26. Münchner KG-Wettbewerb, 2. Platz: Martin Ahrends – Fliegende Straßenbahn
Einen Rest von Luftschiffhafen hatte so ein Airport noch zu bieten, als ich das letzte Mal geflogen bin. Das ist ewig her, und ich staune über die Ernüchterung, die in das Geschäft eingezogen ist. Profan wie an der Straßenbahnhaltestelle. Im überfüllten Bus karrt man uns aufs Flugfeld, es gießt aus Eimern. Die pitschnassen Passangers drängen sich im engen Inneren der Maschine um Sitz- und Ablageplätze. Alles glitscht und dampft. Nachdem ich vergeblich versucht habe, den Anderen nicht im Weg zu sein, hocke ich mit eng geparkten Beinen auf meinem Mittelplatz und suche unterm Gesäß nach den Gurten. Seit wann bin ich so schwer? Ein kurzer Seitenblick. Da sitzt eine bildschöne Frau, schon angeschnallt, den Kopf in ihre Jacke neben dem Fenster geschmiegt, sie bemerkt meinen Blick, lächelt kurz. Was für ein Blick. Durch und durch, sagt man. Dass es sich genau so anfühlt, hatte ich vergessen. Aber das war ihrerseits gewiss nichts Persönliches. Natürlich nicht. Die Sonne blendet ja auch und meint es nicht so. Ein Bildschirm klappt auf, wir erfahren alles Nötige über die Notlandung. Meine Nachbarin lehnt sich wieder in ihre Jacke und schließt die Augen. Ich bemerke, dass der Gangplatz leer geblieben ist. Wenn wir in der Luft sind, werde ich dorthin wechseln.
Der Flieger nimmt seinen Anlauf, meine schöne Nachbarin ist schon eingeschlafen. Sie ist nicht dabei, als wir abheben. Sie scheint sehr erschöpft zu sein. Wir klettern durch die Wolken, ich sehe von meinem Mittelplatz aus dem Fenster ins weißer werdende Grau und nehme auch die unruhig schlafende Nachbarin wahr. Ich spüre ihren raschen Atem. Träumt sie? Jetzt sehe ich ihre flackernden Lider, ihre zuckenden Hände, sehe darin die Spuren großer Gesten, die wohl aus dem Traum ausragen. Ihre langen übereinander geschlagenen Beine zucken, als wäre sie auf der Flucht.
Wir stoßen ins Helle, in gleißendes Licht. Um mich von ihr abzulenken fixiere ich das Anschnallzeichen, das immer noch leuchtet. Da wirft sie sich zu mir hinüber, wie man es im Schlaf eben tut. Nichts Persönliches. Sie schmiegt sich in die Rückenlehne zu meiner Seite, ihr Kopf sackt, da wir nun kaum mehr steigen, nach vorn. Sie schreckt zurück, erwacht aber nicht. Der Kopf sinkt wieder vor, baumelt. Halbwach sucht sie in den Ecken der Kopfstütze Halt. Rutscht mehrmals ab und landet plötzlich an meiner Schulter, denn die ist da, wo ihre Kopfstütze endet. Hoppla, Pardon, will ich grade sagen und abrücken. Aber sie schläft weiter. Ruhiger als zuvor. Lächelt sie?
Wenn eine Frau ihren Kopf an die Schulter eines Mannes lehnt, so hat das etwas zu bedeuten. Und genau so fühlt es sich an: Ich traue Dir, beschütze mich, behüte meinen Schlaf. Es ist nicht so gemeint, aber es fühlt sich so an. Zwei Stimmen beginnen in mir zu streiten: Du deutest die Situation falsch, und du weißt es. Eigentlich ist das ein Übergriff, was du da tust. – Aber ich tu ja nichts. Ich sitz hier nur herum, wo sich zufällig ihr Kopf eingefunden hat. Wenn schon Übergriff, dann ihrerseits. Ich bin nur der Lehnpfosten. – Es bedeutet dir aber viel mehr. Wann hat sich das letzte Mal eine Frau so bei dir angelehnt? Du missverstehst willentlich. Es ist ein Deutungsübergriff. – Aber so fühlt es sich nicht an: übergriffig. Eher: väterlich. – Du lügst. – Lüge ich? Und jetzt? Soll ich abrücken? Sie schläft viel besser so. – Darum geht es nicht. – Doch, darum geht es. – Du samaritischer Heuchler! – Was tu ich denn? Gar nichts. Ich sehe sie nichtmal an. – Du siehst sie nicht direkt an. Aber aus den Augenwinkeln unternimmst du Spaziergänge von ihrem Kinn abwärts. – Ich? – Dein Unterbewusstsein. Bist du das nicht? Du nutzt ihren Schlaf aus, um dich an ihr zu vergehen. – Jetzt hör aber auf: Vergehen. Sie ist es doch, die sich an meiner Schulter vergeht. – Unwillentlich. Unbewusst. – Genau wie ich. – Eben nicht, du bist wach und nutzt ihre Situation aus. Schämst du dich gar nicht? – Nein. Ein bisschen, ja. Aber es wär schade um ihren Schlaf, schau doch, wie schön sie schläft. – Du hast kein Recht, sie so anzusehen aus der Nähe. Hast du gar kein Gefühl dafür, dass du eine Grenze übertrittst? – Und wenn ich es nicht so empfinde? Als Übertretung? Dann ist es keine. – Aber du empfindest es genau so. Mir kannst du nichts vormachen. Du spürst ganz genau, dass du etwas Verbotenes tust!
Na, und so weiter. Ich gebe der mahnenden Stimme recht, rühre mich aber nicht vom Fleck. Soll sie doch erstmal in Ruhe ausschlafen. Ich sitze, freilich etwas verkrampft, doch beseligt durch ihr unbewusstes Zutrauen und sehe aus dem Fenster, sehe aber nichts, denn alle Sinnesfäden laufen in diese Schulter und von ihr zurück, so dass mich Wärme und Heiterkeit durchwallen. Ich bin der Hüter ihres Schlafes. Nichts besonderes, sage ich mir, alles ganz normal. Aber es fühlt sich anders an: beglückend, heroisch. Als wäre ich ihr Mann.
Hinter dem Fenster strahlender Azur, der Kapitän sagt seinen Spruch auf, mit einem kleinen Gong verlischt das Anschnallzeichen. Jetzt könnte ich zum Gang hin wechseln. Müsste ich eigentlich um dieser fremden Frau nicht zu nahe zu treten. Aber ich bleibe noch. Einen Moment noch harre ich aus, erstarrt zum gepolsterten und beheizten Pfosten einer ansonsten dürftigen Bettstatt. Genießen dürfte ich es eigentlich nicht! Aber ich genieße es. Meine einzige Entschuldigung ist… Nein, es gibt keine.
Sie atmet tief und rasch. Die langen Beine zucken, wie man es so auch von träumenden Jagdhunden kennt. Nur ist es Eines, einem Hund beim Träumen zuzusehen. Und ein Anderes, wie diese Frau träumt. Dicht an meinem Ohr, wegen des Fluglärms von niemandem sonst hörbar gibt sie Laut. Aus ihrer Mitte steigt es auf, wellt sich durch ihren Körper und läuft in die Glieder aus. Und in die Kehle. Sie knurrt. Sie röchelt. Sie bleckt die Zähne um ein Winziges, die Nüstern flattern. Sie knirscht, sie schmatzt. Intimitäten, die nicht hier her gehören.
Nun sehe ich nicht mehr an ihr vorbei. Ich gestatte mir einen unverschämt direkten Blick auf alles, was ich in meiner Lage von ihr sehen kann. Sehe ihr Kinn, wie es zu ihrem Hals wird und wie der Hals übergeht in diese Wölbung. Zartester Anfang von etwas, das mich – wie soll ich sagen: tief erschüttert. Was tu ich hier um Himmels Willen! – Aber ich tu doch gar nichts. Ich sitze auf dem Platz, der auf meinem Ticket steht und fliege nach Basel. Wie alle anderen auch. Was mich von ihnen vielleicht unterscheidet: Ich bin dankbar, dass keine Getränke verteilt werden. Dass uns jetzt niemand so sieht. Wir sind unter uns. Unter uns vielleicht die schwäbische Alp, über uns das All, so stehen wir in der Zeit, das Flugzeug ruht irgendwo zwischen Himmel und Erde. Und mir ist diese Frau anvertraut, die ich nun nicht mehr abtasten will mit meinen Blicken. Das gehört sich einfach nicht. Dahin vorzudringen. Also schaue ich aus dem Fenster. Bin aber nicht mehr der Herr meiner Augen. Die zucken mir weg, die sehen dann doch noch einmal kurz da hin. Himmel! Ihr Busen im tiefen Vibrato der Triebwerke. Täusche ich mich? Mein Blick dringt in die Spalten und Falten ihrer leichten Bekleidung vor zum Beginn jener Dunklung. Es könnte auch ein Schatten sein. Aber es ist kein Schatten. Mein Blick ist in die verbotene Zone vorgedrungen, ins Areal des Vorhofes. Mein Herz hämmert, in mir geht eine Schleuse auf, bis zu den Haarwurzeln werde ich angefüllt mit dringendem Liebkosenwollen. Ich schwelle, bin über die Schwelle, bin zu weit gegangen. Ich suche Ernüchterung. Lese, was über mir geschrieben steht. Lebenswichtige Dinge: Life vest under your seat. Das ist doch eine wichtige Mitteilung! Darauf sollte ich meine Gedanken richten! Auf die allgegenwärtigen Gefahren! Und die dazugehörigen Warnungen! Warzenvorhof! Was für ein albernes Wort. Und ich? Bin ja nicht mehr als ihr Bettprosten. Ihr Irgendwas zum Anlehnen. Aber hinter die Schwelle, die ich übertrat, kann ich nicht mehr zurück, ich bin ihr auf eine Art nahe gekommen, die irreversibel ist. Nicht ihr Mann, aber doch ihr Lehensmann bin ich, immerhin. Sie lehnt an mir, sie belehnt mich mit ihrem unbewussten Zutrauen. Warum soll ich sie nicht anschauen dürfen ohne die alberne Scham. Warum kann ich meine Pfostenlage nicht als ein Geschenk annehmen? Ich nehme niemandem etwas weg, wenn ich meine zufällig privilegierte Lage, mein Upgrade genieße. Es gibt nicht so viele Upgrades in meinem Leben. Warum muss ich mich bestrafen statt dafür dankbar zu sein, frage ich mich, einfach dankbar und sonst gar nichts. Die zweite Stimme in mir will entgegnen, schweigt jetzt aber, stimmt mir sogar zu: Was für ein Geschenk, wenn du es annehmen kannst statt dich als Räuber zu fühlen. Du armer alter Frauenfürchter.
Jetzt lächelt sie im Schlaf, als gälte es mir. Ganz leicht wird mir. Ich danke dem Leben, schließe die Augen. In eisig dünner Luft und gleißender Helle stürzen wir durch den Himmel. Jetzt fliege ich wirklich. Und es ist alles richtig, genau so, wie es jetzt ist. Heilig und rein. Wie gern würde ich jetzt auch schlafen. Ich schließe die Augen und versuche, ihren Atemrhythmus aufzunehmen. Ein-aus-ein. Sich zusammenatmen, das ist der Schmelzpunkt, wenn zwei Menschen sich mischen. Mit geschlossenen Augen bewusst atmend versuche ich, ihr in den Traum zu folgen, zu dem Großen hin, das sie jetzt erlebt.
Mir ist bewusst, dass ich mich da in etwas hineinsteigere. Aber letztlich macht diese fliegende Straßenbahn auch nichts anderes, als sich in etwas hineinzusteigern. In den Himmel eben. Richtig fliegen kann sie nicht. Mit aller Gewalt ein Stück durch die Luft donnern, das ja. Mit so viel Lärm und Abgas könnte das jede beliebige Straßenbahn, wenn sie ein paar Eisenflügel angeschnallt bekäme. Mit richtigem Fliegen hat das nichts zu tun. Beim richtigen Fliegen liegt man in der Luft, als läge man auf dem Bauch am Strand, und könnte sich dabei in aller Ruhe die Welt von oben begucken. Wer richtig fliegen kann, der kann hier oben spielen, kann Schleifen drehen ohne abzustürzen… Seit wann bin ich so schwer?
Das viele Metall um mich herum. Das muss einen ja runterziehen. Hinterm Bullauge die fetten Nieten in den Tragflächen sind mir vordem nie aufgefallen. Jetzt poppen sie auf und schießen in elegantem Bogen davon. Wie Sektkorken. Schlackerndes Blech bleibt zurück, wie soll das zusammenhalten? Klar doch, es sinkt ja schon wie es sinken muss, sackt wie ein löchriger Angelkahn in den dampfenden Dschungel hinein, wo wir von irgendwem erwartet werden. Im Land der tausend Augen. Ein leichter Ruck. Ich hänge an meinen Hosenträgern unter der beinahe abgerissenen Toilettentür im diffusen Licht des Urwalds. Ringsum starrt ES mich an, die blanken Äuglein der Insekten und Amphibien auf den Bäumen, unter Wasser, alle sehn mich an mit ihren verspiegelten Äuglein, die leblos scheinen, es aber nicht sind. Alle starren auf meine kurze Jungshose, ich kann nicht sehen, was da beim Absturz zum Vorschein gekommen ist. Was da jetzt unter mir baumelt. Nein, natürlich nicht ich. Nicht ich bin es, der da hängt, es ist Jean-Paul Belmondo bei seinem „Abenteuer in Rio“, gleich will ihn das Krokodil fressen. Nie bin ich es, immer ist es Belmondo und ich will es doch so gern sein. Da sein, wo er ist: in Paris, in Rio, in Brasilia. Aber er ist wirklich dort, ich hocke im muffigen Lichtspieltheater. Ein Gong ertönt, der mir bekannt vorkommt, aber kein Kinogong ist, ein zartes Dingdong. Das Kino wird eng, ich taste mich durch glibbrige Zuschauer zu diesem Leuchtzeichen hin: unlesbare grüne Schrift, ich rüttle an der Tür, gleich bin ich frei, draußen wird niemand auf meinen Innereien herumklimpern und gegen meinen Willen nacheinander die Gefühlstöpfchen umstoßen bis mir speiübel ist. Gleich bin ich draußen an der frischen Luft.
Der Anschnallgong. Ich schrecke auf. Atemnahe noch immer diese Frau, sie schläft tief und ruhig. Jetzt haben wir tatsächlich zusammen geschlafen, geht es mir durch den Kopf und dass diese Nähe zu einer wehrlosen Fremden Ähnlichkeit hat mit einem Sexualverbrechen. Fehlte nur der Austausch von Körperflüssigkeit, wie es die Gerichtsmediziner nennen. Ein Speichelfaden aus ihrem Mundwinkel findet eben den Weg zu meinem Jackenärmel. Sie besabbert mich. Mein Begehren zieht sich in die Eiskammer zurück, in der ich es sonst unter Verwahrung halte.
Turbulenzen bei der Landung. Da stöhnt sie auf, wirft sich wieder zum Fenster hinüber, stößt an, erwacht halb, zieht die abgerutschte Jacke unter den Kopf, sortiert die Beine… Blinzelt ins hellgraue Taglicht, schließt noch einmal die Augen. Trotz des Anschnall-Zeichens mache ich mich los und wechsle den Platz. Wir haben starken Seitenwind, eben ist die Piste aus dem Regen aufgetaucht. Wir schaukeln wie auf hoher See, dicht über dem Beton, ich mache mich ganz leicht und kneife die Augen zu… Dass diese famosen Räder das aushalten! Sie erwacht endgültig. Sieht mich an, was ich aus dem Augenwinkel bemerke. Ich blicke nicht zurück, das würde mich verraten. Nicht, als wir ausrollen, nicht, als wir uns nun wieder und wieder begegnen, auf der Gangway, im Bus, vor dem Gepäckband. Sogar vor dem Flughafen, draußen im Regen stehen wir wieder unfern voneinander und suchen ein Taxi. Sie sieht mich jedes Mal an, als wollte sie etwas fragen. Etwas Persönliches. Jetzt sucht sie in ihrer Tasche. Sie schaut nach, ob ich ihr etwas gestohlen habe, da bin ich mir sicher. Ich schultere meinen Reisesack und mache mich ohne Taxi auf den Weg durch Sturm und Regen irgendwo hin, nur weg aus ihren Augen, die sie auf mich richtet, seit sie erwacht ist, nur fort aus ihren offenen Augen.