26. Münchner KG – Wettbewerb // Eingereichte Kurzgeschichten
Joshua Beer
Schwellengeruch
In meiner Stammkneipe fragte mich mein Einschenker einmal: „Was ist bei dir eigentlich Heimat?“ Ich sah und hörte alles nur durchs Bier, das meiste sank so weg, doch diese Frage riss mich hoch. Heimat, das ist nicht leicht zu fassen, das zerfällt einem so, dachte ich. Aber ich sagte: „Heimat, das ist wie auf der Türschwelle zu stehen, rausgehen zu wollen, eine schwere Tasche in der Hand, von der du gar nicht weißt, was drin ist. Und von draußen weht es rein, die Tür steht offen, du kannst gehen. Es weht und duftet auch bestimmt, doch immer wenn du riechst, hat der Gestank von drinnen schon alles aufgesaugt.“ Ich denke nicht, dass mein Einschenker das wissen wollte. Aber ich wollte es wissen.
Jetzt ist die Kneipe zu und niemand fragt mich mehr durchs Bier. Den Einschenker gibt es draußen nicht und Stammgäste auch nicht. In der Pandemie ist all das fort. Die Umstände sind prekär, hört man. Keine Arbeit, aber Sonne und ich sitze draußen auf dem Stein und schaue hoch zu meiner Wohnung und warte, bis ich sie nicht mehr bezahlen kann. Heimat, das zerfällt einem so, denke ich. Und dann muss man nachtasten, um noch was zu finden. Die Menschen, die es in der Pandemie gibt, kehren in ihre Familien zurück. Da ist Platz, da will man sie, in der Pandemie. Familie ist Schutz ist Geborgenheit, heißt es. Meine ist irgendwo in einer Chatgruppe. Was war sie mir als Kind? Ein Brennen in der Kehle und Juckreiz in den Augen, Zigarettenrauch und Hustgeräusche, heiße Schlangen auf dem Rücken, Flaschen im Flur und Flecken im Teppich, Verdunkelung, auf Zehenspitzen gehen und saure Milch, immer der Geruch von saurer Milch in der Mozartstraße 10. Ich muss zurück. Die letzten Nachrichten sind kaum verheilt. Muss sehen, was noch übrig ist.
Am Bahnhof holt mich niemand ab. Hast doch zwei gesunde Füße! Leider auch Gepäck. Es fährt nichts und als dann auch der Zug verschwindet, ist alles still und ohne Regung. Die Sonne strahlt. Ich sehe rechts den Mühlenberg und denke an Oma, denke an ihr altes, schiefes Haus dort oben auf dem Rücken. Familie, das ist nicht nur Mozartstraße, das ist immer auch ein bisschen Mühlenberg. Den Weg zu Oma kenne ich in jeder Krümmung, wir rannten früher hoch, sobald wir durften, manchmal jeden Tag. Jetzt hält mich das Gepäck hier unten, doch ich fürchte mich auch vor dem Berg.
Die Mozartstraße ist farblos. Früher malten wir sie voll mit bunter Kreide und hofften, dass es ewig blieb. Der nächste Regen wusch es weg. Das Haus der Eltern steht noch da, gegen meine stille Hoffnung. Die breite Einfahrt und darauf der breite BMW vor der Garage. Das Grundstück eine einzige Einfahrt hin zu einem kleinen Haus. Zu allen Seiten sind die Fenster dicht. Mutter ist lichtempfindlich.
Vater öffnet mir. Weit kommt der nich allein da draußen. Er steht im Türrahmen, breit wie sein Auto. Die Haare sind fast weg, die Haut papiern und eingefallen das Gesicht. Kalter Rauch in seinem Hemd, wie früher und auch das Grinsen ist dasselbe. Mein Blick sucht seinen Gürtel, über den der Bauch sich wölbt. Doch ich erkenne die Schnalle, ich erkenne sie gut. Die Schnalle mit dem Hundekopf. Wir stehen da, er auf der Schwelle und hinter ihm das Heim, daraus ganz sanft und stechend sein Geruch. Saure Milch, immer saure Milch. So stehen wir und dann sitzen wir drin.
Erster Anlauf
Die Stube hat die alten Möbel, nichts ist verrückt und nichts hinzugekommen. Die Teller mit Blumenmustern an den Wänden, der Fliesentisch mit Aschenbecher, das braune Sofa. So fest sind die Dinge nun an ihren Plätzen, dass die Stube alles Neuartige abstoßen muss. Mich leider nicht. Mein Körper fügt sich in die alte Stelle auf dem Sofa, linke Ecke. Der raue Stoff reizt meine Augen so wie früher. Ständig ist das Kind erkältet. Ich kratze an dem Stoff und reiße kleine Fäden raus. Mutter öffnet Schnapspralinen. Alles ist im Gelbstich, die Tapete vom Rauch, der Raum vom fahlen Licht, das durch die Rollos dringt.
Vater hat mein Gepäck genommen, hat es durch die Diele gezerrt, an den leeren Milchkartons vorbei und den Flaschen, die so klimpern, fortgeschafft hat er es in eines der Zimmer. Mutter beißt in die Schnapspralinen und schlürft sie aus. Ich will „Mama“ sagen, doch ich durfte nie. Mama sagen die Gossenkinder. Kinder, mit denen wir heimlich spielten. Sie lächelt mich an, ihre Freude ist echt. Aber du bist was Besonderes. Mit ihren langen Fingern streicht sie mir durchs Haar. Gleich geht sie in den Keller, um Likör zu holen. Vater ist schon in der Garage. Ich denke an den Mühlenberg und fürchte mich.
Die Haustür ist unverschlossen und ich stehe auf der Schwelle, es weht rein und duftet frisch. Als sei ich schon Jahre hier im Mief. Ich gehe, gehe den Mühlenberg rauf. Als wir ihn als Kinder hochrannten, nervte jede Biegung nur. Der Asphalt war grob, der Bordstein hart und wir schlugen uns die Knie wund. Schotter im Blut, das kriegte Oma oben rausgewaschen. Marie war vorne, führte an, ihre Stimme überall im Wind. Flenn halt nicht! Sie hatte die meisten Pflaster auf den Beinen. Uwe hintendran, wollte nicht der letzte sein und war es immer, die Schnürsenkel flatterten im Lauf, denn niemand band sie ihm. Nur Oma.
Der Asphalt reicht mir heute nicht mehr an die Knie. Oben merke ich, dass ich keuche und ich setze mich auf den Bürgersteig, schaue auf die Stadt hinab, die friedlich in der Sonne liegt. Damals machten wir keine Pause und schauten auch nicht nach der langweiligen Stadt. Marie trieb uns an. Denn Omas Haus war nicht mehr weit. Es war der Rand der Stadt, nicht mehr Teil der Stadt. Die Sommer waren am schönsten, Oma goss die Blumen im Vorgarten oder saß zwischen ihnen auf der Bank. Rennt doch nicht immer wie die Wilden. Die Blumenkübel standen kreuz und quer auf dem Weg zum Haus und man musste sich durchwinden. Die Tür war angelehnt, aber wir durften nicht hinein. Das war das Verbot von Mutter. Sie sprach es oft aus und verhörte uns manchmal einzeln, wenn wir zurückkamen. Die Frau ist eine Hexe, das versteht ihr nicht. Ich verstand, dass Hexen Kinder stehlen. Aber Oma? Die Frau will euch mir wegnehmen. Wir durften trotzdem zu ihr, weil Vater es erlaubte. Er hatte seine Ruhe, solange wir oben waren, bei der alten Schachtel. Doch kein Schritt ins Haus! Nicht länger als 6 Uhr! Marie und Uwe nahmen das Verbot hin. Wir brauchten nicht ins Haus. Wir liefen drumherum und in den Garten, in das Wäldchen dahinter, unser Wald. Wir kletterten die Bäume hoch, es gab verschieden schwere, Uwe kam nicht weit und hatte Angst, Marie testete die Äste in der Krone. Der geht und der auch, der nicht. Die Rinde kratzte an den Händen und wir stießen mit spitzen Stöcken hindurch, bis wir vom Harz klebten. Baumblut sagten wir, es roch sehr würzig und wir bekamen es nicht runter, auch nicht mit Wasser aus Omas Pumpe. Wir pumpten fleißig in den Garten, dass der Rasen schlammig wurde, stiegen barfuß in die Pfützen und spritzten Uwe, bis er schrie. Lasst doch den Jungen mal in Frieden. Um Omas Haus herum Geruch von Zimt und warmem Teig im Ofen. Wir blieben nah, sodass wir riechen konnten, lösten Brocken aus dem morschen Gartenzaun. Ihr haut euch noch Splitter in die Finger. Der nackte Fuß im Ameisenhaufen, tausendfaches Zwicken. Und überall die Erde, auf dem Arm und im Gesicht in Krusten. Dann kam der Kuchen raus. Oma schnitt ihn, aber erst, wenn wir stillsaßen, wenigstens für einen Augenblick. Sie nahm nie selbst ein Stück und setzte sich nur neben uns. Werdet ihr erstmal satt. Hexen locken Kinder mit Kuchen, wusste ich. Ich sah sie nie genauer als beim Kuchenessen, die Furchen im Gesicht und Flecken am Hals, das Lächeln, die hellen Augen und das Haar schneeweiß im Sonnenschein. Wir sprangen auf den Stühlen und aßen um die Wette. Uwe konnte kaum vor Lachen. Die Sommer waren am schönsten.
Der Mühlenberg ist heute anders. Überall sind neue Häuser an den Hang gebaut, mit hohen Fensterfronten und weiten Terrassen. Ich finde mich nicht zurecht, erkenne kaum was wieder und laufe immer wirrer. Eine Katze huscht vorbei. Einmal, da jagte ich bei Oma einer Katze nach, sie war ganz grau und noch sehr jung. Marie und Uwe sammelten Blätter im Wald und Oma war im Garten eingenickt. Die Katze rannte nach vorn, zwischen den Blumenkübeln umher und dann das Treppchen hoch zur Eingangstür und durch den Spalt hinein ins Haus. Ich sprang ihr nach und hatte die Tür schon aufgestoßen, da ging ein Ruck durch mich und ich stand still, stand auf der Schwelle und war festgefroren. Die Katze lief den Flur entlang, ein langer Flur mit alten Fotos an den Wänden. Ich wurde schwitzig und mein Herz pochte, pochte bis zum Hals. Ich wagte kaum zu atmen, fühlte mich hineingezogen, doch ich stand nur einfach, bis ich Uwes Stimme hörte. Ein zweiter Ruck und ich sprang zurück das Treppchen runter. Uwe blickte mich erschrocken an und Marie verschränkte ihre Arme. Mutters Verbot hing über uns. Da merkte ich, dass ich auf der Schwelle vergessen hatte, zu riechen. Der Geruch von Omas Haus war mir entgangen.
Die Katze von heute ist weiß, nicht grau. Ich will ihr folgen, doch als sie mich bemerkt, kommt sie zu mir und streicht um meine Beine. Vaters BMW fährt vor. 6 Uhr, es ist Zeit, heimzukehren.
Zweiter Anlauf
Nicht immer waren wir pünktlich zuhause. Leise öffneten wir dann die Tür und schlichen auf unsere Zimmer. An guten Tagen war Vater in der Garage. An dem Tag aber, als ich auf Omas Schwelle stand, saß er in der Stube mit rotem Kopf im Zigarettenqualm und schnaubte. Wir wussten, was das hieß. Marie und Uwe verpetzten mich. Ich war ihnen nicht böse, hätte doch dasselbe getan. Einer büßte für die andren mit, so traf es alle mal. Vater packte mich, obwohl ich längst nicht mehr davonlief. Doch das Packen gehörte dazu und das Knallen der Tür, das Zerren durch den Raum. Er streifte seinen Gürtel ab und legte ihn vor uns auf den Tisch. Tippte zweimal mit der Fingerspitze auf den Hundekopf der Schnalle, dass es klackte, die linke Hand umfasste meinen Hinterkopf und richtete den Blick, wohin er sollte. Weißt du, wie man einen Hund erzieht? Er faltete den Gürtel, schlug einmal an die Kante, dass es knallte, und dann in meinen Rücken. Heiß krochen die Schlangen über meine Haut, die Zahl der Schläge schwankte stets. Am Ende musste Vater husten und ließ ab. Jetzt schleich dich. Ich lief ins Badezimmer vor den Spiegel, hinterrücks und zog das T-Shirt hoch. Mit den Fingern fuhr ich die roten, warmen Striemen entlang, folgte der Spur der Schlangen und erst, als ich alle so weit abgefahren war, wie mein Arm reichte, goss ich kaltes Wasser drüber.
Nach Vaters Strafe war das Haus besonders still und ich wollte nichts mehr essen und nur schnell ins Bett. Doch der Weg vom Bad zu meinem Zimmer führte am Gästeraum vorbei, wo Mutter abends saß und trank, wenn sie sehr traurig war. Ich wollte nicht zu ihr, wenn sie so traurig war und ging auf Zehenspitzen. Manchmal sah sie meinen Schatten durch die Glastür und rief mich hinein. Komm und schmus mit mir. Sie schloss mich in die Arme, ihr Mund roch nach den Flaschen überall im Zimmer. Vor dem Fenster hingen Laken und der Teppich war voll Flecken. Erst wenn sie schlief und sie schlief schnell, schlich ich hinaus. Wenn Vater mich bestraft hatte aber, dann gab sie mir was gegen die Schmerzen. Ich wollte nicht und weinte und presste die Lippen zusammen. Doch sie tat was in ein Glas und setzte mir das an den Mund und drückte. Nur ein Schluck, der tut dir Wunder. Sie drückte, den Arm um meine Schultern, bis ich es nahm. Wie Wasser sah es aus, doch es biss und brannte in der Kehle und wollte nicht hinab, so sehr ich schluckte. Die Tränen kullerten, vor Schmerz und Scham, und dann weinten wir, beide zusammen eng umschlungen in der Dunkelheit des Zimmers.
Marie war die erste, die ausbrach, dann ich und Uwe blieb zu lang. Als ich aus der Familie floh, kam die Freiheit, sie war groß, so groß, dass ich an ihr zerschellte. Die Familie lebte fort im Chat, doch Oma war in keinem. Vater räumte sie ins Altenheim und ich besuchte sie, am Anfang. Ihr Haus stand leer, Vater hatte damit Pläne. Ich fuhr nie hin, kein Mühlenberg und keine Mozartstraße mehr für mich. Dann kam das Virus und bevor ich wusste, dass es kam, war es bei Oma. Nur ein Husten, leichte Grippe. Dank euch leb ich noch ewig. Ich sah sie dann im Videochat. Sie winkte in die Kamera und lächelte, das Haar ganz grau und dünn, die Furchen tiefer im Gesicht und die Flecken dunkler, doch die Augen hell wie damals. Wir lachten und sie wollte etwas sagen, ich verstand sie nicht und die Pflegerin wiederholte es, doch falsch, weil Oma nicht so sprach. Dann fror das Bild ein und ich klappte meinen Laptop zu. Drei Tage später war sie tot.
Familie, das ist nicht leicht zu fassen. Uwe schrieb seit langem wieder in die Gruppe. Das mit Oma tat ihm leid, doch sie sei alt gewesen und das Virus ja erlogen. Er schrieb Rothschild, lest mal nach und dann noch Links zum Nachlesen. Ich weiß nichts über ihn. Marie schrieb selten von der Arbeit aus der Klinik, sie durfte auch nicht heim. Die bringt uns nur die Seuche ins Haus. Ich durfte. Das lag an Mutter. Sie will den Sohn zurück, mit dem sie eng umschlungen weinte. Wer mag ihr das schon übelnehmen?
Doch heute kann ich trinken. Sie hat den Wodka hochgeholt und Doppelkorn, alles klar und rein im Glas. Wir brauchen nicht ins Gästezimmer, sitzen in der Stube, die Rollläden oben und die Fenster aufgerissen, die Nacht drängt herein. Kalte Luft und heißer Kopf, wir stürzen Glas um Glas, in den Pausen zirpt die Dunkelheit, dann gießt sie nach. Vater dreht Runden mit dem BMW, er wird beim Mühlenberg Wache halten, den Weg zu Omas Haus versperren. Mein Platz ist auf dem braunen Sofa, linke Ecke. Die Fingernägel graben in den Stoff, doch der Rausch betäubt den Juckreiz. Die Blumen tanzen auf den Tellern, ein paar Gläser mehr. Mutters Augen werden leerer, langsamer ihr Griff zur Flasche. Ich trinke, was sie gibt. Dann sinkt sie tief in ihren Sessel. Ich schütte weg, was übrig ist, die Nacht schluckt gut. Mutter wäre stolz auf sie. Da greift sie schwach nach mir, mit langen Fingern, so wie damals. Wenn du gehst, hab ich nichts mehr im Leben. Ihre Hand fällt von mir ab.
Brennend renne ich durch die Stadt, weg von Mozart und versteckt vorm Vater, den Schnauben seines BMWs und den Scheinwerfern wie Suchlichter in der Nacht. Ich kenne einen geheimen Weg zum Mühlenberg, von früher, ein kleiner steiler Pfad den Hang hinauf. Wir kennen ihn blind und ich schließe die Augen. Disteln und Dornen, Brennnesseln so hoch wie wir, es kratzt und beißt und krabbelt. Flennt halt nicht. Am Ende geht es schnell, am Ende ist da Omas Haus, älter und schiefer denn je, die Pumpe im Rost, der Zaun verfault. Und vorne die Kübel, zerstückelt, zerhauen, die Tür gebrochen und schief in der Angel, ich renne hinauf, das Treppchen zur Schwelle und stehe still. Der Flur dahinter finster und kahl sind alle Wände, ich zittre. Da huscht was Weißes durch meine Beine hinein den Flur entlang in eines der Zimmer. Das muss die Katze sein. Ich trete ein.
Und ich kann atmen. Das ist sie, die Heimat, um die ich mich stets drehte wie ein Planet um seine Sonne. Jetzt stürze ich in sie mit Feuer im Kopf. Die Luft, sie lodert, sie trägt auch was Vertrautes, ich rieche, taste nach. Ein Stechen doch, ich folge ihm. Erst sanft, dann grob, ein Stich von saurer Milch. Ist das der Rausch? Doch da bemerke ich die Quelle, die Kartons, haufenweise unter Staub. In der Küche, da wo Oma Kuchen buk, ja backen musste, wo denn sonst, ist der Geruch ganz scharf. Ihre Formen liegen auf dem Tisch, verbeult, verstaubt und die Katze hockt daneben, fauchend gegen mich. Ihre Tatze krault den Hundekopf, die Schnalle. Vaters Gürtel, zart gefaltet, liegt bereit. Wir wissen, was das heißt.