26. Münchner KG-Wettbewerb, 3. Platz: Anna Hackl – Im Rücken das Ende
Simmi zittert, als sie die Kamera aufstellt. Ich sehe ihr ins Gesicht, sie schwitzt. Es ist heiß in Tijuana, schrecklich heiß.
„Trink mal was, wer weiß, wie lange das dauert“, sage ich und erkenne meine eigene Stimme kaum wieder. Eine Kälte, mitten in dieser Hitze. Ich zähle nach. Seit zwei Wochen sind wir hier. Vierzehn Tage, wie Urlaub eigentlich. Nur eben kein Urlaub.
„Simmi, ist alles okay?“, fragt Carla, die neben mir steht. Simmi nickt.
„Macht euch mal keinen Kopf um mich, gleich ist Showtime“, sagt Simmi, „da haben wir andere Sorgen. Und außerdem haben wir dann das Wichtigste hinter uns.“ Recht hat sie. Carla räuspert sich neben mir. Ich sehe sie an und mir wird noch wärmer.
„Nicht vergessen“, sagt Carla zu mir, „rede nicht zu schnell, die Leute haben genug von gringos, die sie volltexten.“ Ich nicke gehorsam.
Der erste Mann, der hereinkommt, trägt eine Mütze, auf der Kentucky Derby 2003 steht. Er gibt erst Carla die Hand, dann mir, dann nickt er Simmi hinter der Kamera zu.
„Bitte, Herr Álvarez, setzen Sie sich doch.“
„Don Álvarez, si quiere, siéntese“, dolmetscht Carla. Sie sieht konzentriert aus, ernst.
„Gracias por tenerme, por escucharme“, sagt Herr Álvarez und lächelt unsicher erst mich an, dann die Kamera.
„Danke, dass ich hier sein kann, dass Sie mir zuhören“, dolmetscht Carla. Ich nicke ihm ermutigend zu. Eine erste Geschichte. Eine ungehörte, unerhörte Geschichte.
Während sich Carla von Herrn Álvarez verabschiedet, gehe ich zu Simmi hinter die Kamera.
„Und?“, fragt sie leise, routiniert.
„War gut“, sage ich, „oder?“
„Ja, er war stabil. Trotzdem wird’s viel zu Schneiden.“ Sie grinst. „Ist aber nicht unser Problem“, fügt sie hinzu.
„Stimmt“, sage ich, dann kommt Carla auf uns zu.
„Jetzt geht er heim nach Veracruz, das ist doch verrückt“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Eine Locke löst sich aus dem Zopf, ich streiche sie ihr aus dem Gesicht.
„Wie lang ist das von hier nach Veracruz, paar Stunden?“, frage ich.
„Die ganze Nacht. Morgen muss er arbeiten. Und seinen Sohn sieht er dann wieder in drei Jahren, wenn er Glück hat.“ Sie schüttelt den Kopf. Simmi räuspert sich und stellt sich neben das Kamerastativ.
„Carla“, sagt sie vorsichtig, „wenn dir das zu viel ist…“
„Was meinst du?“, fragt Carla scharf.
„Simmi meint, dass es hart ist am Anfang“, sage ich so ruhig wie möglich. „Dein erster Fernsehbeitrag, und dann noch als Dolmetscherin, als Sprachrohr, in keiner Sprache zuhause, das ist nicht einfach. Simmi und ich machen das schon ‘n paar Jahre, das wollte sie sagen. Wenn du Pause machen willst, dann sag’s also einfach.“
„Nee, alles klar“, sagt Carla und presst die Lippen aufeinander, „ist ja mein Job.“
„Okay“, sage ich. „Ist Frau Guerrera schon da?“ Carla nickt.
„Los?“, frage ich.
„Los“, sagen beide gleichzeitig. Simmi stellt sich zurück hinter die Kamera und wischt sich Schweiß von der Stirn. Carla geht zur Tür. Ich stelle mich aufrecht hin. Haltung bewahren, immer Haltung bewahren.
Elisa Guerrera erzählt zögernder, leiser. Ständig streicht sie sich über die rechte Wange, knetet die Haut, schweigt lange. Meine Fragen werden dringlicher, Carla wirft mir irritierte Blicke zu, während sie dolmetscht. Irgendwann fängt Frau Guerrera an zu weinen. Ich höre Simmi mit der Kamera zoomen. Sie weiß, was Étienne will. Drama, aber authentisch. Trauer, aber ohne Voyeurismus. Wir sind die, die einfangen müssen, was Étienne eine „Geschichte mit großem Potenzial“ nennt. Étienne, der irgendwie Wind davon bekommen hat, dass der Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA eine Tür in Tijuana hat. Eine Tür, die einmal im Jahr geöffnet wird, damit Familien sich für eine halbe Minute umarmen können. Und wir mittendrin. Nein, daneben. Wir sitzen daneben und fangen das Drama an. Authentisch, bis zum Kotzen.
„Frau Guerrera, es ist völlig in Ordnung, dass Sie weinen. Lassen Sie sich Zeit“, sage ich leise. Carla dolmetscht, redet aber viel länger als ich. Ich sehe sie fragend an. Sie reagiert nicht. Frau Guerrera holt Luft, dann erzählt sie zitternd von ihrer Tochter Katy und der Flucht vor neun Jahren – zwölf Jahre alt damals, das Mädchen. Dann die Abschiebung vor zwei Jahren, das Mädchen konnte bleiben, aber sie, die Mutter, die jahrelang ohne Papiere gearbeitet hatte, musste zurück nach Mexiko, zurück in ein ausgestorbenes Dorf.
„No es justo“, sagt sie leise.
„Es ist nicht fair“, dolmetscht Carla. Simmi zoomt wieder.
„Und jetzt, zurück in Mexiko, was beschäftigt Sie?“, frage ich.
„Y ahora, de vuelta en México, ¿qué es lo que le preocupa?”, fragt Carla.
“La vida de día a día”, antwortet Frau Guerrera und schaut nur Carla dabei an. “Sobrevirir, para ver a mi hija nuevamente. Es lo único que tengo. La única patria que conozco.”
“Das tägliche Leben”, dolmetscht Carla, “Überleben, damit ich meine Tochter wiedersehen kann. Sie ist alles, was ich habe. Das einzige…“ Carla stockt. Wir alle sehen sie an. Simmi, Frau Guerrera, ich. „Die einzige Heimat, die ich kenne“, sagt Carla rau. Ich sehe Tränen in ihren Augen und drehe mich schnell zu Frau Guerrera. Holprig bedanke ich mich auf Spanisch bei ihr, bringe sie bis zur Tür und sehe ihr nach, wie sie langsam den Gang hinuntergeht.
In der Pension setzen wir uns auf die Courch, direkt vor den Ventilator, und sagen nichts. Zu viele Worte an einem Tag.
„Oh Mann“, sagt Simmi irgendwann, „was für eine Scheiße hier.“
„Wie fertig die alle waren, wie kaputt“, sagt Carla und räuspert sich. „Das können wir uns gar nicht vorstellen, so ein Leben.“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dass wir in unserem Job mit so etwas rechnen müssen?
„Was willst du sagen?“, fragt Simmi mich.
„Nichts.“
„Sag doch, wir nehmen’s dir nicht übel.“ Simmi kennt mich zu lange.
„Naja, es war doch klar, oder?“, fange ich an, „dass das hart wird, dass die Schicksale bitter sind, die Leute traurig, ich meine, wenn die hier alle glücklich wären, könnten wir keinen Beitrag drehen, oder?“
„Meinst du das ernst?“, fragt Carla, die Augenbrauen hochgezogen.
„Ja, Carla, ich mein‘s ernst“, sage ich und merke, wie meine Stimme noch kälter wird, „warum tut ihr so, als wär‘ das ‘ne Überraschung, dass die Leute hier vom Leben verarscht wurden? Wir sind in Mexiko, Leute, in hundert Metern ist die Grenze, klar ist das hier ein Desaster.“
„Liz“, sagt Simmi und streicht mir über den Arm, „lass mal.“
„Ich mein‘ ja nur“, sage ich leiser und lehne mich zurück. Carlas Augenbrauen bleiben hochgezogen.
„Also“, sagt Simmi versöhnlich, „es fehlt nur noch die Großaufnahme vom Zaun.“
„Braucht ihr mich dafür?“, fragt Carla professionell.
„Mh, wäre schon gut“, sage ich, „falls wir Grenzsoldaten treffen.“ Carla nickt. Der Ventilator surrt.
„Wisst ihr, was mich berührt hat?“, sagt Carla irgendwann, „die kleine Frau relativ am Anfang, die mit der Tochter bei Google.“
„Frau Guerrera“, sage ich.
„Ja, genau. Am Ende hat sie gesagt, ihre Tochter ist alles, was sie hat. Ihre…“
„Heimat“, sagt Simmi.
„Naja“, sagt Carla und wischt sich wie Frau Guerrera über die eine Wange, „Heimat hat sie nicht gesagt, das gibt’s auf Spanisch so nicht. Patria hat sie gesagt, also Vaterland eigentlich, aber irgendwie… Da war so viel mehr. Als hätte sie Heimat gesagt.“
„Wie kann sie Heimat sagen, wenn sie kein Wort dafür hat?“, fragt Simmi.
„Vielleicht gibt es das Gefühl“, sage ich, „auch, wenn es kein Wort dafür gibt.“
„Ich weiß nicht“, sagt Simmi und schürzt die Lippen, „Menschen haben doch für alles Worte gefunden.“
„Oder das ist nur unser deutscher Blick auf alles“, sage ich.
„Ist mir jetzt auch zu heiß für solche Diskussionen“, sagt Simmi und lehnt sich zurück. „Liz, sag mal, was der Plan für morgen ist.“
„Wir packen heute noch alles zusammen“ sage ich, „und dann sind wir ganz früh am Zaun. Die Erlaubnis haben wir ab sieben.“ Beide nicken. „Wenn wir die Aufnahmen haben, holen wir unsere Sachen hier ab, dann fahren wir zum Paso und nach San Diego. Je nach Stau an der Grenze ein bis zwei Stunden, dann sind wir drüben.“
„Und die lassen uns einfach so rüber mit dem ganzen Filmkram?“, fragt Carla.
„Wir sind von ARTE, mehr Bescheinigungen kann man nicht mehr haben“, sage ich.
„Außerdem sind wir drei junge Frauen mit deutschen Pässen“, fügt Simmi hinzu. Carla grinst müde.
„Danach noch zwei Tage San Diego“, sage ich, „Interviews mit den Kindern, und dann fliegen wir schon zurück.“
„Gut“, sagt Simmi.
„Gut“, sagt Carla und nimmt meine Hand in ihre.
Der Zaun ist jedes Mal höher, als ich ihn in Erinnerung habe. Seit fünf Tagen filmen wir ihn schon, aber er lässt keine Gewöhnung zu, kein Gefühl der Vertrautheit. Ich denke an vorgestern, an die vielen Leute, die vielen Soldaten mit ihren Pistolen, direkt am Zaun, an die Ausdruckslosigkeit in ihren Augen. Das Raunen, das durch die Menge ging, als sich die kleine Stahltür öffnete und der erste Name aufgerufen wurde. Der Vater, der sich auf unserer, der mexikanischen Seite, durch die Menge drängte. Der Sohn auf der anderen Seite. Der Zusammenstoß, die Umarmung, viel zu friedlich für die brutale Umgebung. Die Wüste, die Waffen, die Wärter. Der nächste Name. Die nächsten Umarmungen. Simmi neben mir, die die Kamera fest auf die Tür hielt und dabei ruhig atmete, während ihr der Schweiß von der Nase tropfte. Carla, die meine Hand umklammerte wie ein verängstigtes Kind.
Als wir endlich am Grenzschalter ankommen, ist der Benzinstand auf Reserve. Die Klimaanlage ist automatisch ausgegangen, wir haben kein Wasser mehr. In unserem Rücken das Ende Mexikos.
„Pasaportes, passports“, sagt der Grenzsoldat. Auf seinem Namensschild steht Brian Vargas Mendoza. Ich strecke ihm alle Pässe hin. Er mustert uns der Reihe nach, sieht in Carlas Pass und dann in ihr Gesicht.
„You are German?“, fragt er.
„Yes“, sagt Carla und lächelt freundlich dabei. Nur ihre Augen blitzen.
„And your parents?“
„My father is German, my mother is from Venezuela”, sagt sie und lächelt eisern weiter.
“What are you doing in Mexico?”
“We are filming a documentary”, sage ich und ignoriere den Schweißtropfen, der sich in meiner linken Augenbraue verfängt.
„Please exit the lane and get out of your vehicle“, sagt der Soldat.
Wir kommen in San Diego an, als es schon dunkel ist, aber nur wenig kühler. In dem Raum, in dem morgen die Interviews stattfinden, liegen drei Matratzen nebeneinander.
„Fuck“, sagt Carla.
„Kannste laut sagen“, sagt Simmi und seufzt.
„Hauptsache, wir sind hier“, sage ich. Die Klimaanlage scheppert leise. Wir setzen uns auf die Matratzen, ich auf die mittlere.
„Ich weiß, dass das komisch klingt, aber ich hab‘ echt Heimweh“, sagt Simmi und legt sich hin. Carla tut es ihr nach, ich auch. „Ich war ja schon oft weg“, sagt Simma, „manchmal viel länger als jetzt, und es war auch schon gefährlicher, im Irak oder so, aber so wie jetzt war’s noch nie.“ Carla murmelt zustimmend. Ich drehe mich zu ihr, streiche ihr die Haare aus dem Gesicht und frage mich, ob sich mein Egoismus rächen wird. Ob ich eine erfahrenere, abgebrühtere Dolmetscherin hätte mitnehmen sollen statt meiner Freundin. Neben mir höre ich Simmi ruhig atmen.
„Danke“, flüstere ich Carla zu und rutsche auf ihre Matratze.
„Wofür?“, flüstert sie zurück.
„Egal“, sage ich und küsse sie auf ihre aufgerissenen Lippen.
Frau Guerreras Tochter Katy ist die Erste und überpünktlich. Sie fragt nach der Aufnahme, Simmi winkt uns zu sich. Wir alle stehen hinter der Kamera und starren den kleinen Film an: Man hört dumpf einen Namen und sieht Frau Guerrera, wie sie sich zur Tür im Grenzzaun drängt. Sie hat einen Blumenstrauß in der Hand und ruft etwas. Ein paar Menschen machen Platz, Frau Guerrera hastet, rennt fast. Die Kamera zoomt, Frau Guerrera spricht mit dem Grenzsoldaten, zeigt ihm ihren Pass. Er nickt und klopft an die Tür. Die Stahltür geht auf, Katy steht da, von Frau Guerrera ist nur der Rücken zu sehen. Die Umarmung ist so verwoben, dass man nicht mehr erkennt, wo die Mutter anfängt und wo die Tochter endet. Sie lösen sich voneinander, als der Soldat etwas sagt. Frau Guerrera gibt Katy die zerknitterten Blumen, Katy wischt sich über das Gesicht. Der Soldat sagt wieder etwas, beide nicken, dann tritt Frau Guerrera zurück, die Tür geht zu, der Soldat schaut auf sein Klemmbrett und ruft den nächsten Namen auf. Frau Guerrera bleibt stehen, bewegt sich nicht vom Fleck. Die Aufnahme stoppt.
„Madre mía”, sagt Katy leise, noch mit Blick auf den Bildschirm.
„Setzen Sie sich doch“ sage ich, „unterhalten wir uns ein bisschen.“ Carla dolmetscht mit fester Stimme. Simmi stellt die Kamera ein. Anderthalb Tage noch.
Sieben Kinder kommen insgesamt. Alle wollen zuerst die Aufnahmen von sich und den Eltern am Zaun sehen, dann erst interviewe ich sie. Es ist nachmittags, als Herr Álvarez‘ Sohn Martín uns als letzter die Hand gibt und sich für unser Engagement bedankt. Ich bin müde und will ihm sagen, dass das unser Job ist. Dass wir nur eine Idee durchführen, die Idee eines größenwahnsinnigen Franzosen, der gerade in Straßburg eine Flasche Wein öffnet. Dass wir nur Handlangerinnen sind. Ich will ihm sagen, dass sein Dank im Sand verläuft, weil Étienne nur das emotionale Potenzial von Interviews interessiert und dass seine Passage sicher so zusammengeschnitten wird, dass nur die „emotionale Essenz“ übrigbleibt, also ein feuchter Dreck. Ich hole Luft, sage aber nichts.
Am nächsten Tag, während wir vor dem Gate am Flughafen warten, spule ich noch einmal das Interview mit Katy ab. Étienne wird sie lieben, mit ihren großen Augen und dem traurigen Lächeln. „Ein Prachtstück“, wird er sagen und ich werde mir wieder nicht sicher sein, was er damit meint. Und es wird egal sein, weil es nicht mehr meine Entscheidung sein wird, ob man ihre Tränen später sehen wird oder nicht. Ob man die Stille hören wird, die an einem normalen Tag in Tijuana über dem Zaun liegt, oder ob jemand einen Text aus dem Off über die Aufnahme sprechen wird, einen Text voller Fakten und Distanz. Es wird egal sein, was Heimat ist und ob es sie auf Spanisch gibt. Es wird alles bedeutungslos sein. In vierzehn Stunden geben wir alles Material aus der Hand und sehen es erst in drei Monaten wieder, wenn es auf zwölfeinhalb Minuten geschnitten als Teil des ARTE-Abendprogramms über unsere Fernseher ziehen wird.