor dem See beschreiben sie einen Bogen. Das Wasser rauscht und weiß aufspritzende Spuren durchschneiden die schwarze Oberfläche. Dann wird es still. Ich bleibe auf der Bank sitzen, bis ich vor Kälte zittre.
Als ich zurückgehe, lausche ich an ihrer Tür, klopfe sogar leise, aber alles bleibt still.
Frau Kittel
Zwei Tage nach dieser Nacht ist Frau Kittel weg.
Man hat sie ins Heim gebracht, raunt mir im Treppenhaus die Alte aus der Wohnung unten in bedeutungsvollem Ton zu. Es ging halt nicht mehr.
Noch leiser und gewichtiger sagt sie: Sie hat sich gewehrt.
Sie klingt zufrieden, triumphierend.
Ein anständiges Heim, sagt sie noch. Und ich nicke freundlich dazu, obwohl ich schreien könnte und mir schlecht wird, weil Scham mich überfällt.
Geplatztes Date auf der Gänsewiese
Am Wochenende sind alle Gänse weg. Der große Aufbruch hat ohne mich stattgefunden. Dabei hätte ich es so gerne gesehen, wie die ganze große Schar mit gewaltigen Flügelschlägen auffliegt, rufend, brausend und in Formation über meinem Kopf davonzieht, so dass der Sturm ihrer Flügel mein Haar zerzaust. Ich wollte ihnen nachschauen, wie sie immer kleiner werden, bis sie am Himmel nur noch als kleine langgezogene Ms dahinschweben, wie ferne Vögel in Landschaftsbildern.
Der See, die Wiese sind verwaist. Die paar Enten wirken kümmerlich. Die Schwanenfamilie gründelt ungerührt im Wasser und – tatsächlich – die Alzheimergans ist zurückgeblieben und schwimmt um sie herum.
„We shall overco – o – ome, we shall overco – o – ome, we shall overcome, some day – ay – ay –ay – ay“
Ich drücke den Anrufer weg, mein neuer Klingelton ist dieses erste Mal nur für Frau Kittel und mich. Und für die Gans, die in aller Unbeirrtheit mit den Schwänen auf dem Schlosssee schwimmt.
13.Platz: Draußen - Corinna Gerhards
Es war weit und großartig an jenem grauen Dämmermorgen, an dem sich das Brakwasser in deinen Jeansbeinen nach oben zog und der verwaschene Himmel vor Übelkeit schwankte. Eine Übelkeit, die nach Erwachsensein roch.
Wenn du auf dem Lüftungsgitter des Fastfood – Restaurants sitzt und dabei eine Zigarette rauchst, fühlt es sich nicht wirklich an. Auch nicht wie ein Alptraum, aber wie ein Ding dazwischen, aus dem eines aufwacht, um sich wieder im selben Traum zu finden und Vorhänge die im Winde flattern. George neben dir schmatzt in seinem schnaps-schweren Schlaf und schnarcht sehr leise vor sich hin. Fast ergreift dich Rührung, in all dem Zigarettenqualm.
Früher war der Boden sauber, Ahorn – Laminat, schön pflegeleicht. Die alten Möbel, Shabby Chick, wie im Wohnblog und Vasen, in denen immer und unbedingt frische weiße Tulpen standen, die nie die Köpfe hingen ließen. Deine Eltern passten exakt in ihre Mulden auf dem Zweisitzer, sehr weich und hell und skandinavisch. Sie schauten geradeaus auf den Bildschirm, auf dem in einer Endlosschleife ein Kaminfeuer flackerte.
Ironie ist es bestenfalls das Leben, so absurd, dass du daneben stehst und lachen musst. Du kannst gar nicht mehr aufhören, du biegst dich und es schüttelt dich wie einen nassen Vogel, wenn du genauer darüber nachdenkst, immer in Erwartung der Pointe.
Du stehst vorsichtig auf und legst George seinen Rucksack unter den Kopf. Es ist dieser Geruch, der dich hinter sich herzieht. Der Geruch nach Salz und Fisch nach wilden, starken Seefahrern und geblähten Segeln.
Am Fluss atmest du tief ein, die Sonne badet im Wasser, vielleicht ist es deshalb so kalt. „Paris im Winter“, denkst du und fühlst dich ganz französisch.
„Zevuplä Madam!“ sagst du zu den alten Damen, die dir entgegen kommen und auch „Bondschur“, ein bisschen Fremdsprache kannst du nämlich. Die Frauen schauen dich schräg an, rümpfen ihre großen Nasen und gehen weiter, schneller als vorher. Ein Herr mit und einem grauen Wollhut kommt auf dich zu, er sieht nicht besonders freundlich aus. Trotzdem stellst du dich vor ihn hin und sagst „Bondschur Missjö!“. Er zögert kurz und lächelt dann, so ein breites kleine – Jungen – Grinsen, zieht seinen Hut und verbeugt sich tief. „Bonjour Mademoiselle, et bonne journée!“. Du machst einen ganz tiefen Knicks und wirst dabei rot. Als du wieder aufschaust, ist er weg.
Du balancierst am Rand der Uferbegrenzung entlang. Dort ist der Himmel und das Wasser und keine Linie dazwischen, da schwebt eines, schwerelos in der Luft baumelnd, fliegend, getragen vom salzigen Wind und im Kopf nichts, außer dem Rauschen des Wassers und dem Schrei einer Möwe. „Hinsetzen“, denkst du, „zu den grauen Vögeln und auf einem Bein die Balance halten, um nicht die Klippe hinunter zu fallen.“ Hinsetzen und hier bleiben, dich um nichts mehr kümmern. Im Winter würde der Schnee auf dich fallen, im Herbst ein bisschen Moos an deiner Südseite wachsen, oder war es Norden? Und vielleicht würden im Frühjahr ein paar Touristen kommen und dich mit Blüten oder Luftschlangen dekorieren und ein Vogel könnte auf dir landen und singen und kacken. Dann könnten deine Gedanken endlich weglaufen und müssten nie mehr wieder kommen.
Als du das erste Mal weggelaufen bist, hattest du dich im Stillen verabschiedet, schon seit Tagen, hattest so viele letzte Male, aber konntest es keinem erzählen.
Einen ganzen Nachmittag bist du gelaufen und hast dabei in jedes der erleuchteten Fenster geschaut und auf die Familien, die um den Abendbrottisch saßen und lachten. In deinem Kopf lachten alle Familien, wenn sie um den Abendbrottisch saßen. Nur deine nicht.
Als du noch am selben Abend wieder nach Hause kamst, fragte dich keiner, warum du so einen großen Rucksack trugst. Sie deckten den Tisch, als ob nichts wäre, setzten sich hin und lachten nicht.
Du aber wolltest einmal alles besser machen. Also lachtest du. Nur schon mal so zur Übung für später. Du lachtest so laut, dass deine Eltern das Besteck zur Seite legten und dich anstarrten, so laut, dass die Nachbarn mit dem Besenstiel an die Decke klopften, die Gläser klirrten und der wurstförmige Hund von nebenan sich knurrend unter dem Bett verkroch.
Erst als deine Mutter aufsprang und heulend, mit einer Serviette vor das Gesicht gepresst, aus dem Raum stürzte, gefolgt von deinem Vater, der es gerade noch schaffte, dir auf dem Weg nach draußen ein verständnisloses Kopfschütteln zuzuwerfen, schriest du.
Du wolltest doch immer wild und gefährlich sein.
Am Platz warten sie schon auf dich. Wenn es dämmert und kalt wird, ist Erzähl-zeit. So wie früher, als eines noch zugedeckt wurde. Dann legen sie ihre klebrigen Centstücke zusammen, bis es für einen heißen Kaffee im Pappbecher reicht. Und dazu eine Zigarette, oder zwei, die besorgt Helge. Helge ist großartig, er hat dieses unglaublich breite Grinsen. Wenn er eine Frau nach einer Zigarette fragt, will sie ihn immer in die Wangen kneifen, mit nach Hause nehmen und mit Sahnebonbons füttern. Das tun sie nur selten, aber seine Zigarette kriegt er immer, manchmal sogar eine ganze Packung. Dann kommt er danach zum Platz und teilt sie ganz gerecht auf.
„In Paris“, beginnst du, „in Paris gibt es nur Pärchen und alle sind verliebt und laufen händchenhaltend am Fluss entlang. Die Frauen tragen Baskenmützen und sind furchtbar elegant. Und die Herren schenken ihnen Rosen mit langen Stilen. So macht man das in Paris. Unten am Fluss, etwas versteckt, sitzt eine Figur, ganz aus Stein, und schaut auf den Fluss. An einer Seite wächst schon etwas Moos und gelegentlich kommen Touristen und schmücken sie mit Blumen.“
Du redest weiter, aber die Meisten haben sich in ihre Schlafsäcke gekuschelt und schlafen langsam ein. Einige lächeln.
Heute gibt es das Geld für die Woche, das ist ein Glückstag, das will gefeiert werden. Während du noch überlegst, was du dir leisten kannst, hörst du die Kinder, sie haben sich versteckt und luken hinter den Ecken hervor. Penner! rufen sie und Opfer! und Dinge, die du nicht verstehst.
Aber weil du sie nicht ernst nehmen kannst, stehst du da und willst dich ausschütten vor Amüsement.
Bis einer der Größeren vor dir anhält, dich einen Moment anschaut und dir dann eine hinunter haut, bevor er schweigend weiter geht. Danach ist alles nur noch halb so witzig.
„Bis einer blutet“, haben deine Eltern gerne gesagt, aber meinten etwas anderes damit. Damals lebten sie noch.
Alles gleitet vorbei und durch dich hindurch und was du versuchst zu halten fällt, sehr langsam und du hast lange Zeit den Moment zu erwarten, bis es auf dem Boden zerspringt. Wenn die anderen durch dich hindurch gehen, bleibst du kurz stehen und hörst auf zu atmen, du hast dich immer noch nicht daran gewöhnt. Dann zerfranst du ein bisschen und deine Umrandung zerfließt auf dem Weg.
Du hältst dich fern von Gullys.
Da soll eines einfach weiter gehen und lächeln, lächeln als ob nichts geschehen wäre und dabei brennt ein Feuer da drin, das es sich wundert, dass es noch laufen kann und sich nicht augenblicklich zu einem Häufchen Asche verwandelt, über das die Zeitungsboten stolpern und dagegen treten, so dass es in alle Winde weht und hinfort getragen wird.
Da kannst du dir den Schal über den Mund ziehen soviel du willst, aber die Augen müssen ja sehen, die Augen, die nicht aufhören wollen zu weinen, mitten in dem Gesicht, das sich kaputt anfühlt vor lauter innerer Zerbrechlichkeit.
Dann starren sie dich an. Sie bleiben extra stehen, um dich anzustarren, aufgereiht am Straßenrand, wie zu einer Parade und machen nichts als dich anstarren und keiner schwenkt Fähnchen. Es sollte Prothesen geben für Gesichter, mit einem Lächeln zum anschnallen, dann müssten sie nicht alle so starren, dann wärst du eine von ihnen.
Irgendwo klappert ein vergessener Fensterladen. Vielleicht ist es auch die Müllabfuhr.
Am Platz sitzt George.
„Komm George“, sagst du. „Hast du Kippen?“ fragt er und als du nickst, läuft er dir hinter her, immer in einem Meter Abstand, damit sich keiner etwas denkt, wer weiß. Lange gehst du, immer am Paris – Fluss entlang, gegen viel Wind. Der Weg wird schmaler, eine Landzunge und an seiner Spitze ein Leuchtturm. Wenn dass Wasser links und rechts vorbeifließt, ist es wie auf einem großen Schiff, Rauschen an den Wangen und das Haar im Gesicht.
„Wie bei einer Kreuzfahrt im schwedischen Fjord,“ sagst du und denkst , ‘wie Titanic’, breitest deine Arme aus, damit er dich von hinten umschlingen kann. Aber er hängt seinen Rucksack über deinen Ellbogen.
„Und jetzt?“ fragt er, während du die Tasche abstellst und auf einen Baum kletterst. „Land in Sicht!“, rufst du vom Gipfel aus. Er krümmt sich vor Lachen. Aber dann klettert er dir hinterher und zusammen hisst ihr Segel und besiegt Piraten und werdet selber Piraten und reich und gefürchtet und berühmt. Ihr wackelt hin und her in den Ästen wegen der Wellen eben und manchmal klammert ihr euch eng aneinander um nicht von Bord gespült zu werden.
Zahltage sind Anna – Tage. Du weißt nicht, ob sie Anna heißt, sie redet nicht. Aber sie sieht aus, als müsste sie Anna heißen und widersprochen hat sie auch nie, wenn du sie so genannt hast.
Sie ist einfach da und macht nicht viel, sitzt nur und riecht nach einer warmen Mischung aus Vanille – Pudding und alter Frau. Weil du gerade ein bisschen Geld hast, nimmst du sie mit in ein Café, da ist es warm, und kaufst ihr einen heißen Kakao. Sie schaut hinaus und rührt ihn nicht an.
Du beobachtest sie ein bisschen bis dir langweilig wird und siehst auch aus dem Fenster. Vor der Scheibe hält sich ein Blumenbottich auf, der sehr unentschlossen wirkt, als wollte er früher einmal hübsch werden. Davor gehen andere alte Menschen mit ihren Einkaufstaschen, schlurfen in ruckartigen kleinen Schritten die Straße hinunter und ihre orthopädischen Schuhe machen schmatzende Töne.
Du glaubst etwas neben dir zu hören und wendest dich wieder Anna zu. Alt und hässlich sitzt sie da und ein bisschen wie Stroh oder ein Stück getrocknetes Gefühl.
Als du siehst, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löst und langsam die vielen großen und kleinen Falten entlang holpert, stehst du auf, bezahlst und gehst hinaus.
Die Laternen gehen an und die langen Regenfäden, die sich um sie wickeln, glitzern. Du bist so nah an George und Helge heran gerutscht wie es geht, ein paar von den Anderen haben ihre löchrigen Schlafsäcke über den Kopf gezogen. Das kleine Vordach macht seinen Job schlecht.
Du willst den Mund nicht aufmachen, um zu erzählen, so lange du ihn fest geschlossen hältst, hat die kalte Luft keine Chance in dich einzudringen.
Aber dann hast du eine Idee. Du rappelst dich auf und suchst deine Sachen zusammen. „Kommt mit!“, rufst du den anderen noch zu und stapfst davon. Einige andere kommen tatsächlich, wahrscheinlich denken sie, du weißt einen trockenen Schlafplatz.
Statt dessen führst du sie in den alten Teil der Stadt, den, wo die Häuser so klein sind, dass eines meint, sie umarmen zu können. Lauter bunte Oma – und Opa – Häuschen, die sich neugierig nach vorne beugen, so dass sie fast mit den Köpfen aneinander stoßen und sich etwas zuflüstern können.
Du breitest die Arme aus und drehst dich im Kreis.
„Venedig!“, deklarierst du. Helge schnaubt, dreht sich um und schlurft davon. Die anderen schauen sich kurz an und bleiben. „Und wo sind die Brücken?“, fragt jemand. „Hinter den Häusern natürlich!“
Sie folgen dir in einer Gruppe und du bist ihre Touristenführerin. „Venedig, die Stadt der Geheimnisse und fliegenden Löwen.“ „Warum sollen die Löwen denn fliegen?“, fragt George. „Weil die Stadt untergeht und es sie bald nur noch unter Wasser gibt, so wie Atlantis. Also müssen sie fliegen lernen, um nicht zu ertrinken.“ „Und was machen die Menschen? Können die auch fliegen?“ „Nein, die wollen doch in der Stadt wohnen bleiben. Einen echten Venezianer erkennt man an seinen Kiemen. Hast du denn noch nie einen gesehen?“ George schüttelt traurig den Kopf.
Ihr geht weiter durch die leeren Gassen und schaut in die wenigen erleuchteten Fenster. Durch eine Scheibe siehst du eine Frau auf dem Sofa sitzen, die sieht aus wie du und isst Kekse.
Zwischen den Häusern zieht eine Gondel vorbei, aber keiner außer dir hat sie gesehen.
Bis ihr wieder am Platz seid, hat der Regen nachgelassen, aber es ist immer noch zu kalt um zu schlafen.
„In Afrika ist es immer warm“, sagst du und schaust sehr weit weg.
„Aber dort gibt es Pinguine. Es kann also nicht immer warm sein,“ wirft Anna ein. Es ist das erste Mal, dass du sie reden hörst. „Doch, doch“, erwiderst du. „Pinguine sind doch Vögel. Und die ziehen auch ins Warme. Du musst nur zur richtigen Jahreszeit da sein, wenn du sie sehen willst.“
„Was ist das Weiteste wo du jemals warst?“ fragt dich die Kleine mit den Rehaugen. Sie behauptet sie sei 18, aber du glaubst ihr nicht. Höchstens 15. Armes Ding. Manchmal fragst du dich wie sie hier her gekommen ist, aber da müsstest du dich den ganzen Tag und bei Jedem fragen und dann würde etwas in dir zersplittern, deswegen lässt du es.
„Das Weiteste, ja?“ fragst du zurück, um Zeit zu gewinnen. Neben dir räuspert sich George, er reibt ungeduldig die Hände aneinander. Jetzt erst bemerkst du, dass auch alle Anderen dich anschauen, erwartungsvoll und neugierig, als ob du ein Geschenk für sie hinter deinem Rücken versteckt hieltest.
„Augsburg“, sagst du. „Als ich noch ganz jung war, haben wir einen Schulausflug dorthin gemacht. Schön ist es da.“
Die Gesichter sind weiter auf dich gerichtet. Dann nicken sie langsam.
„Erzähl uns mehr!“ flüstert das Bambi – Mädchen atemlos.
14.Platz: Geschlossene Gesellschaft - Judith-Katja Raab
„Fortsetzung heute Abend.“
Das Wetter unverändert grau in grau. Die Sonne war nicht aufgegangen. Der Schlafanzug Schweiß nass. Verdammtes Gedächtnis, Tag für Tag speicherte es vergangene Szenen in fotografischen Bildern. Der Geschmack des Lebens abhanden gekommen, der Hunger verebbt, bedient von allem, aus der Rolle gefallen. Leon mit seinen Frustrationen und Tobsüchten, Prügeln, Vorwürfen und Perversionen zermürbte – Heulen und Zähneknirschen, Geschirr zerdeppert, Kleider zerschnitten, das Auto zu Schrott gefahren, aus dem Gleichgewicht, Glühwürmchen vor Augen … Amtsarzt, Beschluss, Rettungsleitstelle, Transport. Kein Silberstreifen am Horizont. Verkniffenes Blinzeln in verschossene Wolken bevor sie zitternd in den Wagen schlüpfte und die fiebernde Stirn gegen die Innenscheibe presste. Baumskelette flogen vorbei. Silberhaar von Nieselregen benetzte die Windschutzscheibe. Der Scheibenwischer quietschte in monotonen Intervallen. Zurückfinstern bei geschlossenen Lidern. Dahinter das Drama, in dem sie der Narr gewesen war. Wie es pochte: Den roten Faden nicht verlieren, bloß nicht, den Faden der Ariadne, nicht, den seidenen, an dem ihr Verstand hing – Aufzählen, die Gemeinheiten für die Anklage, nichts vergessen, die Akte der Gewalt entziffern, um das bittere Ende zu begreifen, ihren Niedergang. Worte suchen, einen Satz finden, einen entscheidenden, der alles enthielt, das ganze Fiasko. Einen Satz, der Gerechtigkeit schaffte, kurz, prägnant und umwerfend.
Doch der Gipfel nicht erreicht, immer noch nicht. Der Gipfel die Geschlossene. Wie ein Schwerverbrecher eingeliefert, zum Schweigen verdammt. Nicht wert, dass sich einer mit ihr unterhielt. Das Personal hektisch:
„Glauben Sie, wir hätten keine Probleme? Stellen Sie sich nicht so an.“
Ein Becher bitterer Medizin und zwei Pillen extra. Leibesvisitation: Nackt ausziehen unter Aufsicht in der Gemeinschaftsdusche. Unerbittlich, unentrinnbar, der Zugriff des Pflegers, der auf die Sprünge half, und sie unter die Brause zerrte.
„Na los, hopp, hopp. Wird`s bald?“
Geliehene Waschlappen. Handtücher. Anstaltsseife. Unverschämt glubschte er sie an. Sprechen versagt. Breiige Konturen überall. Fischen im Trüben. Kein Arzt in Sicht. Doch das Kino im Kopf lief, lief und lief. Solange es lief, war sie noch nicht tot.
„Sie gibt vor, Anwältin zu sein“, zwitscherte eine aufgedonnerte Schwester mit viel versprechendem Wimpernschlag dem Mediziner hinter der vorgehaltenen Hand zu.
„Donnerwetter, und ich bin Napoleon“, brummte der miesepetrig und rammte taubstumm eine Spritze in die Armbeuge, bevor er gravitätisch von dannen marschierte.
„Was war das für eine Spritze? Körperverletzung. Ich bringe sie vor den Kadi“, schrie sie ihm nach, während das Personal kicherte:
„Ruhig Blut, ruhig Blut. Nimm Haldol, du fühlst dich wohl.
Schnaps gefällig?“
Pelziges Gefühl auf der Haut. Die Lider klappten zu. Bleierne Schwere in den Beinen. Weiter wurlte das Schattendrama im gehöhlten Hirn und fand kein Ventil. Immer noch suchte sie den Satz, den einzigen entscheidenden, der alles auf einen Nenner brachte. Sie hob an zu erzählen, aber die Zunge war verknotet. Sie krächzte. Dem Arzt war der Feierabend heilig. Er flüchtete zum Plural majestatis:
„Wir haben Familie. Es gibt massiven Ärger, wenn wir nicht pünktlich beim Abendbrot sind.“
Sie kippte um, erwachte im Gitterbett, gefesselt an Händen und Füßen. Die Quittung für ihre obstinate Quengelei. Der Wachsaal mit dem gläsernen Kasten in der Mitte, darin eine Schwester mit Argusaugen im Basiliskenblick, wie ein Grenzsoldat an der Mauer zur DDR. Im Dunkeln hüpfte die Taschenlampe von Gesicht zu Gesicht, von Bett zu Bett, ein Dutzend Mal. Wie viel Wahnsinn in einem Raum? Grunzend und unappetitlich. War sie das noch? Sie lag auf dem Rücken, so wehr- wie hilflos, und dachte an Gregor Samsa, Kafkas Knilch, der sich über Nacht in ein riesiges Ungeziefer verwandelt hatte. Wo war sie? In der Strafkolonie, dem eigentümlichen Apparat, der ohne menschliches Zutun straft?
Wieder und wieder Haldol, runter damit, brav, brav: der Körper folgt eigenen Gesetzen und keinen Dunst, warum sie mit den Füßen scharrt, die Handflächen aneinander reibt, mit den Fingern schnickst, in der Nase bohrt und sich in fremden Zimmern zu schaffen macht. Von sich selbst entfernt, sich fremd. Mund halten. Ein Kollaps. Sie behaupteten, die Medikamente hätten nicht schnell genug gewirkt und verpassten die doppelte Dröhnung.
Die Zunge schob sich aus dem Mund und leckte das Kinn. Die Lippen windschief. Sie würgte, aber die Kröte steckte im Hals und bewegte sich weder vor- noch rückwärts. Aus dem Hinterhalt ein Überraschungsangriff vom Fotografen: Schnappschuss für die Krankenakte zur Identifikation, falls sie ausbüchst. Triumphierend rieb er ihr das Resultat unter die Weste: Wem gehörte diese Visage, verblödet, scheeläugig. Wie hieß der Zombie, die lebende Untote? Gaby Hüsch? Niemals.
Im Raucherraum musste man ein Loch in die Luft schlagen, um überhaupt etwas zu sehen. Gewirr von Stimmen, die lallten wie besoffen. Ab und zu Tumult. Ein Rennen und Hasten und klimpern mit Schlüsseln, Gurten und Spucknäpfen. Muskelprotze zur Stelle. Alles im Griff. Husch, husch aus dem Blickfeld. Nur ein Sturm im Wasserglas.
Wer saß zu Gericht?
Der Schuldspruch dauerte keine fünf Minuten, weil er von vornherein klar war und keinen Widerspruch duldete. Strafe folgte auf dem Fuß. Warten und warten, warten und rauchen, warten und Tropfen schlucken, unterbrochen von den Mahlzeiten.
Schließlich ein blühendes Bukett vom hausgemachten Prügelknaben, der sich nicht hatte lumpen lassen. Leons Gabe strafte ihr Gedächtnis Lügen. Wie konnte ein Mann so perfide sein? Spielte mit Gefühlen. Trieb Schindluder. Tat so, als könnte er kein Wässerchen trüben und als sei nie etwas geschehen, als habe er nie ein Messer vor ihre Kehle gesetzt, nie mit dem Hosengürtel gepeitscht, sie nie dem öffentlichen Gelächter preisgegeben. Wer würde ihr noch glauben? Ihre Hände und Füße eiskalt. Die Haut bläulicher Marmor. Schweiß auf der Stirn. Unter der Hirnschale wimmelten tausende Ameisen. Sterne vor Augen. Ihre Muskeln kapitulierten. Schlamm und Schlacken, die sie in sich trug, flossen heraus. Erst kippelte, dann kippte sie, kopfüber aufs Linoleum. Kernschmelze. Sie hörte Notrufalarm Stimmengewirr, Getrippel und Getrappel… Schnitt. Filmriss…
Als sie wieder erwachte, stand eine junge Ärztin lächelnd neben dem Bett und hielt ihre Hand.
„Maibaum, mein Name, bin Stationsärztin beim Chef.“
„Muss ich sterben?“
„Wahrscheinlich nicht.“
„Noch nicht? Kann wieder sprechen. Medikamente abgesetzt?“
„Nein, ausgetauscht. Beschluss aufgehoben.“
„Entlassen?“
„Nicht so bald.“
„Krank?“
„Sehr krank.“
„Noch bleiben?“
„Ja, aber wir haben entschieden, Sie an die Sonne zu holen, auf die Privatstation von Prof. Grützmüller. In ein paar Tagen.“
„Dort besser?“
„Viel besser. Der Chef stellt sich morgen persönlich bei Ihnen vor. Wir sehen uns bald wieder.“
Tränen schwemmten das Gesicht.
Der Idiotenhäuptling nahte mit federndem Schritt und einem spitzen Stockschirm, den er elegant auf das blank polierte Linoleum stippte. Ernst und gemessen wies er sie in sein persönliches Sprechzimmer. Die Audienz mit dem Unnahbaren, der schweigend Platz nahm und die Arme vor der Brust verschränkte, ängstigte – Okularinspektion mit Spötteraugen. Verlegen zog sie die verdörrten Lippen nach innen und kaute darauf herum. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus:
„Hab Mühe zu sprechen. Kommt von den Medikamenten, glaube ich.”
„Ja, das kommt von den Medikamenten”, wiederholte er dumpf und sah teilnahmslos aus dem Fenster. Gelangweilt oder angewidert?, fragte sie sich und muckste sich nicht, bis er gnädig eine Frage stellte.
„Sie wissen, warum sie hier sind?“
„Nein. Sagen Sie es mir?“
„Wie lange sind Sie schon da?”
„Ungefähr eine Woche, wenn ich mich nicht täusche.”
„Welches Datum haben wir heute?”
„Wie bitte?”
„Ich möchte das heutige Datum wissen.”
Sie spreizte die Augen.
„Sie wissen also nicht, welches Datum wir heute haben?”
„Ehrlich gesagt, nein. Ich weiß nur, dass ich in der Nacht zum 15. Oktober furchtbare Angst hatte, nachdem Leon Schandat… “
„Und wie viele Tage sind sie hier? Wenn sie das wissen, können sie sich das heutige Datum ausrechnen, oder etwa nicht?”
„Prinzipiell schon, aber mit den Pillen…“
„Was ist eins und eins?“
„Eins und eins ist der Klugen Beweis, die Weise die Weisheit des Dritten weiß.“
Er stutzte und zog die Brauen zusammen. Qualvolle Minuten, bis der Groschen gefallen und der unmerkliche Schimmer eines Schmunzelns um seinen Mund gehuscht war. Der Knoten seiner Arme allerdings hatte sich gelöst:
„Mhm. Gut, gut. Ich nehme an, Sie fühlen sich auf der Geschlossenen nicht sehr wohl. Privat versichert? “
„Ja.“
„Dann dürfen Sie zu mir kommen, vorausgesetzt Sie machen keinen Blödsinn.”
„Was für`n Blödsinn?“
„Mir die Station durcheinander bringen. Da sind auch Männer.”
Für was mochte er sie gehalten haben? Ein Flittchen? An all das durfte sie nicht mehr denken. Willig zu funktionieren, ruderte sie mit den Armen, strampelte mit den Beinen und wälzte sich stöhnend aus der Horizontalen, schleppte sich ins Bad, gleich nebenan, und stieg in die Jeans. Sie schlurfte aus dem Zimmer, betrat den Korridor.
„Frau Hüsch, nach dem Frühstück Tabletteneinnahme“, rief eine weibliche Stimme, schrill und schellend.
„Und heute Abend Infusion, ab 18 Uhr.“
Schon gut. Ihre Gelenke stocksteif. Der Mund staubtrocken. Sie stakste zum Raucherraum: ein verqualmtes Geviert. Kippenstrotzende Aschenbecher und schmutzige Kaffeebecher auf den Tischen, davor Holzstühle mit dünnen Kissen, wie gehabt, nur heller, gepflegter und luftiger. Auf den Fensterbänken Tulpen aus bunt lackiertem Holz. An den Wänden Gemälde in verschlammten Farben, dick aufgeklatschte Schichten, kotbraun, verwittert grün, Urin blass vergilbt, zackige Formen, Risse und Kanten der Marke neue Wilde.
„Unser Kunsttherapeut“, knarzte verächtlich eine alte Frau mit jugendlichem Kurzhaarschnitt, dick getuschten Wimpern und knallig geschminktem Mund. Sie trug Handschuhe aus Klarsichtfolie und händelte ihre Zigarettespitzen Fingern. „Hat sich ausgetobt. Scheußlich, finden sie nicht?“
„Ja. Stimmt.“ Gaby setzte sich und nahm Deckung hinter Rauchschwaden.
„Malt wie ein Verrückter – pha. Art brut. Sollen unsere Seelenlandschaften sein. Unser Inneres. Als wenn von denen einer wüsste, wie es in uns aussieht. Spinner. Macht in Kunst, macht auf Seele – Seelenbilder. Seele ist chic, besonders für die, die keine haben. Kein vernünftiger Mensch nagelt sich so einen Scheiß an die Wand. Aber wir müssen da drauf gucken. Fressen unsere Pillen und nehmen nichts krumm.“
“Wie werden Sie behandelt?”
“Ich? Arbeitstherapie.“
„Was machen sie da?“
„Playmobil zusammenstecken.“
„Davon werden Sie gesund?“
„Besser das Falsche tun als gar nichts.”
Pillen fassen in Reih und Glied. Keiner flog übers Kuckucksnest. Keiner warf das Telewischen durch die Scheibe. Über Lautsprecher tönte die Ansage zur Morgenmeditation mit Musik im Gemeinschaftsraum. Ein rosa durchpulster Sunnyboy, warf Knipsäugelchen nach allen Seiten und säuselte:
„Wir schließen die Augen und atmen tief ein und aus. Unsere Füße sinken in den Boden. Wir sind ruhig und entspannt… Wir lauschen und geben uns hin, hören die Metasprache des Klangs und vertrauen unserem Unbewussten…“
Der Mörser tuckte an den Rand der Schale. Der Ton ging durch und durch, sanft kitzelnd, vibrierend. Zitternd gaukelte er durch die Luft, füllte den Raum, drang in die Poren, ein – und ausatmend, mit jedem Atemzug ein bisschen tiefer, sackte hinunter bis zur Ebene des siebten Chakras, wo er Sehnsüchte weckte, Sehnsüchte verborgener Zonen, schamhaft versteckt, von Medikamenten in Schach gehalten und dann doch zur grausamen Wahrheitsfindung beitrug: alles futsch – Verstand, Trieb, Gespür. Trotzdem ein Moment wundersamen Zaubers, ein Traum, der keine Worte fand. Ein Ton, der auf und nieder schwang, Höhen und Tiefen durchstreifte, schwebend fort trug, fort aus diesem gläsernen Sarg, der angeblich schützte vor weiterem Unglück und den Weg wies zu einem Neuanfang, gleich der Wiedergeburt des Phönix aus der Asche. Er verebbte, der Ton vom Ohm, langsam und wiegend, stattdessen salbungsvolles Blabla und kaskadenreiche Sentimentalsülze improvisierter Assoziationen aus therapeutischem Mund über die schlafende Natur, den herbstlichen Nebel und die Zeit zum heilsamen Innehalten, zur Intuition in uns und dem Bauchgefühl, das nie trügt…
15.Platz: Der Hund mit dem Zoom - Zachi B. Schwarzkopf
Eine Männerstimme, glatt, wohl Nichtraucher, Frequenzdurchschnitt um 200, zwischen g und gis: „Ich dürfte das nicht schreiben, aber … Wenn ich mich drei Tage lang nicht telefonisch bei einem Freund melde, wird er diesen Brief an Sie senden, an Ihren Kassiber. Ich fürchte, Sie könnten in diesem Fall dennoch von jeglichen Disziplinarmaßnahmen absehen. Möglicherweise bin ich dann tot. Einen Kontakt mit Ihnen, Dr. Güntner, oder einem Kollegen kann ich gegen-wärtig nicht herstellen. Ich bin in Deckung.“ Schnitt.
Er schaut sich um, weil er das Summen der Kamera hört. Aber er sieht sie nicht. Schwenk auf die Fensterscheibe, in der sich das Gesicht dieses Mannes spiegelt: glattrasiert, etwa dreißig Jahre alt, feine Nase, natürliche Bräune eines Süd-europäers oder Orientalen, dunkle Augen. Schwarze, kurze und krause Haare. Ende dieser Einstellung.
Szene sieben, Einstellung zwei: Blick in das Zimmer hinter dem Schreibtisch. Ein Loft; an einer fensterlosen Wand ein Doppelbett, in dem eine Frau schläft. Dieser Wand gegenüber eine Fensterfront. Offene Türe zu einer schwach beleuchteten Küche, rechts. Offton: „Besonders nervös war ich nicht, und der, den sie an das kreuzförmige Brettgestell mit umklappbaren Teilen namens Fliegender Teppich gefesselt hatten, anfangs auch nicht. Die drei Syrer wirkten entspannt.“ Während der Worte des Mannes tastet die Frau nach einer Lampe auf dem Nachttisch. Bei Berührung am Lampenfuß blendet diese langsam auf. Licht auf ein großes buntes Triptichon aus Galeriepostern, mittelalterliche magrebische Buchmalerei: Da sitzt ein Erzähler vor seinem Publikum in einem nächtlichen Garten, die Blätter des Baumes über dem Poeten bestehen aus arabischen Buchstaben in magrebischem Duktus; rechts berittene Falkner-Jäger, vor denen ein Leopard ins Gebüsch flieht, Arabesken voll bunter Vögel; links ein arabisches Festmahl; zwei spielen Schach, die Figurenstellung auf dem Brett eine erkennbare Mansube. Oben und unten arabische Kalligraphie. Rechts unten der Titel: Katibh alf leila wa-leila – Buch Tausend und eine Nacht.
Szene zwei, Einstellung zwei in Totale: ehemalige Fabrikhalle, jetzt ein Fitness-club. „Wann wird das Set aufgebaut? Wann beginnen die Filmaufnahmen? Wann tritt David Cohen auf?“ Rafi und Wahid umkreisen ihn. Bassam, der Dicke, hat die Beine des Gefesselten mit einem beweglichen Teil des Brettes soweit hochge-klappt, dass sie auf dessen Oberkörper drücken. Sie haben dem Gefangenen eine schwarze Plastiktüte so weit über den Kopf gezogen, dass sein Mund noch frei ist. Er antwortet nicht. Bassam legt sich bäuchlings auf das Brett, so dass die Beine des Verhörten fest auf dessen Rumpf gepresst werden. „Wir sind hier die ganze Nacht lang alleine mit dir. Und morgen ist Sonntag. Nimm dir Zeit, aber zum Reden, sonst überlebst du dieses Wochenende nicht.“ Ächzen. „Wie heißt du?“ fragt Wahid. „Joss-ssi.“ „Falsch“, triumphiert Bassam, und rückt noch weiter auf das Brett. “Du heißt Arvo. Arvo Pesti, du wirst bald noch mehr reden als ein
Rabe am Abend.” Schnitt.
„Wir wissen wer du bist, und du weißt, was wir von dir wollen“, sagt Rafi so als erklärte er einem neuen Spieler die Regeln: „Mach es dir nicht unnötig schwer.“ Jossi oder Arvo atmet aber schwer. Ich sitze etwas abseits auf einem Multitrainer, die Arme hinter den Butterflys hängend. Wir tragen graue Motorradhauben und Sonnenbrillen. So haben wir ihn vor seiner Wohnung entführt und in einem kurz vorher gestohlenen Jeep hierher gebracht. Dieser Club, zu dem ich die Schlüssel-karte kopiert habe, ist insolvent und versiegelt. Hier wird uns kein Wachmann stören. Rafi entschied sich, ihr „eigenes traditionelles Equipment“ zu nehmen. „Darauf kann er ruhig Spuren hinterlassen, damit kennen wir uns aus.“ Ich rede nicht, weil Jossi meine Stimme kennt. In dem Schachverein Hans Berliner e.V., wo ich Kontakt mit ihm gesucht habe, nennt er sich Jossi.
Szene sieben, drei: Sie müssen die Umstände meines Abtauchens erfahren, Dr. Güntner, anders können Sie mir nicht helfen. Jenes eigenartige Summen höre ich immer noch. Rafi hatte als erster mit mir Kontakt aufgenommen. Mein Irisscan-ner hat ihn als den Rafi identifiziert, der bei unserer Mission Sieb 2012 in Syrien als Sprecher des Hassandienstes mit uns verhandelte. Nun, vor zwei Wochen bat er mich, Jossi zu ködern. Im Schach spielt Jossi gegen die ersten Züge e4 nebst Sf3 prinzipiell Philidor: also kein echter Turnierspieler. Was tut er in diesem Verein? Wer ist er? Ich habe Jossi erzählt, ich hätte das Spiel in der Schachab-teilung von Galatasaray Istanbul erlernt. Ein Orhan Çoçuk existiert in deren Archiv tatsächlich.
Hinter mir nimmt eine Kamera diese ganze Geschichte auf, ich fühle es. Sie beobachtet mich überall. Sie numeriert zwar das Nacheinander der Takes, kennt aber keine Rückblende, kein Morgen. Zeitliche Erzählstrukturen registriert diese Kamera nicht – summt aber stets laut während sie läuft. Ihre Zeit ist der Präsenz. Ich werde auf sie schießen. Schnitt und Rückblende in Szene zwei, vier:
Rafi krempelt den Gesichtsteil seiner Haube hoch, zündet sich eine Zigarette an und wendet sich an Bassam: „Falte ihn auseinander.“ Als Jossi ausgestreckt und nackt vor ihm liegt, schnickt Rafi Asche auf Jossis Genitalien; dann dreht er die glühende Spitze in Jossis Achseln. Er schreit, zuckt, bäumt sich trotz der Fesseln auf. Sein Peiniger tut so, als sei das alles ein normales, ja ehrenhaftes Handwerk. „Deine Familie wohnt noch in Estland. Du hast eine kleine Tochter, richtig?“ Jossi in ängstlichem Ton: „Die haben mit all dem nichts zu tun.“ „Sie haben sehr viel damit zu tun. Wir müssen das leider berücksichtigen.“ Er wartet, bis sich Jossis Angst weiter entfaltet – und fragt: „Kennst du Ron Bunelle?“ „Ja, em, ich spiele manchmal Fernschach mit ihm, …“ „… und ihr macht häufig sehr komische Züge in euren Partien – nach einem gewissen System.“ „Ich spiele nicht sehr gut, …“ „Du spielst die Rolle des Ahnungslosen wirklich schlecht.“ Er nickt Bassam zu, der ihm seitlich an die Kniescheibe tritt. Jossi schreit: „O.k., ich erzähle …“ „Nun!“ „Er ist Tontechniker bei Deutsche Welle …“ Ein Nierentritt. „Ahh!“ „Wir kennen seine Story. Du hast ihn getroffen, Freitag vor zwei Wochen.“ Wahid setzt sich auf eine Gewichthebebank und knackt geröstete Kürbiskörner. „Ja, in der Synagoge. Er hat mich angeheuert. Für den Film. Ich soll die Speisen vom Caterer überneh-men, mit einigen Helfern nach oben bringen und servieren, wenn David Cohen den Kiddusch leitet.“ „Er liebt gefüllte Hähnchen in Honigweinbrandsauce flam-biert“, fährt Rafi an Jossis Stelle fort, „es soll eine besondere Füllung werden. Wir möchten gerne wissen, wann wir liefern sollen“ schließt er. „Es wird vor Rosch Haschannah sein. Das Set steht vom 28. Juli bis Donnerstag, dem 1. August. Aber wann genau D.C. kommt, …“ „Gut, du wirst telefonieren“, droht Rafi. „Mit Ron?“ „Ha ha, Ron. Nein, mit deiner Tochter in Tallinn.“ „Bitte, ich sage doch alles!“
„Wenn das Gespräch nichts bringt, hänge ich dir Elektrohaken in die Vorhaut“, lacht Bassam. „Ich dachte, du seist Jude – aber nein, er ist ein Unbeschnittener“ fügt er kichernd hinzu. „Fühl mal hier?“ Er zieht ein Holzkreuz aus seinem Hemd hervor und bewegt es an Jossis Fingern: „Ich bin orthodoxer Christ. Da haben wir etwas gemeinsam. Wie wärs, wenn du mitarbeitest?“ „Wer seid ihr?“ „Das spielt keine Rolle. Einfach das Hähnchen vor den Hollywoodstar setzen, anzünden und zufällig mal eben den Kidduschraum verlassen.“ Jossi dreht unschlüssig seinen Kopf. „Baschar al-Husseini wäre dir sehr dankbar – und deine Familie ebenso.“ Keine Antwort. Schnitt.
„Telefonieren“, beschließt Rafi. Bassam hebt Jossis Oberkörper an und setzt sich auf ihn. Wahid schlägt von hinten mit voller Wucht auf Jossis Ohren. „Hörst du schon den Klingelton?“ feixen sie, während Wahid immer weiter schlägt. Jossi stöhnt, und unter der Plastiktüte über seiner oberen Kopfhälfte strömt Schweiß hervor. Sie setzen ihm große Kopfhörer unter die Tüte und fahren eine MP3-Datei mit den Schreien eines gequälten kleinen Mädchens auf über hundert Dezibel. Jossi schreit: „Nein, nein, lasst mich reden!“ MP3-Ton aus.
„Wenn du jetzt keine Details bringst, wird das deiner kleinen Lena geschehen“, sagt Rafi. „Ja, Ron hat einen Kassiber eingerichtet.“ „Wo?“ „Man bestellt bei SMS-Pizza und fragt nach dem Fahrer Joey.“ „Was hat Ron dir mitgeteilt?“ „Besondere Sicherheitsstufe, weil D.C. Mitglied im Jewish Congress ist und die Republikaner unterstützt.“ Er atmet tief. „Ron hat Zugang zu Telefon und Mails aller am Set – kein übliches Filmpersonal – nur eigens ausgesuchte Leute.“ „So, wann tritt D.C. auf?“ „Teilt uns Ron erst an dem Tag mit.“ „Aber die Caterer …“ „Halten jeden Tag ein neues Festtagsmenü bereit.“ Rafi überlegt: „Dann müsste unser Mann dort jeden Tag das Hähnchen austauschen. Glaube ich nicht. Arvo, du steckst mit drin, du weißt mehr. – Leute: Augenroboter plus Aladins Lampe her!“ Sie holen die Utensilien aus ihren Taschen.
Szene sieben, vier: Es gefällt mir natürlich nicht, dass Jossi so viel über jenen Freund erzählt hat, der meine Lebensversicherung sein soll, mit dem ich täglich telefoniere, und der auch mit mir schon im Schachcode kommuniziert hat. Ja, er hört uns alle ab. Als einmal unsere Kooperation im Nahen Osten das Thema war, sagte er augenzwinkernd zu mir: „Bei meinen Freunden habe ich immer ein Ohr.“ „Bei“: Zuerst hielt ich es für einen Fehler aus dem Englischen. Aber Ron ist zwei-sprachig. Er hat Germanistik studiert. Als ich bemerkte, was er da tut, stellte ich ihn zur Rede. Er meinte schulterklopfend: „vertrauensbildende Maßnahme zu deiner Sicherheit. Kannst du es so akzeptieren?“ Ich höre Ihre Worte wieder, Dr. Güntner: „Erlernen Sie die alte Artistik der Geheimcodes. Keine Emails, keine Handys.“
Zwei, fünf – go: Sie haben Jossi die Tüte vom Gesicht gezogen und ihn mit dem Brett so hingelegt, dass sein nackter Po nach oben offen ist. Bassam steuert von einem Laptop aus ein kleines Fernlenkauto, auf dem eine Webcam in einem Teleskopauge installiert ist. Das Cameye umkreist Jossi, um ihn schamlos aus allen Perspektiven und Nähen zu filmen. „Arvo, du bist online“, ruft Bassam als ob es ein Erfolg wäre, „und wir skypen gleich mit deinem Töchterlein Lena in Tallinn. Sag uns brav die Nummer, Arvo.“ Der blonde Este reißt seine blutunter-laufenen Augen weit auf. „Bitte, was soll ich …?“ Wahid kommt mit einer orien-talischen Öllampe her. „Du wirst reden zu dürfen froh sein“, sagt Rafi. Ich ahne was kommt und flüstere in Arabisch: „Al-Adins Lampe vollbringt Wunder, egal ob der mehr weiß oder nicht.“ „Danke, dass du unsere Kultur so liebst“, gibt Rafi ironisch zurück und nickt Wahid zu, der beginnt, immer mehr Tropfen von heißem Öl auf Jossis Körper zu gießen. Es wirkt wie beabsichtigt, und bald zeigen sie dem Esten seine verzweifelnde, nach Vater und Mutter schreiende achtjährige Tochter auf dem Bildschirm. Als diese kommt, flößt Wahid heißes Öl in den Anus des Gepeinigten. Jossi versucht, seiner Familie etwas zu sagen. Er kann jedoch nur brüllen vor Schmerz. Schnitt.
Mir wird schlecht. Mein After, meine Prostata, meine Gedärme spüren ebenfalls stechende Schmerzen. Wohl fühlte ich mich bereits vorher nicht, aber nun muss ich befürchten, dass mein Cover auffliegt. Nur mein Auftrag hindert mich daran, diese drei zu erschießen und Jossi zu befreien. Er hat ihnen inzwischen gesagt, er „analysiere soziale Rhizome von Terrorsympathisanten im Auftrag des BKA“ und installiere Programme in deren privaten Rechnern, sodass deren Computer ihre eigenen Daten auswerten und nur noch die Ergebnisse mitteilen. Diese habe er auf der Basis der Programme Facebook Social Graph, Prism sowie anderer APIs generiert, und Ron sei in das Resulting stets involviert.
Als Jossi bewusstlos wird, schalten sie Skype aus, schütten ihm kaltes Wasser ins Gesicht, bis er wieder die Augen öffnet, und wir gehen in die Küche des Clubs. Ich kann nichts essen. Während sie Falafel mit Pinienkernen und Grillgemüse heiß machen, Tabuleh mit Sumach und Humus mit Tahini zubereiten, erzähle ich: „König Schahriyar war den Eulen böse, die im Baum der Weisheit wohnten, ohne diese mit ihm zu teilen. Da legte er Glut an den Baum und hieß drei Krähen das Feuer mit Flügelschlägen zu entfachen. Es loderte auf. Die Eulenjungen erstickten im Rauch. Dem König blieb die Weisheit vorenthalten.“ Rafi lächelt: „Du kennst arabische Fabeln, doch unsere Härte fehlt dir.“ „Wir hätten ihn nur so verhören dürfen, dass er in drei Tagen am Set arbeiten kann. Nun kann er das nicht mehr. Und seine Frau geht in Tallinn zur Polizei. Estland gehört zur EU. Der BND wird es morgen wissen – und das BKA ihn suchen. Ich schlage vor ihn freizulassen.“
„Was wird er tun, ha?“ „Es ist jetzt schon möglich, dass der NSA die Drehtage stoppt.“ „Wir behalten ihn.“ „Ich übernehme seinen Job.“
Sieben, fünf: Es war sehr schwer sie zu überreden. Aber ich habe schließlich den ausgesetzten Jossi schwerverletzt „auf der Straße gefunden“ und nach Hause ge-bracht. Rafi hat akzeptiert, dass ich als „Türke vom MIT“ und „Jossis Freund“ Ron von meiner Eignung für den Job überzeugen könnte. Zudem leuchtete es Rafi ein, dass ich an Jossis Stelle für den Hähnchencoup ideal sei. Er weiß zwar nichts von meiner Kooperation mit Ron, aber er fragte Jossi noch eindringlich nach Orhan Çoçuk. Zum Glück hat Rafi den „Orhan“ nie gesehen, und Jossi mich nicht erkannt. Jossi hätte das weder durchschaut noch durchgehalten. Nun, spätestens wenn D.C. gesund bleibt, wird Kemal Sel, alias Orhan Çoçuk, im ganzen Orient als Doppelagent MIT-BND verbrannt sein. Bis dahin: Kein verfrühter Zugriff, sonst veranstaltet „Hassan“ noch ein Massaker mehr.
Der Schreibende sieht nicht, dass die Frau hinter ihm steht, ihm von hinten ihre Arme um den Hals legen will – er spürt ihren Atem. Es reißt ihn herum. „Nuri!“ Sie erschrickt ebenfalls. „Em, ich wollte dich umarmen. Ich will endlich wissen, was los ist. Was schreibst du in dieser seltsamen Schrift?“ „An unseren ‚Amts-psychologen‘.“ „An Güntner? Bist du verrückt? Lies es mir vor.“
Nuri hört zu, dann sagt sie: „Du bist völlig überspannt. Beobachtet von einer Kamera, lautes Summen – wegen dem Webcamrobot? Klang der etwa so?“ „Sie zeichnet alles auf, macht mich aggressiv, grausame Dämonin meines Gehirnes. Güntner sagte, wir sollten uns besonders die grausamen Aspekte unserer Arbeit als Film vorstellen – „fiktionalisieren“. Ich bin ein Hund geworden, dem nur der Kampf um Leben und Tod, Folter, Schießen, real verblieben ist. Ich muss auf sie schießen, die Kamera, auf Zoom.“ Nuri: „Zoom heißt in Arabisch lautes Summen. Wir sagen, wer die Zikaden wieLärm hört, der muss in die Wüste oder ans Meer. Ins Bett gehen ist auch gut, komm. … Licht aus.“
Er schaut in die Finsternis. Und sie summt noch immer laut.
16.Platz: Östliche Vorstadt - Maja-Maria Becker
und die Möhren schmecken abwechselnd nach Klebstoff und nach nassem Fell von Hund. um vier die Wohnung durchsucht, weil es irgendwie nach Rauch gerochen hat, eigentlich nach Feuer, dabei kochte nur das Teewasser, und ich konnte natürlich nichts finden, obwohl ich alles abgesucht habe. da war nur meine Vorstellung, dass ich ein Feuer fände und es brennen ließe, dass ich dabei zusähe, wie es die Gardinen hinaufleckte, dass ich nicht munter werden würde, sondern es einfach als folgerichtig ansähe, dass nichts bleiben würde, niemals; das ist schön, ein Feuer ist ja auch warm usw. als mir plötzlich schwindelig wird. ich muss mich festhalten an der Wand, und als das nicht reicht, mich auf den Boden hocken. ich spüre einen stechenden Schmerz hinter meiner Stirn, und den restlichen Tag ist es, als würde jemand ein Daunenkissen im Rhythmus meines Herzschlags in meinem Kopf zerknautschen, und zwar keineswegs freundlich. der Schmerz geht lange nicht weg. immerhin, denke ich den ganzen Tag, immerhin, da ist irgendwas mit Herz.
wenn ich ein Haus hätte, und wenn ich schon keinen Namen habe, dann zumindest eine Wohnung, im Süden der Stadt, wo die Studenten sind, vielleicht dass ich Montag morgens aus dem Haus ginge und Freitag abends heim käme, so richtig. aber ich habe nichts und ich weiß auch gerade nicht, ob ich nächsten Monat Geld für die Miete haben werde. die Dusche bleibt besser kalt, und du hast ja auch nichts. ich rufe nicht an. man kann noch so viel gemeinsam haben, denke ich, zwei Menschen, die beide nichts haben, finden nicht zueinander.
hätte ich doch nur besser geschlafen. ich meine, es ist bald Mittag, und ich bin immer noch müde, und es ist so viel zu tun, und nichts von dem, was getan werden muss, macht irgendeinen Sinn. habe immer noch meine Klamotten von gestern an, und da sind immer noch diese Träume, die mir nachhängen, dieses Gefühl, dass ich verfolgt und bedroht werde. ich schließe ja nachts mein Zimmer ab, und mein Mitbewohner findet das ziemlich strange, dass ich jeden Abend meine Zimmertür abschließe. dass ich auch nicht bei offenem Fenster schlafen kann. er sagt, das wäre strange, fast wie in einem Sarg, und dann lacht er und denkt, ich wolle vielleicht tot sein, dass ich nicht schlafen könne, wegen Depressionen, den ganzen Tag spiders from mars, immer wieder die Nadel zurück, you dont eat when youve lived too long, und ich gehe ja auch auf den Flur, wenn ich höre, da ist niemand, dass ich manchmal lange warte, bis alle Türen geschlossen sind, seine Zimmertür, die Haustür, das nähme er wahr, dass ich dann erst fast lautlos ins Bad huschen würde, sagt er, ein Altbau, natürlich kriegt er das mit. und eigentlich ist ja das genaue Gegenteil der Fall. es ist so viel zu tun. die Tage sind kurz. und wenn ich nachts aufwache, wenn da diese furchtbare Angst ist, weil ich wieder verfolgt werde, weil ich bedroht werde und dann die Schatten, auch nach dem Aufwachen, direkt um mich herum, dann ist es, dass ich wissen muss, dass es mir hilft zu wissen: es ist ein Sarg und in einem Sarg bin ich ja auch irgendwie sicher.
verrückt, wie allein man sich fühlen kann. vorhin einen Porno geschaut und angefangen, dem Darsteller zu sagen, was er machen soll. das ging ne Weile gut, dann der Übergang zu anal, und die Schmerzen, ich habe stopp gesagt, aber er hat weitergemacht, dann habe ich strg-w gedrückt. mein Mitbewohner ist seit drei Wochen weg. und noch vier Wochen, bis das neue Semester losgeht. was macht der nur so lang? ich meine, wie kann man nur so lange wegfahren, besucht der die Eltern oder was? er läuft vielleicht vor irgendwas davon, ich meine, er hat noch nicht einmal gesagt, wo er hinfährt, vielleicht will verhindern, dass ich nachkomme. meine Angst ist ja stärker, wenn ich allein in der Wohnung bin. seit zwei Wochen die Küche nicht saubergemacht, weiß ja keiner, denke ich, aber jetzt sollte er besser anrufen, bevor er wiederkommt. nehme mir vor, am Sonntag aufzuräumen, am Sonntag mache ich aber auch nicht sauber. schlafe die meiste Zeit, so gut es geht, habe keine Energie, ich wünschte, ich könnte weinen, aber ich kann nicht weinen. draußen ist es wieder sehr kalt geworden.
aus dem Schnitt quillt ein roter Blutstropfen, der relativ schnell anwächst und an meinem Bein herabzulaufen beginnt. der Schmerz ist relativ stark, doch ich bin mir sicher, ich verziehe keine Miene. bescheuert, denke ich, ich meine, es ist ja nur eine Lesung, sich dafür die Beine zu rasieren, ist echt weird. es ist mitten in Winter, ich werde selbstverständlich eine Hose tragen, und die Beine werden unter einem Tisch sein, höchstens in der ersten Reihe zu sehen. also warum das alles? ich wasche mir das Blut mit klarem Wasser ab und sehe, es ist nicht einfach nur ein Schnitt: auf einer Länge von bestimmt vier Zentimetern habe ich mir die Haut regelrecht vom Bein gehobelt. direkt überm Schienbein. wenn ich es einmal eilig habe, denke ich. aber ich habe es ja immer eilig. in zwei Tagen die Lesung, dann die zwei Abgabetermine, der Hölderlin Essay, ich weiß ja gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht.
am Morgen ist alles wieder weiß. sogar die Nachbarskinder sind schon gelangweilt, gehen mit den Händen in ihren blauen Winterjacken ein paar Schritte durch den Schnee und kehren schon wieder um. ich finde diesen Winter so furchtbar, dass ich eines Tages meinen Enkelkindern davon erzählen werde. lese den Empedokles online. am Bildschirmrand ballern die ganze Zeit Raumschiffe stumm in meine Richtung. bin sehr leicht ablenkbar, fange an, nebenbei an einem Text weiterzuschreiben, den ich dann ohne große Prüfung gleich ins Netz stelle. dann warte ich ein wenig und aktualisiere meinen Posteingang. da ich keine neue Nachricht habe, aktualisiere ich erneut – und weil ich merke, dass ich das eine Stunde lang machen könnte, stehe ich so ruckhaft auf, dass ich beinahe meinen Tee umstoße. ich bin ja wieder ganz vom Kaffeetrinken abgekommen, denke ich, es war nur so eine Mode, nichts ernstes, ganz so wie man auch liebt.
nach der Lesung komme ich mir wie gewöhnlich sehr verlassen vor. ich verabschiede mich früh, doch es zieht mich auch nichts ins Hotel. irgendwann bin ich in einem Schuppen, der fitzgerald heißt. es hängen Kinski-Plakate an der Wand, dass ich mich frage, ob die irgendwas nicht ganz verstanden haben, und es gibt eine Liveband, die irgendwelche Songs spielt, irgendwas mit Bedeutung. zehneinhalb Minuten a capella gegen die Ausbeutung kongolesischer Minenarbeiter. ich trinke meinen dritten Wodka Sour, als ich anfange, mir zu wünschen, jemand würde sich zu mir setzen, ich wünsche irgendeine Form von sexueller Belästigung und würde vermutlich sogar drauf einsteigen, sieht das denn keiner? ich werde plötzlich sehr traurig, womöglich weil die Band weiter gegen den Klimawandel anspielt. ich glaube, der Geiger fidelt grad ein Anti-Apple-Solo, und der Drummer sagt später ins Mikro, die Leute sollten more conscious sein. dann ist ja alles gut. es ist zwei durch, die Instrumente werden eingeräumt, der Rest ist Gesprächslärm, hier und da werden Tische frei.
drei Uhr, ich merke, dass ich immer langsamer trinke. ein paar Studenten haben meinen Tisch okkupiert. doch den Gefallen, das Feld zu räumen, mache ich diesem Studentenpack nicht. frage mich, was in ihnen vorgeht. sind bestimmt zehn Jahre jünger als ich, und schon nach ein paar Minuten blenden sie mich völlig aus, ich bewundere das ein bisschen. beobachte die Dynamik ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen. zwei durchaus attraktive Frauen mit mehr als durchschnittlichen Typen. trotzdem heißt es dreamteam, und ihren Kerl nennen sie den isnt-he-sweet. eines Tages werden sie sicher auch ihre Kinder lieben, denke ich, also warum nicht schon mal üben? überall wird gelacht und geraucht. ich bemerke die Akzeptanz der Gesellschaft für Parallelwelten. es gab Zeiten, da war Dichtung subversiv, jeder hatte eine Haltung, die er kundtat. heute ist da höchstens noch ein Inneres, das, solange es nicht stört und niemanden was kostet, einfach ignoriert wird. es sollte einen Einbürgerungstest für Dichter geben, vielleicht bringt es sie aus dieser Parallelwelt der Dichtung heraus. Döner verkaufen, immer noch besser, als Buchstaben mit Leere zu umstellen. ich stehe auf, gehe dann aber doch an die Bar, hole mir noch einen Cocktail.
es ist fast eine Zeremonie. ganz langsam drückst du ihn mir rein, und ich spüre nichts, ganz wie du es gesagt hast. ich habe das schon tausend mal gemacht, sagst du. so ist es dann ganz leise, und unser Austausch beschränkt sich auf das Nötigste. so wie die Dinge liegen, kann ich dir nicht wirklich entgegen kommen, ich liege ja halb auf dem Tisch, und deine Hand drückt zwischen meine Schultern. es riecht nach Gleitgel und dann nach was anderem. aber ich habe nichts gespürt. du lächelst mich an. immerhin, denke ich, so ist es richtig, nun ist es richtige Liebe. ich schaue mich in der Küche um und versuche zu klären, ob ich hier auch frühstücken möchte. weiß nicht, sage ich, doch irgendwie spüre ich, dass du gar nicht gefragst hast. der Tisch wackelt ein letztes Mal. als ich die Dusche höre, nehme ich meine Sachen, gehe in den Flur hinaus und ziehe die Tür hinter mir zu. da ist eine große Hilflosigkeit, obwohl es keine Gefahr mehr gibt. als ich auf die Straße trete, öffnet sich irgendwo über mir ein Fenster. hey! ruft einer. ich laufe los.
die Stadt wie ausgestorben. kann man das so sagen? ich meine, das klingt, wie ein Zitat. ich kann ja nichts denken, ohne mich ständig zu fragen, ob ich das nicht so oder so ähnlich schon mal irgendwo gelesen habe, oder hast du es vielleicht gesagt? die Stadt, die so leer ist… wenn man abends durch die östliche Vorstadt geht, ist es ganz offensichtlich, dass hier irgendwas vorgefallen ist. am Tag sieht alles noch nach Stadt aus, doch dann die Nacht und durch die dunklen Kulissen streifen die Füchse. das aber habe ich bestimmt irgendwo gelesen. hinter den mit Brettern versperrten Hauseingängen und Fenstern bricht der Frost den Putz von der Decke. dann fällt mir etwas ein, was du gesagt hast: du möchtest immer noch gern die Welt retten. und als ich fragte, wovor, hast du gesagt: vor deinem Anspruch, die Welt retten zu wollen. es war also so weit. nun machten wir einfach ein selbstgefälliges Bonmot daraus. ich muss mich kurz abstützen. ich weiß nicht, wie weit ich noch laufen muss. die Laternen sind überall dunkel. meine Füße sind nass. wer baut auch ein Hotel, wo vor Jahrzehnten vielleicht mal was gewesen ist? ein Auto fährt langsam an mir vorbei. ein paar Meter weiter rollt es links an den Straßenrand, Schnee knirscht aus den roten Bremsleuchten hervor.
da steht er. ein dunkler BMW. die Rücklichter leuchten rot. der Rauch aus dem Auspuff verteilt sich, ein schwerer Nebel, der überall in der Luft schwebt und dann niedersinkt wegen der Kälte. muss eine Geschichte immer mit Mord und Totschlag enden, damit sie tragisch endet? irgendwer spielt mit dem Gaspedal. mein Atem kondensiert vor meinem Gesicht, es ist sehr kalt. vielleicht schneit es. ich finde es seltsam, dass ich nichts riechen kann, nicht einmal den Frost. die Luft ist ganz klar, fast folgerichtig. langsam gehe ich einen Schritt. ich kenn ja nur den einen Weg und möchte nur zurück ins Hotel. auch wenn ich so ähnliche Geschichten schon mal gehört habe. im Vorbeigehen versuche ich in das Auto hineinzuschauen, doch ich kann nichts erkennen, nur dass jemand drin sitzt. nein, nicht einmal das. ich versuche, ruhig zu bleiben. es gibt Situationen, denke ich und kann meinen Schatten im Scheinwerferlicht vor mir länger werden sehen, direkt von mir verfolgt, und zucke zusammen, der Motor heult auf, dieses Mal richtig. vielleicht unterscheiden wir uns nur wenig von all den Rätseln, die wir uns aufgeben, Reifen, die durchdrehen, und alles kommt näher, und dann rast das Auto an mir vorbei, mit hohem Tempo bis ans Ende der Straße. ich bleibe stehen, mein Herz rast, sehe Bremslichter. dann verschwindet es.
in meiner Wohnung checke ich meine Nachrichten. doch es ist kein Anruf auf meiner Mobilbox. auch keine ungelesene Mail in meinem Eingangsordner. früher habe ich immer gedacht, dass, wenn ich lange fort bin, ich auch viele Nachrichten erhalten müsste. aber das hört irgendwann auf. in Wirklichkeit schreibt niemand, der keine Antwort auf eine Mail erhält, eine zweite. ich weiß nicht, warum das so ist. ich nehme die Wodka Flasche aus dem Eisfach und mache mit dem Finger ein Zeichen in die Eiskruste. es gab Zeiten, da habe ich Briefe bekommen, denke ich, und so oft gelesen, dass ich sie auswendig konnte. ich schaue in den Innenhof und überlege, ob sich vielleicht irgendetwas hinter den Bäumen versteckt hält. dann überlege ich, dass ich hinsichtlich aller Fragen keinerlei Hoffnung habe. vielleicht bin ich immer noch nicht richtig müde. ich habe den Eindruck, Gras zu riechen. ich gehe durch alle Zimmer, ziehe die Vorhänge zur Seite, doch draußen ist nichts zu sehen.
17.Platz: Gestern war heute noch morgen - Maike Frie
Eine Mutter darf sich so etwas nicht wünschen, niemals, unter gar keinen Umständen. Ich darf mir wünschen, dass uns so etwas nicht passiert wäre, ich darf mit unserem Schicksal hadern, mit Gott, mit irgendwelchen anderen Schuldigen, auch wenn es sie vielleicht überhaupt nicht gibt, gar mit mir selbst oder dir, Ina, darf ich hadern, ich darf heulen, schreien, toben, all das darf ich, wenn ich nur an deinem Bett sitze, Ina, deine Hand halte und darauf hoffe, dass du die Augen aufschlägst und alles wieder ist wie vorher, wenn nicht sogar besser, weil mir dann umso bewusster ist, welches Glück ich an dir habe. Oder auch deine Hand halten und flehen, dass du die Augen aufschlägst, Ina, selbst wenn nichts jemals wieder so sein kann wie vorher, flehen, dass du bei mir bleibst, Ina, egal wie, dass ich dem Schicksal oder Gott oder irgendwem verspreche, alles für dich zu tun, was in meiner Macht steht und noch viel mehr über alle menschlichen Kräfte hinaus, all das darf ich, doch wünschen, dass du nie wieder aufwachst, Ina, für immer einschläfst, wenn man es sanft formuliert, einfach stirbst und tot bist, nein, das darf ich nicht.
Denn ich bin eine Mutter, ich bin deine Mutter, Ina, und wir sind lange über die Phase hinaus, in der uns aufgeklärte Zeitgenossen Anpassungsschwierigkeiten zugestanden hätten, mir vielleicht Wochenbettdepressionen oder irgend so einen neumodischen Kram und dir vielleicht ein KiSS-Syndrom, das ein Osteopath sicherlich längst in den Griff hätte bekommen können. Doch du und ich, Ina, bei uns beiden ist es etwas vollkommen anderes, wir hatten keine Anpassungsschwierigkeiten, ich habe mich gefreut auf dich und über dich, sie genossen, die ersten schlaflosen Monate, auch dein Schreien, natürlich nicht immer, aber doch tief in mir drin, weil du mich gebraucht hast und ich auch dich auf irgendeine Art und Weise, weil du mich vervollständigt hast, Ina, wie das noch nie ein anderer Mensch vor dir und keine Aufgabe jemals geschafft hat. Und all das ist auch nicht überraschend über mich gekommen, du warst geplant, Ina, und erwartet und hast einen Vater und alles ist wie im Bilderbuch, obwohl es da ja inzwischen auch genug Lesestoff über problematische Themen gibt, aber ich meine diese andere, diese heile Bilderbuchwelt, von der man immer spricht.
Doch jetzt hat diese Bilderbuchwelt Kratzer bekommen, Ina, denn du bist zu den Nachbarn in den Garten abgehauen, vorgestern, als dieses heute noch ein morgen war, mit deinen noch nicht ganz drei Jahren und musst beim Klettern über den Zaun gestolpert sein und bist in den Teich gefallen, während ich die Wäsche aus dem Keller geholt und dich erst gefunden habe, als ich sie aufhängen wollte, die Wäsche, also zwei oder drei Minuten später.
Und deshalb sitze ich nun hier, an deinem Krankenbett, Ina, und halte deine Hand. Es ist unsere eintausendunderste gemeinsame Nacht, nicht eine davon waren wir getrennt, und auch jetzt weiche ich nicht von deiner Seite, so wie es sich für eine liebende Mutter gehört, so wie es für mich und dich, Ina, selbstverständlich ist. Aber wenn ich in mich hineinhorche, höre ich da diese Idee, entdecke ich da diesen Wunsch, dass du nicht wieder aufwachst, ob mit oder ohne Schäden. Stattdessen, Ina, stattdessen wünsche ich mir, dass du stirbst und einfach nicht mehr da bist in meinem Leben. Und ich wünsche mir, dass ich es mir nicht wünschte, denn wie kann ein solcher Gedanke in einem Mutterhirn wohnen?
Gibt es irgendjemanden auf dieser Welt, der eine Kindsmörderin versteht? Wohl kaum, auch ich nicht. Das wäre mir niemals in den Sinn gekommen, dir etwas anzutun, Ina, schutzlos und hilfebedürftig wie du bist. Ich habe dich noch nie geschlagen und fühle es auch nicht kommen, es gibt keine Verzweiflung bei unseren Streitereien, keine Ohnmacht, auch nicht, als du früher geschrien hast, kein Bedürfnis, dich zu schütteln, dafür bringt mich zu wenig in Rage, eher im Gegenteil, muss ich mich erklären, wenn ich zu gefühlskalt wirke. Ich schlage dich nicht und ich sperre dich nicht ein und ich bestrafe dich nicht mit Essensentzug oder mache andere Dinge, die jenseits der üblichen Elternstrenge liegen, mögen Kinder diese auch manchmal als grausam empfinden, wenn sie nicht augenblicklich ihre Wünsche erfüllt bekommen.
All das ist es nicht, Ina, es ist nur diese Gelegenheit, die durch mein Hirn spaziert, jetzt, da ich nichts anderes zu tun habe, als an deinem Bett zu sitzen und deine Hand zu halten, und abzuwarten, diese gedankliche Gelegenheit, eine Tür zu öffnen, die längst nicht mehr da war, weil dein Vater und ich vor dreieinhalb Jahren durch eine andere hindurchgegangen sind.
Mit Entscheidungen, da habe ich es noch nie so gehabt, habe mir immer gerne ein Hintertürchen offen gehalten, mich zwischen verschiedenen Möglichkeiten hindurchlaviert und mich ungern festgelegt. Ich habe immer dies und das gearbeitet und hier und da gewohnt und wenn ich auch immer noch denselben Mann an meiner Seite habe, dann wahrscheinlich nur deshalb, weil eine endgültige Trennung so schwer rückgängig zu machen ist.
Doch das mit dir, Ina, das ist mehr als endgültig. Das ist für immer, sogar nicht nur für immer, das ist tatsächlich für immer und ewig. Vielleicht habe ich es bei der ersten Wehe begriffen, Ina, die ziemlich heftig über mich kam und mir klar machte, dass es jetzt keinen Weg mehr daran vorbei gibt, an der Geburt und an dir, auch wenn ich es mir bis kurz vorher noch offen gehalten hatte, ob du nicht doch ein Kaiserschnitt werden würdest, weil du verkehrt herum lagst. Doch die Entscheidung hast du mir abgenommen, Ina, und dich so eindrücklich in diese Welt gedrängt, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte, dagegen zu protestieren. Ob ich dir das übel genommen habe, Ina? Nur bis zu dem Augenblick, als du blutig und käseschmierig auf meiner nackten Brust lagst und ich etwas fühlte, das ich nicht kannte und das niemals jemand jemanden, der kein Kind nach der Geburt erlebt hat, beschreiben und erklären können wird. Wenn ein Haus brennt und mein Partner ist darin, werde ich alles daran setzen, ihn herauszubekommen, die Feuerwehr anrufen, Wasser oder Decken nehmen, hineinrennen oder alternative Fluchtwege suchen, aber wenn ein Haus brennt und du bist darin, Ina, werde ich mich in die Flammen stürzen ohne nachzudenken, ohne die Feuerwehr zu rufen oder mich selbst zu schützen, ich werde mich hineinstürzen und bei dir sein wollen, weil ich weiß, dass du nur mich allein auf dieser Welt brauchst, und alles ist gut. Ich würde mich hineinstürzen, weil du ein Teil von mir bist, du bist aus mir und der Liebe zu deinem Vater entstanden, du bist unverwechselbar du, Ina, auch wenn du viel von seinem Aussehen geerbt hast, die lockigen Haare, die Haut, die keine Sonnenmilch der Welt vor dem schnellen Bräunen schützen kann, die graugrünen Augen, wie abgründiges Seewasser und die breiten Füße, für die sich kaum Schuhe finden lassen. Ich liebe das alles an dir, Ina, das Kitzelige in deinen Kniekehlen, dein Kichern, wenn du dich hinter einem Vorhang versteckst, deinen Blick, wenn du ein Stück Schokolade lutscht, was du dir von ihm abgeguckt hast und so lange genießen kannst, wie ich es mir nie hätte vorstellen können bei einer Zweijährigen, ich verzweifle daran, dass du nicht malen magst und ich dir selbst mit Tricks und Überredungen Buntstifte nur für ein paar Augenblicke in die Hand drücken kann und dass du Tiere schon jetzt so schrecklich findest wie ich und wir sogar die Pferdekarten aus dem Bilderkartenspiel herausnehmen mussten.
Genau so bist du, Ina, und noch viel mehr, und du, Ina, du lagst in einem Teich, mit dem Gesicht im Wasser und hast aufgehört zu atmen und ich habe dich herausgezogen und den Krankenwagen angerufen und dich beatmet und geheult und geschrien und bin dir nicht von der Seite gewichen und sitze jetzt an deinem Bett und halte deine Hand und habe also alles richtig gemacht, bis auf die Tatsache, dass ich dich ein paar Minuten alleine in unserem Garten habe spielen lassen, und musste mich nicht einmal in Gefahr bringen dafür. Ich habe alles getan, Ina, was eine Mutter tut, wenn ihr Kind in Lebensgefahr schwebt, und jetzt tue ich alles, was eine Mutter tut, wenn ihr Kind im Koma liegt und es nicht klar ist, ob es jemals wieder aufwachen wird, und falls ja, in welchem Zustand.
Was ich tun kann, ist nicht viel, hier sitzen und deine Hand halten, Ina, aber das ist es nicht, was mich schlaflos hält, diese Untätigkeit und mein Unvermögen, dir weiter zu helfen, das ist es nicht, was mir die ungewaschenen Haare und die ausgetrocknete Haut und den Mundgeruch nach zu wenig Essen beschert. Es sind diese Gedanken, Ina, die mich davon abhalten, etwas zu essen und zu trinken oder zu duschen, meine Gedanken, meine ganz persönlichen Gedanken, die keine Muttergedanken sein können; nicht die Vorstellung, dass du aufwachen oder sterben könntest, Ina, während ich dusche oder schlafe oder etwas esse und nicht deine Hand halte, sondern die Vorstellung, dass ich es nicht verdiene, zu schlafen, zu essen oder zu duschen, während ich dir den Tod wünsche.
Vielleicht wäre es noch zu akzeptieren, wenn ich dir den Tod wünschte, weil er das Beste für dich wäre, Ina, vielleicht gibt es so etwas in Hospizen, dass dort solche Gedanken Raum finden, wenn Familien über Jahre hinweg barfuß über Glasscherbenwege gehen mussten und gemeinsam am Ende ihrer Kräfte sind und die gesunden Geschwister auf ihre Eltern warten und alle lernen müssen, ein Kind gehen zu lassen. Aber ich, ich wünsche nicht dir den Tod, Ina, denn die Ärzte wissen selbst noch nicht, was weiter geschehen wird, es sind gerade zwei Tage vergangen, noch kannst du aufwachen, gesund wie vorher und unser Leben kann weitergehen, nur dass wir in Zukunft zwei Mal im Jahr mit dir Geburtstag feiern und dich als doppelt geschenkt umso mehr behüten und wertschätzen werden. Nein, zwischendurch und tief in mir drin wünsche ich mir deinen Tod, Ina, mir, und hoffe ich, dass bald alles vorbei ist, dass du nicht wieder aufwachst, dass ich zurücktreten kann von dieser gravierendsten Entscheidung, dass ich noch einmal vor ihr beginnen und mein Leben – mein Leben, nicht unser Leben – neu weiter leben kann. Ich werde trauern müssen und eine angemessene Zeit verzweifelt sein und das werde ich nicht spielen müssen, denn ich werde um dich trauern, um all die schönen Stunden, die wir nun nicht zusammen erleben werden, um all die Erfahrungen, die ich nun niemals machen werde, weil ich kinderlos bin. Denn das werde ich sein, es wird kein anderes Kind geben nach dir, Ina, mit ihm könnten wir niemals so glücklich sein, wie wir mit dir waren, das können wir keinem Kind antun, sein eigenes und dein verpasstes Leben zu leben. Ich werde also kinderlos sein und frei, zu tun und lassen, was ich möchte, wann ich es möchte und wie ich es möchte, aufstehen und arbeiten gehen und schlafen und kinderlose Freunde treffen und ausgehen und Geld für sinnlose Dinge ausgeben und spontan in den Urlaub fahren, ohne Rücksicht auf deine Bedürfnisse zu nehmen, und Nudeln ohne Rohkostbeilage essen nachmittags um vier und den Fernseher dabei laufen lassen und mit deinem Vater sprechen, ohne ständig unterbrochen zu werden und über Dinge, die nichts mit Windeln oder Spielplatzbekanntschaften zu tun haben, keine Dinkelstangen einkaufen und ohne gepackte Tasche aus dem Haus gehen und nicht mehr nachdenken und keine Verantwortung. Dass alles mit dir zu tun oder bleiben zu lassen, Ina, ist mir nie in den Sinn gekommen, denn du sollst es gut bei mir haben, du sollst es nicht später irgendwann einmal gut haben, sondern jetzt und hier, du solltest es jeden Augenblick, oder beinahe jeden Augenblick, so viel ich dir mit all meinen Kräften bieten kann, so gut solltest du es bei und mit mir haben.
Ob es gut sein wird? Es wird mir auf jeden Fall sinnlos erscheinen, das Leben ohne dich, Ina, denn wenn du mich nicht mehr liebst, wird es nie wieder jemand so bedingungslos tun, und wenn du mich nicht mehr brauchst, wird es nie wieder so vertrauensvoll tun, und wenn du nicht Spuren von mir in Zukunft trägst, wird das überhaupt niemand tun. Es sind auf jeden Fall alberne Dinge, die ich dann zu genießen versuchen werde, wenn du nicht mehr bei mir bist, Ina, albern im Vergleich zu dem, was mir fehlen wird. Bevor du bei uns warst, Ina, habe ich sie ja schließlich auch nicht genossen, zumindest nicht rund um die Uhr, weil es so selbstverständlich war, mein Leben vor einem Kind, und weil ich dieses andere, mein jetziges Leben nicht kannte, nicht kennen konnte. Deshalb kann ich es mir nur wünschen, dass es gut sein würde, was ich mir jetzt wünsche, das neue Leben nach dir, Ina, denn ich weiß es nicht und ich kann es auch nicht beeinflussen, denn selbstverständlich werde ich dir nicht den Tod bringen, auch wenn er zum Greifen nahe ist bei all den Apparaten und Schläuchen und Knöpfen. Ich weiß also nicht wirklich, ob es gut sein wird, es ist nur dieses verbotene Gefühl, das ich habe, und es ist gut, dass ich keine Entscheidung treffen muss, jetzt, weil ich darin noch nie gut war, Entscheidungen zu treffen, ich kann nur da sitzen und deine Hand halten und weinen und hoffen und niemandem zeigen, was ich mir wünsche, denn ich bin deine Mutter, Ina.