26. Münchner KG-Wettbewerb, 1. Platz und Jurypreis: Yelena Schröder – drei Uhr fünfzehn

Als der Anruf kommt, sitze ich auf der Toilette.

Ja, hallo? – 

Wo bist du?

… – Auf dem Klo.

Zu Hause oder auf der Arbeit?

Zu Hause – warum?

–––

Nico hat die Nacht bei mir verbracht, wir kennen uns erst seit wenigen Juli-Tagen, können die Hände nicht voneinander lassen, obwohl das Thermometer 36 Grad anzeigt.

Wir sitzen auf meinem kleinen Balkon, sommerlich frisch verknallt, frühstücken zu spät und blödeln herum, in der beruhigenden Gewissheit darüber, dass heute Sonntag ist und es nichts mehr zu tun gibt, nur leben. 

Er nimmt meine Hand und führt mich hinein, ins Schlafzimmer, wo die Bettlaken noch schläfrig zerknautscht von der vergangenen Nacht auf uns warten. 

Ich sinke auf die Matratze, lasse meinen Körper von Küssen bedecken, hingebungsvoll im sanften Luftstrom des Ventilators, der verzweifelt versucht, gegen die nachmittägliche Hitze anzukämpfen.

Als der erste Anruf kommt, haben wir Sex. Mein Handy liegt auf dem Esszimmertisch und ist auf lautlos gestellt.

Während ich so da liege, er über mir, und sein schönes Gesicht betrachte, muss ich lächeln. Ich war schon lang nicht mehr so glücklich, denke ich.

Als der zweite Anruf kommt, liegen wir da, nackt, verschwitzt, zufrieden. Das Handy bleibt stumm.

Eine halbe Stunde später. Ein Blick aufs Handy, zwei Anrufe in Abwesenheit.

–––

Als der dritte Anruf  kommt, sitze ich auf der Toilette. 

– Ja, hallo? 

Wo bist du?

… – Auf dem Klo.

Zu Hause oder auf der Arbeit?

Zu Hause – warum?

… – Bist du allein?

Nico ist da. Warum?

Irgendwie schaffe ich es, aufzustehen, meine Shorts hochzuziehen, abzuspülen. 

In meinem Kopf bildet sich ein Vakuum, ein Loch, ausgekleidet, ausgestopft mit Watte, sie quillt zu meinen Ohren hinaus, zu meinen Augen, versagt Hören und Sehen. 

Laute und Stimmen sind nur noch monotones Rauschen, weit hinten in einer Blechtrommel, mein Spiegelbild, meine Wohnung, Nicos Gesicht verschwimmen zu blinden Flecken ohne jegliche Farbe und Kontur. 

Mit dem Handy am Ohr stolpere ich in die Küche, will, muss mich setzen. Breche auf dem Küchenstuhl zusammen, stammele und wimmere vor mich hin.

Nein.

Nein.

Nein, nein, nein.

Nein, das stimmt nicht.

Nein, das ist nicht wahr.

Nein.

Nico steht hilflos da, weiß nicht, was tun, weiß nicht, was los ist, was los ist in mir. 

Wir kennen uns erst seit wenigen Juli-Tagen. 

Zwei Anrufe in Abwesenheit, zeigt mir mein stummes Handy an. 

Mama.

Sicher Stress mit ihrem Freund, sage ich vor mich hin, und nehme das Handy mit zum Pinkeln.

Alles okay?, tippe ich und in der Kloschüssel plätschert es vor sich hin.

–––

Als der dritte Anruf von Mama kommt, sitze ich also auf der Toilette.

– Ja, hallo? 

… – Auf dem Klo.

Zu Hause – warum?

Nico ist da. Warum?

Und dann Mamas seltsam gefasste, tonlose Stimme.

Und ich will nur noch schreien.

Nein.

Nein, nein, nein.

Das ist nicht wahr.

NEIN.

Ich lasse das Handy fallen, sinke in mich zusammen, plärre wie ein kleines Kind. 

Nico kniet sich zu mir herab, umfasst meine Arme. Ich zittere am ganzen Körper, bin nur noch Rotz und Wasser und schlotternde Gliedmaßen. 

Nein, bitte.

Das kann nicht wahr sein.

Mama sagt, Ich mach keine Scherze bei so was.

Bitte nicht.

Ich liege da und weine – heule, schreie, tobe. Nico ist da und hält mich, erinnert mich daran, dass ich atmen muss, atme, los, atme! 

Und immer nur

Nein.

–––

Als der dritte Anruf von Mama kommt, sitze ich auf der Toilette.

Ich kann mir keinen alberneren Ort vorstellen, um einen solchen Anruf entgegenzunehmen.

Ich kann mir überhaupt keinen Ort vorstellen, um einen solchen Anruf entgegenzunehmen.

Zwei Anrufe in Abwesenheit. Sicher Stress mit ihrem Freund.

Ich tippe. Alles okay?

Mamas Name erscheint auf dem Display. Dritter Anruf.

Mama. 

Nichts ist okay.

In der Toilettenschüssel plätschert es vor sich hin.

Ja, hallo?

Nico ist da. Warum?

Und dann Mamas seltsam gefasste, tonlose Stimme, irgendwo von ganz weit her, aus einer anderen Welt.

Dein Bruder hat sich das Leben genommen.

–––

Irgendwie haben wir es alle erwartet.

Irgendwie haben wir alle damit gerechnet.

Irgendwie haben wir es alle nicht wahrhaben wollen.

–––

In der kleinen Straße stehen Sanitäter, Feuerwehrmänner und Polizisten. Alle schauen betreten zu Boden. Alle wissen nicht, was sagen.

Seine Wohnung wird versiegelt, der Rettungswagen fährt ab. Eine junge Polizistin tritt nervös auf der Stelle herum und erklärt den weiteren Ablauf. 

Sie kommt mit in Mamas Wohnung. Sie stellt Fragen. 

Es könnte auch Fremdeinwirkung gewesen sein, sie müssten diesen Fall miteinbeziehen, Vorschriften, tut uns leid. Mama nickt. 

Später denkt sie, sie hätte der Polizistin ein Glas Wasser anbieten sollen. 

–––

Es gibt kein Warum, es gibt kein Wie.

Allen ist klar, was passiert ist.

Es gibt keine Worte und ich bleibe stumm. 

–––

Ich fahre nach Hause zu meinen Eltern, Nico verabschiedet mich an der Haustür. 

Ein Abschiedskuss, Verunsicherung in allen vier Augen ist groß.

Melde dich, sagt er und legt die Hand zärtlich und zugleich unbeholfen auf meinen Arm. 

Ich melde mich, sage ich.

In den nächsten Wochen hören wir selten voneinander.

Nach der Zugfahrt wartet Mama am Bahnsteig auf mich. Als sie mich umarmt, fürchte ich, meine Rippen könnten zerbrechen, so verzweifelt drückt sie meinen Körper an sich. 

Ich möchte dich an mich kleben, flüstert sie und an ihren Wangen laufen die Tränen herunter.

Im Auto schweigen wir, alle Worte fehlen.

–––

Einige Utensilien haben die Polizisten mitgenommen. Die Plastiktüte. Klebebänder. 

Meinen Bruder haben sie auch mitgenommen.

Den Leichnam sicher stellen, nennt man das.

Mein Bruder ist jetzt ein Leichnam.

Auf dem Tisch liegen Notizen. 

Eine Art Anleitung, eine To-Do-Liste, mit dem Computer getippt – abgehakt, durchgestrichen, markiert, in den letzten Minuten eines Lebens. 

To-Die-Liste, schießt es mir in den Kopf.

Mir wird übel. Ich muss mich setzen.

Ein Post-It-Zettel daneben, mit hingekritzelten physikalischen Formeln, von denen ich nichts verstehe und ich kann mich wieder nur wundern, was für ein Nerd er war. 

Druckmessung Test.

Die wunderbar naive Klein-Jungen-Handschrift meines Bruders.

Zitternd streiche ich mit den Fingerkuppen über die Zeichen und Zahlen.

Der letzte Stichpunkt der Anleitung lautet 

Langsam tief ein- und ausatmen. (Bewusstlosigkeit sollte schnell, mindestens innerhalb von ca. 2 Minuten eintreten)

Darunter noch ein handschriftlicher Vermerk.

Start: 3.15 Uhr.

Die Rechnung der Stickstoffflasche finden wir in der Schreibtischschublade. 170,89 €. 

So viel kostet es, sich das Leben zu nehmen. Datiert auf den 15. September des vergangenen Jahres. Es ist Juli.
Im Zimmer ist es kalt.

Ein Zeitungs-Abo, sein Handy- und Internet-Vertrag wurden gekündigt.

Als würde man einen Umzug planen.

Ein benutzter Teller steht noch in der Spüle.

Auf dem Tisch liegen Umschläge. 

Mit Namen darauf. 

Es gibt drei Abschiedsbriefe.

Mama. Papa. Ich.

Mein Bruder hat sich das Leben genommen.

–––

Irgendwie haben wir es alle erwartet.

Irgendwie haben wir alle damit gerechnet.

Irgendwie haben wir es alle nicht wahrhaben wollen.

Und irgendwie konnten wir alle nichts tun, um es zu verhindern.

–––

Der Raum im Bestattungsinstitut ist finster und stickig. Es gibt Bänke wie in der Kirche, Kerzen brennen, die Fenster der schweren Eingangstür sind mit Buntglas verziert. Ich mag keine Kirchen.

Vorn der Sarg, er erschlägt mich. Und ich kann nicht umhin mir vorzustellen, wo sein Kopf liegt, sein Rumpf, seine Beine. 

Vorgestern mussten Mama und ich auswählen, welche Kleidung er tragen soll, dort drin. Auch die Unterwäsche. Wir haben zwei Stunden gebraucht und eine davon geweint.

Auf dem Sarg steht sein Foto. Da ist er einundzwanzig, er sieht so gesund aus, so voller Leben noch.  Da war so vieles möglich. Danach ein Albtraum.

Ich erinnere mich an den Moment, in dem das Foto aufgenommen wurde. Ein Ausflug nach Strasbourg; in der Altstadt rasten wir auf einer Bank in der Sommerhitze. 

Da sind nur wir beide unterwegs, Bruder und Schwester.

Verwandte kommen, alte Freunde, ich möchte nicht mit ihnen reden.

Ich trete hinaus aus dem stickigen, finsteren Raum, in den Vorraum des Bestattungsinstituts, durch die Tür auf die Straße. Draußen heiße Luft und heile Welt und strahlend blauer Himmel, Sonnenlicht blendet mich und ich verstehe nicht, wie das sein kann – Sonne scheint und mein Bruder liegt im Sarg.

Irgendwas ist falsch.

–––

Und wir fahren ans Meer. 

Wie könnt ihr jetzt in den Urlaub fahren?, fragen ein paar Stimmen.

Wie können wir jetzt nicht in den Urlaub fahren?, fragen wir.

Die Stimmen bleiben stumm.

Mit seinem Brief im Gepäck fahre ich ans Meer, döse auf der Rückbank des Autos vor mich hin, stundenlange Fahrt, und früher saß hier jemand neben mir.

Mein rechter, rechter Platz ist frei, denke ich und schlafe ein.

Als ich erwache, taucht das Meer vor mir auf, türkis-blau und weit, ein stilles Versprechen. 

Ich weiß nicht, was es mir versprechen will.

 –––

Noch nie so viel geschlafen wie in den letzten zwei Wochen.

Dreizehn Stunden durchschlafen, ohne Unterbrechung, pure Erschöpfung. Wirre Träume.

Ein Tisch für zwei in einem kleinen Gastgarten, ich warte und weiß nicht, auf wen.

Die Beerdigung meines Bruders, er steht auch am Sarg. Steht da als Kind von fünf Jahren und starrt mit leeren, ungläubigen Augen den großen, schwarzen Kasten an.

Ich möchte zu ihm hin, meinen kleinen großen Bruder in den Arm nehmen, alles wird gut.

Doch ich kann mich nicht bewegen und bleibe bis Mittag im Bett liegen.

–––

Sonnenuntergang am Strand, der Atlantik braust und tobt und schleudert mir den sandigen Wind ins Gesicht.

Ich habe eine Decke dabei, eine Flasche Rotwein. Seinen Brief, drei dicht beschriebene Seiten Abschied.

Und ich lese.

Danke, dass du meine Schwester warst

steht da in der letzten Zeile.

As ich das Papier sinken lasse, fühle ich mich leer. Traurig und wütend. 

Wütend nicht auf ihn – wütend auf die Welt, auf das Universum, auf das Schicksal. Auf Gott, an den ich nicht glaube und jetzt noch viel weniger.

Er wollte sein Physikstudium abschließen, eine Lebensgefährtin finden, eine eigene kleine Familie gründen. Er wollte nicht viel.

Mein Bruder wird niemals Kinder haben, mein Bruder wird niemals Onkel sein. Ich werde niemals Tante sein und meine Kinder werden niemals einen Onkel haben, denke ich.

Ich schreie zum Himmel hinauf, ein schmerzerfüllter Laut.

Warum durftest du nicht leben, frage ich und der Himmel und die Welt haben keine Antwort für mich.

Die Sonne versinkt im Ozean und ich renne ins Wasser, ins Meer, sprinte und springe den Wellen entgegen, die versuchen mich umzuwerfen, aber gerade bin ich stärker.

Salzwasser des Atlantiks und Salzwasser meiner Augen vermengen sich und tragen mich, halten mich an der Wasseroberfläche. 

Am Leben.

–––

Seine Asche verstreuen wir in einem Wald nahe des Orts, in dem wir gemeinsam aufgewachsen sind. Das hat er sich so gewünscht.

Nur Mama, Papa und ich. Und mein Bruder.

Ich möchte etwas sagen, möchte am liebsten eine Rede halten für diesen Menschen, der mich so viele Jahre meines Lebens begleitet hat, den ich so viele Jahre seines Lebens begleiten durfte. 

Doch mein Mund ist schmerzlich trocken, Bilder und Erinnerungen und Träume und Wünsche in meinem Kopf wirbeln durcheinander und ich begreife, dass es vielleicht einfach keine Worte gibt für so etwas.

Keine Worte können ein Leben beschreiben.

Keine Worte können ein Leben beschreiben, das zu früh beendet wurde.

Keine Wort können solche Stärke und solchen Mut beschreiben.

Also stehe ich nur da und sehe zu, wie mein Bruder mit dem Abendwind davon getragen wird, wie er von der Erde wieder aufgenommen wird. 

Ich hab dich lieb, flüstere ich. 

–––

Ich kehre zurück nach Hause, allein, in meine leere, dunkle Wohnung, die Luft und die Zeit stehen still. Lasse meine Tasche unendlich schwer von den Schultern fallen, stehe verloren im unbeleuchteten Flur, gelähmt.

In der leeren, dunklen Küche setze ich mich an den Tisch. Will weinen, aber keine Tränen kommen.

Zünde eine Kerze an.

Luft und Zeit stehen still.

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Drei Wochen später macht Nico mit mir Schluss.

Wir kannten uns erst seit wenigen Juli-Tagen. 

Und irgendwie ist es egal.

Mittlerweile ist es September geworden.

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Ich kann mir nicht vorstellen, wie es weiter gehen wird, ohne einen Bruder an meiner Seite. Sechsundzwanzig Jahre und plötzlich ist ein Mensch nicht mehr da.

Einfach nicht mehr da.

Bin ich nun ein Einzelkind, frage ich mich.

Aber irgendwie spüre ich, da ist noch was. Ich weiß nicht, was.

Ich hätte das alles so gerne noch erlebt. Ich bin nicht gläubig, aber wer weiß, vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dass ich doch irgendwie dabei sein kann. Ich wünsche es mir sehr. 

–––

Irgendwie haben wir es alle erwartet.

Irgendwie haben wir alle damit gerechnet.

Und irgendwie haben wir es doch alle nicht kommen sehen.

–––

Manchmal noch nehme ich mein Handy und spüre den Impuls, ihm schreiben zu wollen.

Hey, wie geht es dir heute? Schon lang nichts mehr gehört. Hab dich lieb. <3 

Manchmal möchte ich ihm ein lustiges Foto oder ein Video schicken, dass ich entdeckt habe. 

Schau mal, ich dachte, das gefällt dir vielleicht. Haha.

Manchmal lese ich mir unsere Nachrichten im WhatsApp-Verlauf durch und weine und lache.

Schaue mir sein Profilbild an, da lächelt er beinah, auf diese typische niedliche Weise, bei der es erscheint, als habe jemand einen dummen Witz gemacht und er wolle sein Grinsen unterdrücken.

Starre minutenlang auf die leere Zeile unter seinem Namen und warte darauf, dass das Wort online erscheint. 

Und manchmal möchte ich ihm einfach schreiben

Danke, dass du mein Bruder warst.

–––

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