4. Platz Deutscher Kurzgeschichtenwettbewerb
Elias Ferrari: ‘Vor dem Ende’
Wir hatten die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als sie meinte, Seen zu umkreisen sei dem Entlanglaufen von Bächen oder Flüssen vorzuziehen. Mit letzteren befinde man sich stets in einem geladenen Verhältnis; entweder lief man in Flussrichtung entlang und musste versuchen, mit der Strömung Schritt zu halten; oder man lief in die entgegengesetzte Richtung und war gezwungen gegen den Flussverlauf anzukämpfen. Seen hingegen lägen still in der Mitte, erklärte sie weiter, ein unaufgeregter Bezugspunkt im Zentrum der eigenen Schritte. Ich wusste nicht, ob das so stimmte, aber ich schaute mich um und der Ort an welchem sie mich gebeten hatte, sie zu treffen, war wunderschön, also nickte ich nur.
So früh im Jahr war ein Teil des Sees noch zugefroren; das Wasser schwappte lustlos an das eine Ende einer Eisfläche, hin und wieder trug es einen Splitter davon ab, der dann auf der Oberfläche dahintrieb. Am Himmel, über den kahlen Baumkronen, war keine Wolke zu sehen. Trotzdem oder gerade deswegen war die Luft von einer stechenden Kälte, jeder Atemzug schmeckte unverbraucht und frisch. Ich hatte noch keines der Worte gesagt, die ich mir am Morgen zurecht gelegt hatte und mittlerweile glaubte ich auch nicht mehr, dass ich sie sagen würde. Ich hatte mir erwartet, dass ihre Dringlichkeit den gesamten Nachmittag in Anspruch nehmen würde, doch sie waren, sobald wir uns begrüßt hatten, lautlos abgeblättert und hatten nur Stille hinterlassen, die es zu füllen galt. Zu meinem Erstaunen hatte Jana keine Schwierigkeiten, genau das zu tun.
Ihr neulicher später Anruf hatte mich überrascht, zumal ich nicht gewusst hatte, dass sie im Land war. Doch sie erklärte mir, dass sie die vergangenen sieben Wochen in einem Bauernhaus ganz in der Nähe dieses Gewässers verbracht hatte. Die ganze Zeit über hatte sie ohne Schwierigkeiten gesprochen, mit einer mir unverständlichen Leichtigkeit von ihrer Arbeit und ihren Recherchen erzählt, ganz so als wären wir uns zufällig begegnet. Ich selbst konnte ihr diese Stimmung nicht zurückspiegeln und wie wir jetzt den halben See abgegangen waren, fiel mir auf, dass ich seit unserer Begrüßung kaum ein Wort gesprochen hatte. So viele Bilder waren mir durch den Kopf gegangen, doch keines von ihnen konnte ich zu Worten formen, zu einem Satz mit einem Anfang und einem Ende.
Angesichts dieser Unbeholfenheit beschloss ich, trotzdem auf meine vorbereiteten Sätze zurückzugreifen. Ein Stück weit würden sie doch ihren Zweck erfüllen können; obwohl sie mittlerweile völlig unpassend erschienen, würde ihre bloße Gegenwart zumindest ein Signal senden, dass ich die Situation verstand und bereit war, mich ihr zu stellen.
„Jana, ich kann es noch nicht glauben“, sagte ich deshalb. Meine Stimme klang dünn und unsicher. Ich räusperte mich, bevor ich weiter sprach. Ich wollte anders klingen. „Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Es tut mir leid, das ist alles.“
Sie blieb nicht stehen. „Es war nicht richtig von mir, dich so zu überfallen“, sagte sie. „Ich habe nur dir davon erzählt, ich weiß nicht, ob ich jemand anderem etwas sagen will.“
„Aber es gibt doch Menschen, denen du davon erzählen musst.“
„Nein, ich muss nicht. Mein ganzes Leben lang dachte ich, ich schulde der Welt Worte. Das ist jetzt nicht mehr so.“
Ihr Trotz bekam mir schlecht; einen Augenblick lang musste ich innehalten, um nicht auf eine Weise zu reagieren, die ich bereuen würde. „Du gehst so ruhig damit um“, sagte ich stattdessen, als ich wieder den Mut zur Ehrlichkeit gesammelt hatte. „Ich weiß nicht, ob ich dich schon einmal so ruhig gesehen habe.“
„Es fällt mir tatsächlich leichter als noch vor wenigen Wochen. Ich bin krank, daran lässt sich nichts ändern.“
„Natürlich lässt sich daran etwas ändern“, platzte ich heraus, etwas zu laut vielleicht.
Sie schien einen Augenblick abzuwägen, was ich gesagt hatte. „Ich habe mich falsch ausgedrückt“, berichtigte sie sich dann und fügte mit einem Lächeln hinzu: „Das passiert mir in letzter Zeit so oft. Die meisten meiner Versuche verfehlen ihr Ziel.“
Ohne dass wir uns darauf abgestimmt hätten, verlangsamten wir beide den Schritt und nahmen schließlich auf einem Baumstamm am Rande des Ufers Platz. Von hier blickten wir quer über das stille Wasser, bis hin auf die andere Seite, an den Punkt, von dem aus wir unseren Spaziergang begonnen hatten. Genau dort wurde der Wald von einer kahlen Fläche unterbrochen. Vor einigen Jahren hatte ein besonders starker Sturm die Wälder übel zugerichtet. An der Stelle am anderen Ufer waren fast alle Bäume entwurzelt. Zwar war diese Ansammlung von umgewälzten Baumstämmen ein willkommenes Ziel für Schädlinge, doch hatten auch andere Tierarten dieses Revier für sich entdeckt. Pilze und Flechten, die sonst nirgends Platz fanden, breiteten sich aus. Im Sommer fühlten sich Schlangen auf dem warmen Holz besonders Wohl.
Eine Träne, die schon seit einiger Zeit im Augenwinkel hing, befreite sich und lief halb über meine Wange, bevor ein Windstoß sie mir unsanft abnahm und einen kalten Abdruck hinterließ. Jana sprach nicht mehr. Ich spürte nur, wie ihre Augen einige Sekunden lang auf mir ruhten. Dann wandte sie sich von mir ab und schaute übers Wasser. Ihr Atem stieg als weißer Rauch in die Luft. Sie hatte einen schönen Atem, dachte ich, einen vollen Atem. Man merkte gar nicht, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Vielleicht war es ja ein gutes Zeichen.
Einige Minuten lang verharrten wir so. Ich beobachtete ihren Atem, der regelmäßig und ohne große Hektik in die Welt entkam. Die Sonne erlebte jetzt den kurzen Höhepunkt, der ihr an Wintertagen zustand. Es war ein kurzes, aber kraftvolles Aufbäumen, einer Erinnerung gleich. Schon bald würde sie schwächer werden und einem langen Abend das Feld überlassen, doch in diesem Moment beanspruchte sie alles für sich. Jana lockerte den Schal um ihren Hals, hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen und auf einmal sah ich den See und seine Umgebung sehr klar vor mir, wie er an Spätsommertagen aussehen musste; die Luft lag warm und schwer auf dem Wasser, in welchem die grünen Baumkronen zerliefen. Das Lachen von schwimmenden Kindern drang an meine Ohren. Ausgestoßene Bienen surrten durch die Luft und warteten auf den Tod. Am Ufer erhoben die Himbeersträucher ihre welken Köpfe und ragten in die Höhe. Unzählige gelbe und schwarze Spinnen hüllten sie in lückenlose seidene Tücher. Nur mutige Hände griffen nach den Beeren; die meisten davon wuchsen ungebremst heran. Die sanfte rosa Färbung, mit welcher sie zur Welt kamen, verwandelte sich in ein dunkles lila. Sie schwollen auf, bis sie ihr eigenes Gewicht nicht mehr tragen konnten und der Saft durch die Haut brach. Dann tropften sie leise zu Boden, ein süßlicher Matsch lagerte sich um die Wurzeln an, in dem Fliegen nisteten.
„Ich habe deinen neuen Roman gelesen.“ Dieser Satz schien sie mehr zu vereinnahmen als meine vorherigen Versuche der Aufrichtigkeit. Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ich war in einer Buchhandlung und dein Name ist mir ins Auge gesprungen“, erklärte ich weiter. „Ich glaube wirklich, das ist dein bestes Werk. Du weißt, dass ich das nicht einfach so sage. Die letzten beiden hatten mich nicht beeindruckt. Ich mag deine Enden nicht – aber darüber haben wir schon zu oft gesprochen.“
„Es freut mich, das zu hören“, lachte sie. „Aber die Zahlen scheinen dir nicht recht geben zu wollen.“
Das stimmte. Es gab keinen Andrang mehr, ihre Bücher zu kaufen. Nach dem Erfolg ihrer ersten Veröffentlichung hatte Jana es nie zu Stande gebracht, dieselbe Publikumsreaktion zu bewirken. Verkaufszahlen waren zurückgegangen, Kritiken waren bestenfalls geteilt. Auch war das Buch, als ich es gefunden hatte, nicht gut sichtbar ausgestellt gewesen. Ich hatte es eher durch Zufall erblickt, als ich nach einem anderen Titel gesucht hatte.
„Scheiß drauf“, antwortete ich. „Du bist auf was wirklich Besonderes gestoßen. Du solltest so weitermachen.“
Sie nickte, aber erwiderte meinen Blick nicht. Fast eine ganze Minute lang blieb es still. „Ich weiß nicht, vielleicht ist es mein letztes“, sagte sie dann.
Das Entsetzen musste mir sehr deutlich im Gesicht stehen, denn Jana lachte laut auf. „Nein, nein. So habe ich das nicht gemeint. Es ist eine ganz allgemeine Beobachtung. Egal was jetzt mit mir passiert – auch wenn ich morgen auf magische Weise geheilt wäre – ich weiß nicht, ob ich noch etwas schreiben werde, das ist alles. Vielleicht ist dieser Teil meines Lebens zu Ende.“
„Du sagtest zuvor doch, dass du an etwas arbeitest.“
„Das tu ich auch. Aber es ist eben ein Verdacht, den ich habe. Ich kann es nicht mit Klarheit sagen, noch ist es nicht so weit.“
Etwas in mir sträubte sich gegen diese Worte. Sie trug sie auf viel zu selbstverständliche Weise vor. „Ist das alles?“ fragte ich, etwas erregter als beabsichtigt. „Hast du dich so schnell aufgegeben? Denn das ertrag ich nicht.“
„Ich habe mich ganz und gar nicht aufgegeben“, protestierte sie. Nun war auch sie zum ersten Mal etwas lauter geworden. Ich hatte mich nach der Unruhe ihrer Stimme gesehnt.
„Es klingt so“, erwiderte ich.
„Nein. Aber vielleicht gehört das Schreiben nicht mehr zu mir. Welchen Sinn hätte es denn, mich daran zu klammern? Würde ich mich nicht ganz furchtbar entstellen?“
Die Gebirgskette, die im Westen über den See ragte, würde uns bald die Nacht bescheren. Es war mir, als könne ich das Wasser beim Zufrieren hören. Sie stand zuerst auf. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen, um sich nach mir umzudrehen. Einige Sekunden lang schauten wir uns an, dann erhob auch ich mich.
Im Winter ist ein Sonnenuntergang ein heimlicher Vorgang. Es handelt sich dabei nicht um einen wirklichen Untergang, eher um einen schrittweisen Rückzug. Das Licht verblasst, verstreut sich mit einer letzten Anstrengung auf der Erde, die es nicht abzudecken vermag. Die eben noch so vielfältige Farbpalette verengt sich, die zwiespältige Ruhe der Einigung übernimmt. In dieser blutleeren Atmosphäre schritten wir voran. Wahrscheinlich würden wir es nicht zurück schaffen, ohne von der Dunkelheit berührt zu werden. Schatten zernagten bereits das Blickfeld.
„Es gibt hier in der Nähe ein Dorf, oder es gab dieses Dorf einmal“, kam ihre Stimme aus dem halbdunkel. „Es ist in Vergessenheit geraten, aber man kann noch darüber lesen. Vieles ist nicht erhalten, aber es ist immerhin genug, um sich mit den Umrissen seiner Geschichte vertraut zu machen. Das Ende dieses Dorfes ist bemerkenswert, weil es nicht niedergemacht wurde, es wurde nicht erobert und nicht niedergebrannt. Als das Land neu verteilt wurde, sind die Menschen einfach weggezogen und das Dorf hat sich aufgelöst. Normalerweise sind diese paar Sätze alles, was dazu geschrieben wird. Aber wie gesagt, ich habe ein bisschen recherchiert und ein Buch gefunden, dass die Zeit davor in den Blick nimmt. Die Auflösung.“
„Die Auflösung?“
„Sozusagen. Eine Sache ist mir dabei in Erinnerung geblieben. In dieser Zeit vermehrten sich Erzählungen darüber, dass Menschen in den Wald gingen und bei ihrer Rückkehr nicht mehr sprechen konnten. Sie gingen los, um Holz zu sammeln, oder Beeren zu pflücken oder zu jagen und wenn sie wieder kamen, brachten sie keinen Laut mehr heraus. Am Fuße der Berge gibt es viele Einbuchtungen und Höhlen. Man erzählte sich, dass in einer von ihnen ein böser Geist hauste, der sich Wanderern, dessen Stimmen ihm gefielen, als alter Mann zeigte. Es hieß, er sammle ihre Zungen ein und nagle sie an die Wände seiner Höhle.“
Ich musste schmunzeln. „Gibt es denn irgendwelche Hinweise darauf, dass etwas Wahres dran sein könnte?“
„Vermutlich nicht. Sonst hätte man schon längst eine Höhle voll vertrockneter Zungen gefunden. Aber im Grunde ist das ja unerheblich. Dass die Geschichte sich verbreitet hat, das fasziniert mich. Das ist mir Beweis genug. Ich denke, mit den Worten ist es genauso wie mit jedem anderen Handwerk. Man benutzt das Material, das man zur Verfügung hat.“
Wieder war es schwer, ihren Ausführungen, mit spielerischer Leichtigkeit vorgetragen, zu widersprechen. Und nun verspürte ich auch kein starkes Verlangen, dies zu tun. Der gesamte Tag verlief in eine völlig andere Richtung, als ich es mir erwartet hatte. Aber was hatte ich mir erwartet?
Die starke Schulter zu sein, antwortete ich meiner eigenen Frage, deren wundersame Naivität sich mir jetzt als recht eigennützig offenbarte. Auch wenn es in meinem Kopf einen Filter gab, der mich vor allzu eitlen Gedanken bewahrte, gingen diese nicht unbemerkt an mir vorbei. Dass Jana mir diese Rolle verweigerte, einfach weil sie ihre eigene Rolle nicht spielte, warf mich aus der Bahn.
War ihre stoische Haltung ohne jegliche Schattenseiten? Oder war es lediglich mein verletzter Stolz, der mich nach eben diesen Schattenseiten Ausschau halten ließ? Ein weiterer Gedanke formte sich in meinem Kopf. Eigentlich hatte er sich schon vor einer Weile gebildet, doch erst jetzt durchbrach er meinen Widerstand. Hatte ich in ihrer Tragödie, in der jähen Zersplitterung ihrer Lebenswelt, Zuflucht für mich selbst gesehen? Das war hier nicht zu erhalten. Krankheit war einfach nur das – Krankheit. Eine starke Welle der Bewunderung für sie überkam mich, die meine anfängliche Verlegenheit in den Hintergrund verbannte.
„Hast du mich deshalb hierher gebeten? Wegen dieser Geschichte?“
„Zum Teil. Ich wollte herausfinden, ob wir diesem Alten begegnen.“
„Wenn er hier ist, dann wäre jetzt wohl der richtige Moment für ihn, findest du nicht?“
Auch wenn die Geschichte vom zungenraubenden Alten in diesem Wald nicht wahr sein mochte, so lagen doch trotzdem unzählige vertrocknete Worte in diesen Wäldern. Ein leichter Regen war wohl genug, um sie wieder hörbar zu machen. Die Vögel, welche eben noch munter gesungen hatten, waren verstummt und ich lauschte dem beständigen Flüstern, dass aus den Wäldern stieg. Janas Stimme erklang eine Ebene über diesem Gewirr.
„Man hört ihn nicht kommen, man sieht ihn auch nicht von weitem, er ist irgendwann einfach da. Er steht auf einmal zwischen den Bäumen und starrt uns an. Er hat einen langen, weißen Bart und klar-glasige Augen. Wenn man ihn entdeckt, hat er einen schon für sich. Er verwickelt einen in ein Gespräch, fragt nach dem Weg oder so etwas ähnliches. Wer würde da nicht stehen bleiben? Wir antworten ihm, erkundigen uns, wo genau er denn hin will. Aber während ich spreche, scheint es mir, als sehe ich sein Gesicht sich verändern. Plötzlich ist da etwas wie Aufregung in ihm, als könne er sich kaum beherrschen. Er will etwas, denk ich mir. Er will etwas und er hat es schon.
„Es gibt keine genauen Ausführungen darüber, wie er die Zungen der Menschen entfernt, aber ich vermute er ist kein Chirurg. Ich stelle es mir so vor, dass er einem in den Mund greift, einfach so. Man kann sich nicht dagegen wehren, es ist als wäre man nur noch ein Beobachter. Ich will schreien, aber es ist schon zu spät.“
Ich hörte ihr zu und musste daran denken, wie an einem Abend vor zwei Tagen mein Telefon spät nachts geläutet hatte und ich zu meiner Verwunderung ihren Namen auf der Anzeige gelesen hatte.
„Warum erzählst du gerade mir davon? Wenn du sagst, du schuldest niemandem ein Wort, wieso brichst du diesen Glaubenssatz genau für mich?“
Obwohl man nur noch wenige Meter weit sehen konnte, wusste ich, dass wir beinahe zurück am Ausgangspunkt sein mussten, wo Wurzeln an der Luft waren.
„Es ist schon seltsam“, antwortete sie. „Je weniger Menschen sehen, desto ehrlicher werden sie, findest du nicht? Niemand erzählt dir seine Geheimnisse am Morgen. Aber am Abend verbreitet sich ein jeder, als wüsste er nichts darüber, dass in ein paar Stunden die Sonne wieder aufgehen wird.“