26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Christina Walker

Schwimmen

Die Dinge laufen nicht so. Das muss ich zugeben. Obwohl Frau Kramer gesagt hat, meine Beinarbeit sei viel besser geworden. Frau Kramer hat auch gesagt, dass ich unbedingt mit zum Schwimmcamp kommen solle. Sie lädt nicht jede in das Camp ein. entchen, schrieb Linda mir danach auf WhatsApp, das ist wasser. schwimm doch? Der Satz hatte ein Fragezeichen am Ende. Weiß der Teufel. Das Fragezeichen hatte die Form von Lindas Dutt. Wie viel Haare passen überhaupt unter eine Badekappe? Marie schickte gleich ein paar Emojis hinterher. Tränensee bis zum Hals. Wenigstens Marie ist jetzt weg, auf Urlaub in Italien, irgendwo am Meer. 

Ich habe nicht geantwortet auf den Schwachsinn. Es ist immer dasselbe. Schneeballeffekt. Emojilawine. Und keiner weiß mehr, wie es anfing. Zuhause habe ich gesehen, dass noch mehr Nachrichten kamen. Mam bemerkte sofort, dass ich geladen war. Sie hat mir ein Glas Saft hingestellt und nichts gefragt. Es gibt so Tage, da nervt sogar, wenn Mütter nichts fragen. Wahrscheinlich hat sie ein schlechtes Gewissen. Ich bin nämlich draußen, tot, richtig tot. Das Schwimmcamp findet ohne mich statt. Ich brauche deine Hilfe, hat sie bloß gesagt. Mit ganz ernster Stimme. Man muss echt aufpassen, wenn Mütter so klingen. 

Ich kann nicht ins Camp, weil ich auf meinen kleinen Bruder aufpassen muss. Ihr Chef hatte einen Unfall. Fahrrad, Gehirnerschütterung. Und sie kann den Laden nicht einfach schließen, sagt Mam. Das ist unfair, habe ich geschrien. Ich muss trainieren, habe ich geschrien. Ich soll halt im See schwimmen gehen, sagte sie. Sie hat keine Ahnung vom Schwimmen. Und Jan soll ich mitnehmen. Sie hat echt keine Ahnung. Im September ist die Jugendausscheidung, habe ich geschrien. Und ich schreie wirklich selten, weil meine Mutter normalerweise ganz in Ordnung ist.

Jetzt stehe ich um halb sieben in der Früh auf, obwohl Sommerferien sind und ich da normalerweise ausschlafe. Mam sagt bloß: Pass auf dich auf, wenn ich in meinem Jogginganzug aufs Rad steige und an den See fahre. Dort schwimme ich, bis die kleine Kröte aus den Federn kriecht. Am ersten Tag war es hart. Ich dachte, das schaff ich nie im Leben, weil auch die Luft noch so kalt war von einem Gewitter in der Nacht. Die Wiese war klitschnass. Die Enten haben mich angesehen, als wär ich eine Außerirdische. Entchen, das bin nur ich! Der See ist am Morgen glatt und grün. Eigentlich schade, ihn zu stören. Deshalb fädle ich die Füße mit den Zehen zuerst ein. Das gibt weniger Wellen und fühlt sich auch nicht so kalt an. Heute habe ich ein Thermometer dabei. Das Wasser hat 22 Grad. Fünf Grad weniger als im Trainingsbecken. Nicht optimal für die Muskeln. Ich soll mich auf die Technik konzentrieren beim Training, sagte Frau Kramer, die Schnelligkeit komme von selbst. 

Brustschwimmen ist die schwierigste der vier Schwimmarten. Alles muss aufeinander abgestimmt werden, Arme, Beine, Atmung. Ich beginne mit der Überkreuz-Koordination. Rechter Arm und linkes Bein in Aktion, die anderen Extremitäten bleiben gestreckt, tun aber nichts. Das gibt mehr Feingefühl für die Bewegungsabläufe, sagt Frau Kramer. Einatmen, ausatmen, das Wasser rauscht und trägt mich. Ich war vielleicht acht, als ich das begriff. Das Wasser trägt dich. Es lässt dich nicht einfach untergehen. Als ich versuchte, den See dafür zu küssen, dass er mich nicht absaufen ließ wie einen Stein, bekam ich Wasser in die Nase und ging kurz unter. 

Kippwende ohne Anschlag, nun linker Arm und rechtes Bein, die anderen Gliedmaßen ruhig halten. Ich schwimme gegen die Sonne, die gerade über die Uferbäume steigt. Die Sonne blendet, sie bringt mich aus dem Rhythmus. Ich finde das Morgentraining trotzdem eine gute Idee. 

Als ich in die Jacke schlüpfe, quakt das Handy in der Tasche. Simon hat mir den Sound für WhatsApp raufgeladen, als wir an dem Referat über Amphibien saßen. Weil ich denke, dass es Mam ist, schaue ich aufs Telefon. entchen, warum erzählst du quatsch über mich? weil ich gleich ins schwimmcamp fahre und du nicht? Linda, der Dutt mit Fragezeichen. weil du mit simon eis essen warst und sie nicht, antwortet Marie eine Sekunde später. Das Kugelpendel hat den Impuls aufgenommen. Irgendwo am Mittelmeer. Irgendwo in Italien. Er landet in meiner Hand. Die Hand fühlt sich taub an vom kalten Wasser. 

Wo kommt der denn her?, frage ich, als ich das Fahrrad vor dem Haus abstelle. Der fremde Junge schaut zu Boden. Er trägt leuchtend gelbe Shorts. Jan hat sich den Fußball unter den Arm geklemmt. 

Nuri ist vor den Ferien in meine Klasse gekommen, sagt mein Bruder. Weißt du, er senkt seine Stimme, Stufe Dramatik: Der ist aus Syrien, das ist irgendwo am Mittelmeer, dort ist Krieg. (Und lauter.) Wir gehen jetzt zum Fußballplatz. Komm, Nuri. Der andere nickt und grinst. 

Vergiss es, sage ich und nehme Jan den Ball aus der Hand. Jetzt ist Frühstück. Und du gehst nach Hause, Nuri oder wie immer. 

Der Junge reagiert nicht, er nickt und lächelt mich an. Mein Handy quakt. Außerdem habe ich Wasser im linken Ohr, das knackt andauernd. Ich habe die Ohrstöpsel zuhause vergessen. Am liebsten würde ich jetzt in diesen neongelben Hintern treten, damit er sich endlich bewegt. Weg von hier. Lindas Badeanzug hat dieselbe Farbe. Neongelb. 

Go, go home, sage ich und wedle mit der Hand, als würde ich Fliegen verscheuchen. Endlich setzt sich der Junge in Bewegung. 

Du bist gemein. Und so was von uncool, zischt Jan in meinen Rücken. 

Er verweigert das Frühstück und verzieht sich in sein Zimmer. Dort dreht er ein Hörspiel auf volle Lautstärke. Ich setze mir Kopfhörer auf und fange an, das Schulzeug auszusortieren. 

Zuhause ist die Welt noch in Ordnung, hier ist mein Unterschlupf im Krieg, singt Sido aus dem Kopfhörer. Wer´s glaubt. Ich fühle mich mies. Das Ohr knackt immer noch. Nuri oder wie er heißt tut mir auf einmal leid, mein Bruder tut mir auf einmal leid. Ich klopfe bei Jan. 

Raus!, brüllt er, als ich die Tür öffne. 

Ich drehe sein Hörspiel leise: Der kann morgen ruhig zum Fußballspielen kommen, sage ich, ist ja sonst eh keiner da von deinen Freunden. Oder?

Jan schmiert seine Rotznase ins T-Shirt. Das Handy in meiner Hosentasche quakt schon wieder. Mam. Sie kontrolliert, ob ich pünktlich vom See zurück bin. Alles klar bei euch, warum meldest du dich nicht? 

Wenn du willst, leihe ich dir auch mein Handy, bis die Schule wieder anfängt, sage ich zu Jan. 

Spinnst du!?, schreit er. 

Ich schüttle den Kopf. Jan strahlt. Ich mache ein Foto von ihm. Alles bestens, schreibe ich dazu und schicke es unserer Mutter.

Am nächsten Morgen hat der See 20 Grad. Gar nicht optimal für die Muskeln. Die Enten schnattern mich an und gehen aus dem Weg. Zehen eintauchen. Es tut fast weh. Das ist Wasser, sage ich zu den Enten, das ist manchmal kalt. Aber denen ist das ohnehin egal. 

Magst du darüber reden?, fragte Mam, als ich ihr erzählte, dass ich ein paar Wochen Handyferien mache. 

Nein, wollte ich nicht. Ich will nur meine Ruhe haben und trainieren. Die Jugendausscheidung schafft man nicht einfach so. Sie hat mich schief angeschaut. Als würde sie noch was suchen. Mütter suchen immer was. Nach Problemen oder Geheimnissen, ich weiß nicht. Dann strich sie mit der Hand über mein Haar, was ich überhaupt nicht ausstehen kann, weil ich kein kleines Kind mehr bin. 

Wie kurz die sind, da muss ich mich erst dran gewöhnen, sagte sie, und dass ich das im Blick haben solle mit Jan und dem Handy. Dass er nicht dauernd spielt. 

Was sollte er sonst mit dem Ding tun? WhatsApp ist deaktiviert. Das ist nichts für Achtjährige. Aber natürlich habe ich alles im Blick. Ich muss heute mit dem Kopf über Wasser trainieren. Der Westwind hat Dreck in die Bucht getrieben. Schwemmholz, Seegras, Plastikflaschen. Ich übe die Beinarbeit mit den Armen hinter dem Rücken. Die Hände flach auf dem Hintern stoße ich mich voran, nutze den Vortrieb, um die Atmung zu regulieren. Damit habe ich wirklich manchmal Probleme. Und mir ist egal, wenn Simon sich jetzt bei mir melden will und im Nirwana landet. Ohne Handy bist du draußen, tot, richtig tot. Simon schuldet mir noch ein Eis, weil ich die meiste Arbeit beim Amphibienreferat gemacht habe. 

Ich schwimme. Kippwende. Brustzug und Beinschlag beschleunigen. Das Wasser schlägt über mir zusammen. Es ist zu kalt. Es tut weh am Kopf. Der Wadenkrampf kommt erst, als ich in die Pedale trete. Ich fahre das letzte Stück einbeinig heim. 

Das Knallen des Fußballs höre ich schon von weitem. Nuri ist wieder da. In seinen neongelben Shorts. Ich schmiere den beiden Nutellasemmel zum Frühstück und lasse sie fernsehen. 

Morgen gehen wir zusammen ins Strandbad, sage ich, Nuri, darfst du mit ins Strandbad? Dort gibt es Pommes zum zweiten Frühstück. 

Jan hebt den Daumen hoch, ohne vom Fernseher wegzuschauen. Nuri nickt und grinst. Wie immer. Und es sieht ganz echt aus. Unglaublich, wie kann der so glücklich aussehen? 

Du Frosch! Du Memme!, sage ich laut, als ich am Garderobenspiegel vorbeilaufe. Es ist niemand im Flur außer mir.

Das Becken im Strandbad ist klein, dafür hat das Wasser 25 Grad. Fast Wettkampftemperatur. Ein Mann krault auf der rechten Seite, sonst ist so früh am Morgen nichts los. Ich wärme mich am Beckenrand auf und übe zuerst mit wechselnder Beinarbeit, anschließend drehe ich mich auf den Rücken. Die Arme seitlich am Kopf vorbei nach oben strecken, die Hüfte stabil halten. Die Beine kicken so kräftig wie möglich. Das Wasser rauscht. Das sind die Körper, die es verdrängen. Ich habe wieder mal die Ohrstöpsel vergessen und höre sogar das hohle Scheppern des Torpfostens, wenn der Ball dagegen donnert. 

Nach einer Dreiviertelstunde mache ich Pause und schwimme zum Floß draußen im See. Die Enten machen mir tonlos Platz auf den Planken. Das Holz ist warm an den Schenkeln, am Bauch, am Gesicht. Das Gluckern unterm Floß wäre was für Simons Soundsammlung. Vielleicht fahre ich mal vorbei, um ihm das zu sagen. Irgendwann. Später. Handy ist einfacher als irgendwo vorbeizufahren und jemandem etwas zu sagen. Aber ich habe keins. Ich müsste ihn ansehen. Simon. Ein Gesicht dazu machen. Das richtige Gesicht dazu zu machen, ist das Schwierige daran.

Jan und Nuri rennen auf dem Badesteg hin und her. Natürlich fliegt der Fußball in den See. Jan hüpft hinterher wie ein Frosch und fischt ihn raus. Ich schließe die Augen. Im Trainingsbecken in der Schwimmhalle springen sie gerade von den Startblöcken. Am anderen Beckenende steht Frau Kramer mit ihrer Stoppuhr. Das ist Wasser. Schwimm doch!, ruft sie, wenn eine nicht schnell genug ist. Und ich habe keinen Quatsch über Linda erzählt, sage ich zum Floß, das bloß leise gluckst. 

Schwimm, Nuri, hol ihn! Schwimm doch!, schreit Jan. Als ich mich aufsetze, steht mein Bruder am Ende des großen Badestegs und starrt hinunter ins Wasser. Der Fußball treibt auf den See hinaus. Nuri sehe ich nirgends. 

Das Wasser ist eiskalt auf der aufgeheizten Haut. Kraulen ist von allen die schnellste Schwimmart. Der Steg kommt trotzdem nur langsam näher. An seinen Pfählen wachsen grüne Bärte. Es sieht aus, als würde der Steg schunkeln. Weiter unten im Wasser wird die Sicht immer schlechter. Jans Beine zappeln über mir in Wolken aus Luftblasen. Nuri sehe ich nirgends. Mein Kopf beginnt zu dröhnen vom Sauerstoffmangel. Tauchen konnte ich nie gut. Bei den Pfählen ist ein heller Fleck, gelb vielleicht. Das Seegras kratzt über meine Arme. Dahinter ist es dunkel und trüb. Wo war der helle Fleck? Das Wasser trägt dich, es lässt dich doch nicht untergehen. Einen aus dem Krieg, einen, der es übers Mittelmeer bis hierher geschafft hat, schon gar nicht. Meine Lunge platzt gleich. Als wir auftauchen, spukt mir Nuri ins Gesicht. Mit einem Arm halte ich ihn fest. Er hustet und läuft dazu im Wasser wie auf festem Boden. Ich hebe das dünne Kind weiter hoch. Es drückt mich unter Wasser. Endlich spüre ich Schlamm unter den Zehen, Kies. Ich niese See aus der Nase. Nuri sitzt still auf den Steinen am Ufer und streift etwas Grünes von seinen neongelben Shorts. 

Ich wusste das nicht, heult Jan und lässt sich neben uns fallen, ich wusste das doch nicht. 

Den Fußball hat Jan gerettet. Ich bekomme immer noch keine Luft. Wenn ich wieder welche bekomme, steche ich ein Messer in seinen Scheißball. Nuri leckt sich die Lippen, den Blick irgendwo auf dem See. Und grinst. Unglaublich. Da war die kleine Kröte fast draußen aus dieser Welt, tot, richtig tot. Und grinst.

Jan boxt in Nuris Schenkel: Bist du bescheuert?! Wieso springst du ins Wasser, wenn du nicht schwimmen kannst? 

Schwimm oder tot, krächzt Nuri und lächelt mich an. Du sehr schnell.

In meinen Ohren knackt es. Jetzt in beiden.

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