Geschichten der Lesung ‘Ausweitung der Kampfzone’ vom 15.11.
Am 15. November war es soweit. Nach über 60 Tagen Ausschreibungszeit, nach Beurteilung von über 800 Geschichten fand die Lesung der vier Texte der Endauswahl statt. Was war die Idee? Gerne benutzen wir als Themen für unseren Kurzgeschichtenwettbewerb Titel aus der Weltliteratur. Zum einen, weil interessante Themen auf einen griffigen Titel und damit Punkt gebracht werden, zum anderen, weil es spannend ist, diese Sujets in einem Wettbewerb um andere Perspektiven zu erweitern. Diesmal haben wir ein Thema gesucht, das einen klaren zeitlichen – auch politischen – Bezug hat, das aber durchaus auch privat verstanden werden kann. Mit ‘Ausweitung der Kampfzone’ meinen wir, eine zeitgemäße, passende Vorlage gefunden zu haben.
Was passiert eigentlich gerade in der Welt? Israel rächt den Tod dreier gemordeter – ja, fast Kinder – an hunderten von Palästinensern. Die Ukraine scheint zum Schauplatz eines irren Stellvertreterkrieges zu werden und keiner darf wissen, was die Wahrheit ist. Die NSA bespitzelt die Freundesnation Deutschland, sodass selbst Kanzlerin Merkel – bei aller Freundschaft – nicht mehr gleichgültig sein will; die Fifa, diese ehrenwerte Nonprofit-Organisation, erpresst das gebeutelte Schwellenland Brasilien um ihre Bildungsgelder für schöne Stadien und Steuerbefreiung, um parallel die Lust am Fußball von uns allen in Katar zu verschachern. Und privat? Die Scheidungsrate kennt nur den Weg nach oben, auch die Selbstmordrate in Deutschland liegt wesentlich höher als zum Beispiel die der Verkehrstoten. Die Singlehaushalte haben eine Quote von fast 40 Prozent erreicht. Ist der Mensch wirklich des Menschen Wolf, für eine Gemeinschaft nicht wirklich geeignet? Wer steckt wie sein Terrain ab? Und um was wird denn gestritten und gekämpft?
Hier sind die 23 Bestplazierten und ihre Sichtweisen des Themas. Dank an alle fürs Mitmachen!
Erster Platz: „Krieg“, Sabrina Zwach Im Büro angekommen öffnete er sein Mailaccount und als wäre es nicht genug gewesen, den Morgen – damit waren die 50 Minuten zwischen Aufwachen und dem Verlassen des Hauses gemeint – mit einem aggressiven, lauten und für die Kinder wenig zur gesunden und womöglich heiteren Stimmung beitragenden Streit zu verbringen, las er folgenden Text seiner offensichtlich zu Höchstform auflaufenden Frau: „Da es den privaten Raum nicht gibt, sondern jede Äußerung, jede Aktion und Reaktion stets Interaktion ist und diese immer den mikropolitischen Raum repräsentiert, ist eben alles politisch und nichts privat. Vergiss das nicht. Wir befinden uns im Krieg! Ich wünsche dir einen schönen Tag! M.“ Die beiden lebten seit mehreren Jahren im Kriegszustand und es war sonnenklar, dass es eine Frage der Zeit sein würde, wer zuerst aufgeben oder krepieren würde. Kapitulation, dachte er in diesem Moment. Für eine Sekunde stellte er sich vor, wie er abends den Wagen in der Garage parken würde und – hier war er sich noch unsicher – womöglich nur mit seiner weißen Boxershorts bekleidet eine weiße Fahne schwingend – da war er sich dagegen sicher, denn große Zeichen mussten für die Geste dann schon sein – das Haus betreten würde. Er bemerkte wie sich sein Körper, sein Herz, sein Hirn augenblicklich entspannten, denn Kapitulation, so dachte er, würde das Ende des Krieges bedeuten. Doch im nächsten Moment wusste er, dass Kapitulation auf keinen Fall das Ende des Krieges bedeuten würde. Kapitulation würde nur bedeuten, dass er aufgeben würde, dass er der Schwächere wäre, der Verlierer. Es würde lediglich bedeuten, dass keine Kampfsituationen, keine Kampfhandlungen mehr entstehen, dass sie nicht mehr scharf schießen würden, aber nicht, dass der Krieg zu Ende wäre. Seine Aufmerksamkeit kehrte zu der gerade gelesenen Mail zurück. Der Krieg machte keine Pause und kannte keine Gnade, es gab kein Sonntag und auch keine Ausnahme: Krieg war immer. Ausgebrochen war der Krieg langsam und allmählich, in Stufen und mit stufenweiser Aufrüstung. Rosenkrieg empfand er als Begriff oder Beschreibung des Zustandes vollkommen unzulässig und falsch, da der Verdacht aufkommen konnte, dass es sich um keinen richtigen Krieg handelte. Rosenkrieg hörte sich niedlich an. Das, was er erlebte, hatte absolut nichts Niedliches. Was er erlebte war Krieg und an manchen Tagen parkte er seinen Wagen – es handelte sich dabei um eine große Limousine, einen nachtblauen Firmenwagen mit getönten Scheiben, den er sehr liebte – für einige Minuten am Straßenrand und weinte über dem Lenkrad zusammengesunken leise in sich hinein. Jetzt war er traurig. Tiefe Trauer breitete sich in ihm wie ein Geschwür oder eine Infektionskrankheit aus. Er wusste nicht, was ihn trauriger machte, ob es sein Schicksal war oder der Verlauf dieser seiner großen Liebe. Er wußte nicht, ob er um sich selbst und sein persönliches Unglück trauerte oder ob er traurig darüber war, sein Unvermögen so deutlich zu empfinden, diesen Krieg zu beenden. Und er hatte höllische Angst. Er hatte Angst nach Hause zu kommen. Er hatte Angst vor der nächsten Schlacht, vor den Kollateralschäden, vor seinen eignen Verwundungen, den Verwundungen, die er bei ihr verantworten musste und vor seinem Tod. Er hatte Angst vor der Nacht. Er hatte Angst, sich neben M. zu betten. Er hatte Angst, sich ihr im Badezimmer zu zeigen, seinen Schlafanzug anzuziehen. Er hatte Angst davor, so tun zu müssen, als vertraue er ihr. Er hatte Angst davor, den Kindern ein schlechter Vater zu sein und so spielte er – sicherlich schlecht – den Vater und Mann, der ritualisiert zu Hause seine Bahnen zog. Er hatte Angst, seine Angst auf die Kinder zu übertragen. Er hatte Angst, die Kinder eines Tages in Therapiegruppen bringen zu müssen, ess- und beziehungsgestört oder neurotisch oder beides, weil sie dies alles nicht ertragen und verarbeiten können würden. Es herrschte Krieg. Es herrschte Krieg und er hatte keine Ahnung, wie er Friedensverhandlungen führen sollte, denn er wusste nicht mehr, wie es sich anfühlte, Frieden. Die Lage war aussichtslos. Sein Leben war aussichtslos. Er setzte sich vor seinen Computer, atmete tief ein und stimmhaft wieder aus und dann las er sich selbst die Mail vor, die ihm seine Frau geschrieben hatte. Er las laut und deutlich: „Da es den privaten Raum nicht gibt, sondern jede Äußerung, jede Aktion und Reaktion stets Interaktion ist und diese immer den mikropolitischen Raum repräsentiert, ist eben alles politisch und nichts privat. Vergiss das nicht. Wir befinden uns im Krieg! Ich wünsche dir einen schönen Tag! M.“ An manchen Tagen dachte er darüber nach, M. umzubringen. Heute war so ein Tag. Es erschien ihm an diesen Tagen als die einfachste, sauberste, effektivste und auch für die Kinder beste Lösung des Problems. Wenn er nur wüsste, wie er es anstellen könnte, hätte er sie längst umgebracht. Das war sicher. Doch da er bereits nächtelang neben ihr wach gelegen und die verschiedenen Tötungs-Szenarien haarklein durchdacht hatte und alle einen kleineren oder größeren Haken aufwiesen, hatte er diese Option des Kriegsendes bislang in unbekannte Ferne verschoben. Jetzt wünschte er sich, dass sie einfach sterben könnte. Keine lange Krankheit, dachte er, vielleicht wäre ein Unfall gut. Dann schämte er sich für diesen Gedanken. Ein Schauer durchfuhr seinen Körper. Eine Gänsehaut legte sich über seine Arme. Sein Leben widerte ihn an. Er widerte sich selbst an. Er sah sich kurz in seinem Büro um, als könnte er Spuren eines Sabotageaktes finden können. Vor Monaten hatte er darüber nachgedacht, sein Büro mit einer Kamera überwachen zu lassen. M. würde er zutrauen, seine Schreibtischplatte mit Chemikalien zu beträufeln oder den Teppichboden zu kontaminieren, so dass er langsam aber sicher ersticken würde. Vor seiner Tür hörte er das engagierte Telefonat, das seine Assistentin mit irgendwem führte. Er hörte kurz genauer hin. Seine Assistentin sprach in ihrer etwas aufgeregten Art auf englisch mit einem Mann. Dass der Partner am anderen Ende ein Mann war, war klar am Tonfall zu erkennen. Zurück an seinem Schreibtisch, der wie immer tadellos aufgeräumt war, Ablage hatte er gelernt und Ablage war seine heimliche Leidenschaft, dachte er für einen kurzen Moment nach. Er dachte darüber nach, wie viel Zeit er auf diesem Stuhl, in diesem Büro schon damit verbracht haben musste, den Ärger, die Angst, die Wut und die Trauer, die er in großer Regelmäßigkeit von zu Hause mitbrachte, zu verarbeiten. Wie viele Deals, die er auf diesem Stuhl gemacht hatte, waren übermalt mit dem ein oder anderen Streit, den er im Umfeld von wichtigen Verhandlungen erlebt haben musste? Resigniert schüttelte er den Kopf. Er durchquerte sein Büro, drückte den Power-Knopf seiner Anlage und startete die Musik, die er zuletzt gehört hatte: Der Wallkürenritt. Er hörte kurz zu. Er beobachtet sich selbst und die Katastrophe, die er materialisierte. Sein Leben war eine Katastrophe. Er stoppte die Musik, schaltete die Anlage wieder aus und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er nahm den Hörer seines Telefons ab, wählte die Nummer, seine Telefonnummer, seines Hauses und hörte dem Tuten im Hörer kurz zu, dann hörte er ihr hartes und ein wenig schepperndes „Hallo“, das er irgendwann einmal geliebt haben musste. „Ich nochmal“, sagte er, „ich wollte nochmal kurz klarstellen …!“ „Brauchst du nicht“, unterbrach sie ihn, „du hast schon genug klargestellt, die ganze Welt wurde durch dich klar gestellt, schau dich mal um, was du angerichtet hast.“ “Es ist sinnlos, mit durch zu reden!”, sagte er und atmete schwer. “Wenn du sagst, dass es sinnlos ist, mit mir zu reden, dann ist es sinnlos, mit mir zusammen zu sein! Dann sag das doch: Sag einfach, dass es sinnlos ist, mit mir zusammen zu sein. Machen wir es kurz: Wann holst du deine Sachen und ziehst aus?!” Mit noch immer schwerem Atem – wahrscheinlich um ihr seinen Widerwillen diese Unterhaltung betreffend zu signalisieren – nahm er noch einen Anlauf und sagte: “Gut, wenn du das willst, dann ziehe ich aus, dann nehme ich dich einfach ernst und wir beschließen das so. Dann ziehe ich aus”. “Aber das habe ich doch gar nicht gesagt!” sagte sie. “Doch, hast du!”, sagte er. “Nein, habe ich nicht!”, sagte sie. “Du hast gerade gesagt, dass es sinnlos ist, dass wir weiter zusammen sind?“ fragte er. Sie: “Nein!” Er: “Doch!” “Ich habe gesagt, dass wenn es dir sinnlos erscheint, mit mir zu reden, dann ist es – meines Erachtens – sinnlos mit mir zusammen zu sein!”, sagte sie. Dann war Stille. Sie hatte aufgelegt. Die Tür wurde nach obligatorischem kurzen Klopfen geöffnet, seine Assistentin stand mit seinem Mantel in der Hand vor ihm und sagte: „Wir müssen los. Der Termin mit den Investoren ist in 20 Minuten!“ Der Termin mit den Investoren fand statt. Pünktlich. Um einen Glastisch saßen 6 Männer und 2 Frauen. Dunkle Anzüge, dunkle Businesskleider, gute Schuhe, drei Paare waren handgenäht, mindestens. Es ging um ein Riesenprojekt, um ein Riesenbudget. Der Ton war sachlich und konzentriert, ab und zu wurde über einen locker eingestreuten Witz gelacht. Er war ganz bei der Sache und besah sich dennoch die Situation von oben. Termine wie dieser waren mittlerweile die reinste Erholung für ihn, da er nur zu argumentieren brauchte und sich verlassen konnte, dass man hier zwar kämpfen, aber noch lange nicht Krieg führen würde. Die Verhandlungen verliefen kurz und schmerzlos und zu allem Überfluss erfolgreich. Die Investoren waren im Boot, man vertraute ihm voll und ganz, das Projekt konnte durchstarten. Auf dem Weg zurück ins Büro plapperte seine Assistentin aufgeregt auf ihn ein. Sie gratulierte ihm pausenlos zu dem Erfolg. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Verdammt hübsch, dachte er und sagte dann: „Auf den Erfolg könnten wir ein Glas trinken, was meinen Sie?“. „Gerne“, sagte seine Assistentin. Sie prosteten sich wenig später in einer ziemlich langweiligen Bar mit 2 gut gefüllten Champagnerschalen zu. Nach zwei drei Schlucken konnte er entspannen, konnte das Gespräch genießen, die Freundlichkeit seiner Assistentin schätzen, das gegenseitige Interesse und den Respekt. In seinem Kopf spulten sich rasend schnell Filme von einem möglichen weitern Verlauf des Abends ab. Immer wieder musste er sich zwingen, die Bilder von seiner nackten Assistentin, die mit ihm in einem nahe gelegenen Hotelzimmer ficken würde, aus seinem Kopf zu scheuchen. Die Bilder kamen penetrant immer wieder zurück. Er schwitzte. Er konnte sich nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren. Er sah seine Assistentin auf ihm sitzen, vor ihm knien, er konnte sie von hinten sehen und er sah sich, wie er über ihr gebeugt und tief in ihr war. Er versuchte seine Gedanken zu kontrollieren. Der Schweiß lief ihm über die Stirn. Seine Assistentin vermutete, dass ein Virus oder Infekt nun zugeschlagen haben musste und reichte ihm eine Serviette. Er wischte den Schweiß ab und entschuldigte sich. Er bezahlte und beendete die kleine Feierlichkeit freundlich, doch merkwürdig ungelenk und schnell. Zurück im Auto dachte er, dass Soldaten, das hatte er einmal gelesen, ähnlich zwanghafte Umgangsweisen mit Frauen bzw. sexuelle Fantasien hätten. Seine Assistentin saß schweigend neben ihm. Sie sah ihn besorgt an und schlug vor, dass er doch besser nach Hause fahren sollte. Alles, nur nicht nach Hause, dachte er. Im Büro angekommen fand er eine Notiz auf seinem Schreibtisch. Die Geschäftsleitung wollte ihn gerne sprechen. Es sei dringend. Er war froh, dass er hier sein konnte und etwas Dringendes zu erledigen hatte. Er war froh, dass seine Gedanken, dieser Dauerton, der ihm mit leiser und scharfer Stimme durchgehend vermittelte, dass sein Leben eine Katastrophe sei, unterbrochen wurden. Als wäre dies eine religiöse Handlung oder ein Ritual des Schwertkämpfers, öffnete er erneut sein Mailaccount. Nun stellte er sich vor seinen Computer und las sich die Mail seiner Frau ein weiteres Mal vor. Er schrie. Er schrie den Text so laut er konnte. Im stehen schrie er also: „Da es den privaten Raum nicht gibt, sondern jede Äußerung, jede Aktion und Reaktion stets Interaktion ist und diese immer den mikropolitischen Raum repräsentiert, ist eben alles politisch und nichts privat. Vergiss das nicht. Wir befinden uns im Krieg! Ich wünsche dir einen schönen Tag! M.“ Er verbeugte sich leicht vor dem Computer und artikulierte ein scharfes „Du Fotze!“ hinterher. Dann ordnete er sich seine Kleidung, zog die Krawatte an den richtigen Platz auf dem Hemd und verlies sein Büro. Ausgerechnet jetzt kam die Nachricht, dass er gekündigt würde. Das Gespräch war schnell geführt. Er solle dies nicht persönlich nehmen, sagte der CEO und erklärte, dass man sich über das neue Projekt sehr freue und die Firma unendlich dankbar sei, aber arbeitsstrukturelle Verbesserungen dringend nötig seien. Die Worte erreichten ihn nicht. Die Stimmen in seinem Kopf wurden still. Alles beruhigte sich. Sein Herz schlug endlich wieder ruhig und ganz normal. Die Höhe der Abfindung war schnell benannt. 3 1/2 Millionen würden in den nächsten Wochen auf sein Konto flattern und er war im Krieg. Was sollte er also tun? Wohin mit der Kohle? Teilen oder abhauen? Waren 3 1/2 Millionen die richtigen Argumente für den Frieden? Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts mehr. Er fuhr nach Hause. Die Stille in seinem Kopf tat weh. Auf dem Weg dorthin lenkte er seinen Wagen kurz an den Straßenrand. Er sank über dem Lenkrad zusammen und weinte lautlos.
Zweiter Platz (Jury Preis): „Wände hören“, Chris Inken Soppa Dinge schlagen nach dem Körper, wenn er an ihnen vorbei geht. Tische und Schränke haben spitze Ecken, harte Kanten. Ihre Angriffe sind kurz aber heftig, dann ziehen sie sich zurück und stehen, als sei nichts gewesen. Der Boiler über dem Waschbecken hat es auf den Schädel abgesehen. Hinten fühlt sich der Schädel schon grün und blau an, auf der linken Schläfe steht eine Beule. Dumpfe Schmerzen entstehen, wenn die Hand danach tastet. Er hat keinen Spiegel mehr, der Körper. Die Welt ist grau und körnig, aber die Umrisse der Möbel sind noch da. Manchmal machen ihn die Angriffe wütend, dann tritt er zurück. Zum Beispiel ins weiche Plastik des Mülleimers, der ist schon ganz zerdellt. Die Möbel versucht er zu meiden. Neulich hat er sich die Finger in der Schranktür eingeklemmt; sie wurden ganz dick und feucht. Fühlten sich an, als seien sie voller Eiter und taten auch so weh. Drei Tage lag er mit Fieber zwischen den Kissen. Wenn er nachts aufsteht, weil er aufs Klo muss, macht er das Licht nicht mehr an; er kann die Wände hören, wenn er dicht genug an ihnen dran ist. Er weiß gar nicht genau, was er da hört. Vielleicht die Geräusche, die er selber macht? Wie eine Fledermaus. Als Kind hörte er die Wände, wenn er krank war. Und selbst da war er sich nicht sicher. Seine Eltern hatten ihm eingeschärft, das Licht nachts auszulassen, damit sie nicht geweckt wurden. Aber das ist ja schon so lange her. Die Welt war damals noch farbiger; das wollen die jungen Leute heute gar nicht mehr glauben. Die denken, es war immer so wie auf den Fotos. Die haben keine Fantasie. Wie können Sie etwas sehen, das außerhalb Ihres Gesichtsfeldes liegt?, sagt die junge Frau, die regelmäßig kommt, um ihn zu versorgen. Sie riecht nach Zitrone und Gurken, die junge Frau. Das macht mein Hirn, es denkt sich die fehlende Sicht einfach dazu, sagt der Körper. Das Hirn denkt sich die junge Frau auch schöner als sie ist, aber das verschweigt ihr der Körper lieber. Vor einiger Zeit hat er ihr ein Parfüm gekauft, in der Drogerie unten im Erdgeschoss. Dort gab es mehr Licht, dort hörte er keine Mauern, aber er musste sich dennoch anstrengen, das am besten duftende Parfümfläschchen aus dem Regal zu nehmen, ohne es fallen zu lassen. Das ist eine Probe, sagte die weißgekleidete Verkäuferin mit strenger Stimme, nahm ihm das Fläschchen weg und reichte ihm eine größere Flasche, zellophanverpackt. Später dann, wieder in seiner dunklen Wohnung, wischte er die Flasche versehentlich vom Tisch. Da duftete das Parfüm gar nicht mehr gut. Der Körper hielt sich die Nase; beißend stieg der Duft hoch in die Nebenhöhlen, dann sagte sich der Körper, lass gut sein und atmete tief. Fast wäre er ohnmächtig geworden; hat er etwa eine Parfumallergie? Zum Glück war die Gurkenfrau nicht in der Nähe. Er will sich nicht verraten, nicht ausgelagert werden, der Körper, lieber wird er sterben. Da ist er sich sicher. Besser gegen den schleichenden Verfall kämpfen, ihn ignorieren, verstecken, keine Anzeichen zulassen. Das ist doch wenigstens eine Aufgabe! Der Gedanke an die junge Gurkenfrau ist tröstlich: Der Penis regt sich, ist das denn die Möglichkeit? Solche Kraft der Gedanken! Man braucht gar nicht viel sehen, um Freude zu empfinden. Allein der Geruch der Gurkenfrau! Vielleicht ist es doch besser, dass er die Parfümflasche fallen gelassen hat. Denkt er an ihren Geruch, durchfährt es ihn, ein elektrischer Schock, der ihm nicht nur die Haare aufstellt. Fast muss er lachen, der Körper; es entfährt ihm ein schleimiges Rumpeln, das ihm doch wie Lachen vorkommt. Er sucht sich eine Scheibe Brot. Seine Hand fährt unter den knisternden Saum der Tüte und legt sich auf den duftenden, durchschnittenen Laib. Seine Finger schieben sich zwischen die Spalten; er lässt sie dort, gedankenverloren. Hat er denn Hunger? Er greift ins Weiche, zieht eine Scheibe hervor, reißt sie mit beiden Händen entzwei, stopft sie sich in den Mund. Das Brot schmeckt fad; der Bäcker muss das Salz vergessen haben. Die Zunge sucht nach Spuren von Geschmack, tastet nach appetitlichen Resten zwischen Zähnen und geriffeltem Gaumen, vergeblich. Wütend bohren sich die Finger erneut in den Inhalt der Tüte, legen sich um den Laib, quetschen ihn zu einer nachgiebig anhänglichen Knetmasse zusammen. Der Körper will fluchen, doch kein Fluch fällt ihm ein. Dem Mund entringt sich ein anhaltendes Stöhnen, das klingt, als stöhnten die Wände, nicht er. Mit einem dumpfen Platzen fällt die Tüte zu Boden; die Füße finden sie und trampeln auf ihr herum. Nimm das, Gurkenfrau! Früher hätte ich kurzen Prozess gemacht. Nicht fragen, einfach tun. Nur so kommt man weiter. Den Rest wird er sich toasten. Seit bestimmt zwanzig Minuten hängt draußen ein Fensterputzer. Erst macht er nur kleine quietschende Geräusche und scheint den Körper dabei anzugrinsen. Vielleicht winkt er auch. Da draußen hängen immer wieder Fensterputzer; der Körper hat sich an sie gewöhnt, doch das drängende Morseklopfzeichen, das dieser da anstimmt, bringt den Körper dazu, aufzustehen und das Fenster zu öffnen. Wind stößt herein, wirbelt Blätter durch die Wohnung, am Sims hängt plötzlich ein Lappen. Der Fensterputzer ist noch ein junger Mann; seine Stimme klingt jedoch hohl und eingefallen, als er sagt: Es raucht bei Ihnen. Haben Sie was auf dem Herd? Der Körper will das Fenster wieder zuschlagen, doch der junge Mann ist schneller. Mit einem Hocksprung ist er über dem Sims, steht in der Wohnung, rennt in die Küche. Dort riecht es nach verbranntem Brotlaib. Der junge Mann zieht die Tischdecke vom Esstisch, wirft sie über den Herd, etwas klirrt, er greift nach dem Kessel, schüttet Wasser hinterher. Das war knapp, sagt er. Riechen Sie denn gar nichts? Der Körper ist wütend und schämt sich. Er versucht, zu erklären, dass er bloß den Brotlaib toasten wollte. Doch der junge Mann hört ihm nicht zu; er spricht in ein Mobiltelefon. Hören Sie auf! Der Körper springt hoch und versucht, dem jungen Mann das Telefon zu entreißen. Der Küchentisch stellt sich ihm in den Weg, schlägt ihm schmerzhaft gegen den Oberschenkel. Der linke Fuß tritt zurück, staucht sich die Zehe, der Körper strauchelt, der geflieste Boden hebt sich und trifft auf den Schädel. Die Finger tasten nach der neuen schmerzenden Stelle an der Stirn, dann folgen sie den rauen Kachelfugen, geben dem Körper Richtung und Hoffnung. Etwas Feuchtes läuft an ihnen entlang. Sie dürfen hier nicht mehr alleine bleiben, sagt der Fensterputzer. Die Gurkenfrau ist wütend auf ihn. Alles wieder saubermachen, sagt sie. Kopf kaputt. Herd kaputt. Was soll ich tun. Der Körper setzt sich die Brille auf die Nase, die er zwischen Kissen und Bettdecke gefunden hat. Sachte streicht der Brillenbügel über die neue Beule an der Stirn. Nun ist sie größer, die Gurkenfrau, außerdem schärfer, nicht mehr so körnig. Sie hat eine stumpfe Nase und kleine braune Augen; ihr plumper Körper erinnert an den einer Taube. Pfeifende Flügelschläge, dann das Scharren von Krallen auf dem metallenen Fenstersims. Lärm und Scheiße. Mehr hat er nicht von Tauben. Früher schoss er mit seiner Wasserwumme nach ihnen. Heute reißt er sich die Brille wieder vom Gesicht, um die Gurkenfrau nicht mehr sehen zu müssen. Dabei sollte er aufmerksam sein. Die plant was gegen ihn, hat er das schon wieder vergessen? Wirklich eklige Viecher, die Tauben. So hinterhältig. Schade, dass sein Telefon kein Kabel mehr hat. Damit könnte er sie erdrosseln, wenn sie den entscheidenden Anruf macht. Aber er hat ja noch … Messer, Strom, Feuer, Herd? Mit letzterem kann er nicht mehr umgehen, das hat er gerade erst unter Beweis gestellt. Und das Brotmesser? Den Laib bekommt er zwar vorgeschnitten, aber das Messer müsste noch in der Küche sein. Damit könnte er ihr ganz langsame Spalten in den Taubenleib ritzen, eine nach der anderen. Sich einen wonnigen Abschiedsritt bereiten. Ihrem letzten Stöhnen lauschen, Gurkenduft in der Nase, elektrisiert bis zur Spitze. Als Höhepunkt ein letzter tiefer Schnitt. Essen, sagt die Gurkenfrau. Hast ja nix mehr auf den Rippen, alter Mann. Und Trinken. Wann hast du zuletzt getrunken? Trinken ist dem Körper widerlich, es bläht ihn und drückt auf die Prostata. Flüssiges schluckte er noch nie gern, nicht mal als junger Körper. Alkohol kam höchstens mal in konzentrierter Form in Frage, Kaffee auch. Das verschaffte ihm einen Vorteil gegenüber denjenigen, die literweise Bier und Wein in sich hineinschütteten. Der Körper hat es immer vorgezogen, wach und nüchtern zu bleiben. Sport trieb er selten; vielleicht hätte ihm etwas Bewegung mehr Durst verschafft? Heute bringt es der Körper kaum über sich, ein Schnapsglas voll Wasser zu trinken. Vor ihm steht eine Tasse Tee. Gut, sagt die Gurkenfrau, und ihr Geruch vermischt sich mit dem Kräuterduft des Tees. Der Körper ist richtig froh, die Brille erneut verlegt zu haben; er braucht keinen weiteren Blick auf diesen Taubenleib. Diesen tauben Laib. Die Gurkenfrau hält ihm die Teetasse an die Lippen. Wenigstens ist das Zeug nicht zu heiß. Er schluckt widerwillig. Die Gurkenfrau presst ihm eine Hand in den Nacken. Trink! Ihre Finger krallen sich in seinen Hals. Plumpe, harmlose Taube. Brutal sind die Viecher trotzdem. Mit eigenen Augen hat er zwei Vögel beobachtet, die einen dritten abwechselnd systematisch zu Tode hackten. Kleine Dinosaurier. In Gruppen sind sie bösartig. Seine Gruppenlosigkeit hat er manchmal bedauert, der Körper. Er musste immer stärker sein als die anderen. Das hat er früher geschafft, mit Willenskraft, mit Drogen. Nun aber fühlt er sich schwach. Geht so nicht weiter, sagt die Frau mit dem Taubenleib. Eine Gefahr für alle anderen im Haus. Nächstes Mal fackelst du’s ab, was machen wir dann? Dann sind wir beide tot, auch egal, denkt der Körper, aber er hütet sich, das laut zu sagen. Was in aller Welt trieb ihn dazu, sich diese Frau schön zu träumen? Wäre er nur ein wenig kräftiger, er würde sie fertigmachen wie den Brotlaib. Fertigmachen wie den Brotlaib. Er murmelt vor sich hin. Warum bloß haben die jungen Leute keinen Respekt vor ihm? Als er jung war, stand man auf im Bus. Man grüßte den Nachbarn. Man hörte zu, wenn ein Älterer sprach, egal, ob es einen interessierte oder nicht. Mit seinem langen Leben hat sich der Körper dieses Vorrecht nun auch erworben, aber keiner schert sich darum. Onkel, sagte sein ältester Neffe. Wir brauchen deine alten Bücher nicht. Wir gucken lieber im Internet nach. Den Körper schmerzt es, dass niemand haben will, was er selbst nicht mehr braucht. Da wäre er gerne freigiebig gewesen. Die jungen Leute honorieren das aber nicht. Lieber reden sie über Fußballergebnisse und Computerspiele. Fragen sie den Körper, wie es ihm geht, scheinen sie die Antwort schon vorher zu kennen. Du bist halt alt, das ist normal. Warum so umständlich? Im Heim, da wärst du viel besser aufgehoben. Es ist ungerecht. Den Respekt, den er früher selbst älteren Menschen entgegen bringen musste, will er jetzt zurück. Doch er hat niemanden, der ihm zur Seite steht. In seiner Jugend schienen sich die alten Leute einig zu sein; sie bildeten eine Front, stets bereit, den Jüngeren einzubläuen, was sich gehört. Heute stellen sich Ältere auf die Seite der Jungen. Die Welt, die wir ihnen hinterlassen, ist nicht einfach, sagte eine graumelierte Dame, die mal neben ihm im Wartezimmer saß. Wir müssen geduldig sein. Doch der Körper ist nicht geduldig. So viel Zeit bleibt ihm nicht mehr. Er will, dass man sich für ihn interessiert. Doch stattdessen: mechanische Rituale. Die Gurkenfrau stellt ihm Essen hin, sagt, hier, gibt ihm den Löffel. Später räumt sie alles wieder weg. Sie will nicht mal wissen, ob es ihm geschmeckt hat. In der Nacht überhört er die Wand, prallt schmerzhaft mit der Hüfte dagegen und stürzt. Als er sich aufrichten will, knicken ihm die Arme weg. Also muss er liegen bleiben, sich selbst in den Achselhöhlen riechen. Im Schritt fühlt er sich feucht an, der Körper. Schon seit langer Zeit denkt er nicht mehr darüber nach, welchen Anblick er anderen bietet. Ein alter Körper, der nur noch eingeschränkt funktioniert, hat das Recht, hässlich zu sein. Die täglichen Reinigungen werden immer anstrengender. Sollen sich doch die Jüngeren um die Pflege des Körpers kümmern! Doch seine Neffen kommen so gut wie nie, und die Gurkenfrau verrichtet ihre Arbeit schamlos gleichförmig. Die alten Tattergreise, die in seiner Kindheit das Sagen hatten, pflegten ihre Marotten. Sie räusperten sich häufiger als nötig, sie schaufelten mächtige Portionen in sich hinein, tranken Schnaps auf Schnaps und furzten hinterher hemmungslos. Eklig, aber so war der Lauf der Welt, man nahm es taktvoll hin. Heute schnappt die Gurkenfrau hörbar nach Luft, wenn dem Körper ein Malheur unterläuft, und ermahnt ihn, in Zukunft besser aufzupassen. Von Takt keine Spur. Hätte er bloß noch mehr Kraft, er würde sich Takt und Respekt schon erzwingen! Besuch, sagt die Gurkenfrau. Ihr folgt eine Männerstimme, die Onkel Eugen zu ihm sagt. Dem Körper kommt der Klang bekannt vor. Das sieht aber gar nicht gut aus, sagt die Stimme. Der Körper liegt gut zugedeckt in seinem Bett und denkt, jetzt ist es also so weit. Nun werde ich verschickt. In die totale Würdelosigkeit. Mit unzähligen anderen Alten um die letzten Reste des Anstands kämpfen, der uns allen zusteht. Eigentlich wollte ich vorher sterben, aber das schaff ich nicht mehr, dafür bin ich zu schwach. Traurig eigentlich. Zu schwach, um selbstständig zu sterben. Mein Vater hat’s noch hingekriegt, der hat sich rechtzeitig aufgehängt, und meine Mutter? Dem Körper fällt nicht mehr ein, woran seine Mutter gestorben ist. Dabei war er auf ihrer Beerdigung. Weißer Sarg. Rote Blumen. Ein unbekannter Mann, der unablässig ihren Namen in ein Taschentuch schluchzte, bis ihn der Pfarrer mit bösen Blicken zur Ruhe mahnte. Wird der Körper auch einen Sarg kriegen? Blumen braucht er keine, die erinnern ihn allzu sehr an Dinge, die er nie hatte. Hochzeit. Garten. Familie. Will er alles nicht. Und der Neffe da, mit der vertrauten Männerstimme, der soll sich schleichen. Ich nehm dich erstmal mit, Onkel Eugen, sagt die Stimme und berührt die Schulter des Körpers. Im Hintergrund lacht die Gurkenfrau. Ihr Lachen klingt wie ein helles, knirschendes Weinen.
Zweiter Platz: „Breuer, Zielke und die Anderen“, Frank Schliedermann Der letzte Schlaf – was für ein ekelhafter Geschmack. Als ich das Bett zurückschlage, fällt es mir wieder ein. Der Scheißjahrestag! Auf dem Küchentisch brennen bereits Kerzen. Sonja hat sogar ein Buch besorgt. Silbernes Geschenkpapier. Wollten wir doch nicht mehr machen. Dachte ich. Sonja ist gleich in Fahrt. Geschirr wird in die Spülmaschine geschmissen. Sie legt sich noch mal hin. Zum Abschied hebt sie nicht mal mehr die Schlafmaske. Pissegeruch in der Tiefgarage. Ich finde meinen Wagen nicht. Muss denn hier jeder einen schwarzen Geländewagen fahren? Im Radio beginnen die Nachrichten. Ukraine, Syrien, Gaza. Danach Mungo Jerry. Mehrfach den Sender gewechselt. Hörerquiz. Fünf von acht Fragen hätte ich auch gewusst. 100 Euro gab es zu gewinnen. Die Frau am Telefon imitiert einen lahmen Orgasmus. Vollbremsung. Die flache Hand knallt gegen das Armaturenbrett. Diese Arschlöcher! Fahren einfach nicht. Hupen? Interessiert die gar nicht mehr. Auf einer Linksabbiegerspur lasse ich den Wagen einfach rollen. Dabei die Stoßstange des Vordermannes berührt. Wirklich nur leicht touchiert. Riesengezeter. Polizei gerufen. Halbe Stunde herumgestanden. Einen auf verständnisvoll gemacht. Endlich im Büro angekommen. Brainstorming mit dem ganzen Team. Sie haben extra auf mich gewartet. 35 Minuten lang. Die Schneider guckt vorwurfsvoll auf ihre Uhr. Was kann ich dafür, dass sie gleich schon wieder ihre Kinder abholen muss? Neue Ideen hat auch niemand. Mit dem Handy nach Büchern gesucht. Drei dieser Historienschinken bestellt. Einer davon wird Sonja bestimmt gefallen. Das Meeting zieht sich. Fordere mehr Engagement von allen. Fertig werden habe oberste Priorität. Am Abend sei schließlich die Weihnachtsfeier. Ein Fehler. Sofort aufgeregtes Getuschel. Mottoparty. An Arbeit ist jetzt nicht mehr zu denken. Gehe danach in die Küche. Andrea räumt gerade das Frühstück ab. Ein Croissant hat sie mir zurückgelegt. Lächelt mich an. Wie Frauen eben ihre Chefs anlächeln. Seit Hunderten von Jahren. Lasse mir einen doppelten Espresso ins Büro bringen. 54 Mails sind seit heute morgen eingegangen. Pakete am Frontdesk, Kuchen in der Küche. Herrje! Hat jemand Kopfschmerztabletten? Wen interessiert denn so etwas? HR heißt die neue Mitarbeiterin willkommen. Suche im Intranet nach einem Bild von ihr. Dann Google. Etwas bieder, die Kleine. Sie unterstützt das Team im Controlling. Breuer steckt den Kopf durch die Tür. Bleibt es bei heute Mittag? Ja, sicher! Ich tue, als wäre ich nicht im Geringsten überrascht. Schaue in meinen Kalender. Schiebe wahllos ein paar Termine hin und her, schreibe Mails: Geht leider erst nächste Woche. Zu viel Arbeit gerade, sorry! Nur das Jour Fix mit den Geschäftsführern könnte mir und Breuer noch in die Quere kommen. Die Ausstattungspakete der Dienstwagen stehen auf der Hidden Agenda. Der Drucker im Flur ist mal wieder kaputt. Der IT Ossi – „Das hamwa gleich wieder“ – macht sich unnötig wichtig. Wünschte mir, seine Kündigung auszudrucken. Stattdessen kommt die Mittagskarte vom DiMagios heraus. Plötzlich steht die Neue hinter mir. Gabi, freut mich. Ein Kopf größer als ich. Der IT-Ossi blickt auf die Menükarte meiner Hand. Er will wissen, ob Gabi schon eine Verkleidung habe. Was für eine unterwürfige Frage. Gabi, sage ich stattdessen. Guter Zeitpunkt, bei uns einzusteigen. Darauf sollten wir anstoßen. Heute Abend. Mein Zwinkern irritiert sie. Mit dem Anflug eines Ständers gehe zurück in mein Büro. Zielke passt mich an der Tür ab. Die neuen Ideen. Heute Abend noch. Vor der Party. Müssen richtig knallen. Einmalige Chance. Das andere Team hat abgeliefert. Dann eine synchrone Kopfdrehung auf den Hintern der Neuen. Eilig rauscht sie an uns vorbei. Zielke wendet sich ab und watschelt quietschend in sein Büro. Zurück an meinem Platz. Der Espresso ist mir nicht bekommen. Diese ständigen Magenschmerzen. Schicke Andrea zum Bäcker. Sie lächelt. Wie immer, Mettbrötchen? Ich nicke. Und auch gleich noch zur Apotheke. Anschließend mein Team zusammentrommelt. Die Ideen. Knallen einfach noch nicht. Bis heute Abend. Fertig werden hat oberste Priorität. Noch vor der Party. Einmalige Chance. Das andere Team hat abgeliefert. Diese Grünschnäbel! Sollten auf jeden Fall in die Schranken gewiesen werden. Sonst Nachtschicht statt Weihnachtsfeier. Oder es müssen ein paar Leute gehen. Ich hab die Regeln schließlich nicht gemacht. Jens, den Kreativdirektor, gebeten, noch einen Moment in meinem Büro zu bleiben. Mitarbeitermotivation. Habe ihm nochmals die Bedeutung des Projekts erklärt. Für die ganze Agentur. Vor allem aber für ihn persönlich. Schließlich sei er extra für solche Projekte geholt worden. Genau der Richtige, oder nicht? Vor der Tür riecht es bereits nach Mettbrötchen. Also, los jetzt! Erneute Abstimmung am frühen Abend. Andrea kommt rein. Zu den Magentabletten ein Glas lauwarmes Wasser. Wenn sie nur nicht so dick wäre. Unter ihrer grellen Bluse entweicht bereits etwas Schweißgeruch. Sie lächelt. Ohne Zwiebeln, wie immer. Gewohnheiten scheinen sie glücklich zu machen. Frage nach meinem Kostüm für heute Abend. Fast fertig, sagt sie. Anprobe am Nachmittag. Sie müsse heute auch etwas früher los. Sich hübsch machen. Ich nicke. Guter Witz. Sonja meldet sich. Schreibt, sie fahre jetzt zu einer Freundin. Bleibe über Nacht. Toller Jahrestag, schreibe ich zurück. Probiere Punkt, Ausrufe- und Fragezeichen. Auch verschiedene Emoticons. Entscheide mich am Ende für nichts davon. Das Jour Fix mit den Geschäftsführern ist auf den Nachmittag verschoben worden. Halbe Stunde Leerlauf. Die Magentabletten wirken nicht. Nach Blut im Stuhl gegoogelt. Bildersuche, versteht sich. Dem Brechreiz um ein Haar nachgegeben. Stattdessen masturbiert, um auf andere Gedanken zu kommen. Der neuen Buchhalterin die Flausen ausgetrieben. Immer nur Controlling. Einen Kopf größer als ich. Dabei lasse ich fast das Handy ins Klo fallen. Anschließend Moment der Klarheit gehabt: Es läuft nicht gut. Lunch mit Breuer. Faselt was von Kürzertreten. Moderne Familie. Holt jetzt dienstags und donnerstags die Kinder aus der Schule. Muss er. Dieser Waschlappen. Ob er die Neue schon gesehen habe? Gabi. Süßer Hintern. Breuer probiert einen verständnislosen Gesichtsausdruck. Nimmt frischen Fenchel als Vorspeise, danach Cordon Bleu. Erzählt von seinen Kindern. Von Fünf Freunde im Nebel als Hörspiel. Auch nach über 40 Jahren habe er die Stimmen der Zigeuner noch perfekt imitieren können. Etwas Spucke fliegt vor Begeisterung auf das Tischtuch. Ob Sonja auch wieder zur Weihnachtsfeier komme, will er wissen. Er habe sie schon so lange nicht mehr gesehen. Merke zu spät, dass er mich nur provozieren will. Zurück an meinem Schreibtisch blättere ich in meinem Kalender. Seit fast drei Monaten nicht mit Sonja geschlafen. Rekordverdächtig. Versuche, meine Beziehung zu Sonja als lebenslange Partnerschaft zu begreifen. Glück und Stolz dabei empfunden. Aber vor allem Erleichterung. Andrea erinnert mich an ein Personalgespräch. Gerd, ein alternder Kreativer, warte im großen Konferenzraum. Nichts ist trauriger. Er sagt, ihm falle nichts mehr ein. Ich nicke verständnisvoll. Immer kompliziertere Projekte, immer jüngere Zielgruppen. Ich nicke erneut. Er könne auch niemandem mehr etwas beibringen. Die vielen technischen Möglichkeiten heutzutage. Damit kenne er sich gar nicht aus. Im Grunde sei er überflüssig. So weit, so gut. Ob es da nicht langsam an der Zeit wäre, in die Geschäftsführung aufzurücken. Fragt er. Lächelt mich unverhohlen an. Der war nicht schlecht, sage ich und lächle zurück. Rausgeflogen wäre er eh. Anschließend das entscheidende Meeting mit meinem Team. Versuche Lockerheit zu verströmen. Genau das brauchen meine Leute jetzt. Eine Diskussion angezettelt, was schlimmer ist: Fett sein oder Glatze? Jens, dieser Schwachkopf, nimmt das alles viel zu persönlich. Am Ende Einigung erzielt: Fett sein ist schlimmer. Aber erst ab 100 Kilo. Jens kämpft um seine Ideen. Ob er damit jemals Erfolg hatte? Mit seinem weinerlichen Gehabe? Schließlich sei er selbst betroffen. Habe sich tagelang mit der Materie befasst. Genau der Richtige. Hätte ich selbst gesagt. Ich höre ihm noch eine Minute zu. Entscheide dann, dass wir doch meine Idee nehmen. Großes Geheule, als ich das Wort Nachtschicht in den Mund nehme. Verstehe die Aufregung nicht. Das war doch von Vornherein klar. Jetzt nur noch das Jour Fix mit den Geschäftsführern. Eigentlich gebe es nichts zu besprechen. Das übliche, informelle Geplauder beginnt. Eine junge Frau kommt rein. Kleiner Arsch, feste Titten. Breuers neue Teamassistenz. Sicher flüstert sie ihm was Versautes ins Ohr. Breuer sieht mich gnadenlos an. Zielke fragt nach der Präsentation. Wer sie halte? Dieser Jens? Redet zu viel, sage ich. Dieser andere – wie heißt er noch mal? Allgemeines Schulterzucken. Niemand weiß, wer gemeint ist. Kommt nicht mit dem Kunden klar, sage ich trotzdem. Und redet zuviel. Am Ende muss Breuer präsentieren. Hat er jetzt davon, mir beim Mittagessen auf die Nerven zu gehen. Wenigstens trägt er es mit Fassung. Das sei schließlich eine Superchance, den Kunden kennenzulernen. Anprobe mit Andrea. Top 10 Hits lautet das Motto – wer hat sich nur so etwas ausgedacht? Als ich meine Hose aufmache, wendet sich Andrea scheu ab. Viele Männer in Unterhose hat sie noch nicht gesehen. Der Astronautenanzug, den sie mir in den letzten zwei Wochen geschneidert hat, sitzt wie eine Eins. Gute Arbeit, sage ich durch das Visier meines Helmes. Hebe den Daumen wie ein Idiot. Was sie veranlasst zu denken, mir läge etwas an Konversation. Lady in Red heißt der Titel, auf den ihre umständliche Erzählung am Ende hinausläuft. Ich wünschte, sie hätte das nicht gesagt. Die Vorstellung – sie, in einem selbst genähten Kleid aus roter Spitze – bringt uns beide in Verlegenheit. Auf dem Weg zur Weihnachtsfeier kommen plötzlich Erinnerungen an das letzte Jahr. Die Geschäftsleitung war geschlossen mit ihren Ehefrauen erschienen. Unschlüssig standen Sonja und die anderen an der Bar herum. Wollten früh wieder nach Hause. So ein Design-Spasti aus Jens’ Team starrte Sonja die ganze Zeit über an. Plauderte mit ihr, über das Logo von Louis Vuitton. Fand sie offensichtlich attraktiv. Absurder Gedanke. Ich sehe noch Sonjas Gesicht, als sie die Haustür aufschloss. Ich hätte aber nette Kollegen. Das Loch, das meine Faust in der Rigipswand im Bad hinterließ, hat bis heute niemand repariert. Dieses Jahr hat Sonja gar nicht erst gefragt. Ist über Nacht verreist. Eine gute Entscheidung. Als was die Neue wohl kommt? Oder Breuers heiße Assistentin. Ich wette, er legt sie heute noch flach, bevor er nach Hause fährt und moderne Familie spielt. Den Taxifahrer gefragt, was er davon hält. Schulterzucken. Die Party kommt nicht in die Gänge. Zielke wollte sich persönlich um einen DJ kümmern. War sogar auf Ibiza deswegen. Oberste Priorität. Jetzt hat er ein Problem. Wieselt herum. Wo denn mein Team sei, will er wissen. Arbeiten, sage ich. Neue Ideen. Kommen später nach. Zielkes Zufriedenheit – Typ zynischer Millionär – wirkt vorgetäuscht. Er will mich loswerden. Breuer ist keine Gefahr mehr, seit er Teilzeit arbeitet. Wo ist Breuer überhaupt? Einen Moment glaube ich, Sonja auf der Tanzfläche zu erkennen. Andrea bringt mir einen weiteren Gin Tonic. Sieht mir bei den ersten Schlucken zu, als wolle sie mich betrunken machen. Versuche mir einen Dreipromillefick mit ihr vorzustellen. Lady in Red. Gewelltes Haar. Keulenartige Schenkel in roten Pumps. Breuer reißt mich schließlich aus meinen freudlosen Gedanken. Im Schlepptau hat er seine neue Assistentin. Pamela. Hat fast nichts an. Beuge mich vor, als hätte ich ihren Namen nicht verstanden. Breuer und sie reden aufgeregt durcheinander. Wie ein Teenagerpaar. Andrea beobachtet das alles aus ihrer Froschperspektive. Breuer gibt ihr ein Zeichen. Dachte zuerst, er will, dass sie abschwirrt. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist geronnenes Blut auf meiner Oberlippe. Krümel davon kleben auf meiner Zunge. Schmecken, als hätte ich sie von einem Jahrzehnte alten Groschen gelutscht. Jemand hat mir die Nase gebrochen. Auch Hemd und Sakko sind blutbefleckt. Mir ist kalt. Ich trage keine Hose mehr, keine Schuhe. Die Leute in der Fußgängerzone bemühen sich redlich, nicht die ganze Zeit auf meinen Schwanz zu starren. Wie der Griff eines Tischtennisschlägers zeigt er in ihre Richtung. Versuche ihn unter das Sakko zu stopfen. Spüre dabei keinerlei Berührung. Als verstecke ich eine viel zu starke Taschenlampe unter einer Bettdecke. Zwei Polizisten bringen mich ins Krankenhaus. Nehmen meine Personalien auf. Fragen, ob ich Anzeige erstatten will. Ich verneine. Telefon und Portmonee seien ja noch da. Unterschreibe mehrere Formulare. Stelle erschrocken fest, dass es bereits Samstag ist. Die Präsentation war also gestern. Ich muss Breuer anrufen. 24 Anrufe in Abwesenheit. Alle von Sonja. Breuer geht nicht ran. Zielke lässt sich verleugnen. Er ist immer da. Die Nase ist halb so schlimm, sagt die Ärztin. K.O.-Tropfen seien jetzt kaum noch nachweisbar. Und auf Viagra werde hier nicht getestet. Mein Lächeln schmerzt. Ihr’s dagegen ist irgendwie sexy. Auf eigenen Wunsch entlassen, sagt sie schließlich und macht ein Kreuz auf ihrem Klemmbrett. Ich überlege, gleich in die Firma zu fahren. Fahre erst nach Hause. Mich umziehen. Sonja ist ziemlich sauer. Später doch besorgt. Beim Versöhnungssex habe ich erste Flashbacks. Andrea hat sich zu mir gelegt. Ihr Bett quietscht entsetzlich. Ich bin vollkommen nackt und spüre ihre unappetitlichen Brüste an meinem Rücken. Kuschelei, flüstert sie mit kindlicher Stimme in mein Ohr. Kuschelei, große Kuschelei! Ihr drahtiges Haar kitzelt an meiner Schläfe. Sonja stöhnt inzwischen laut auf. Mein Schwanz ist nach wie vor steinhart, dabei spüre ich absolut nichts. Nach einer halben Stunde gibt Sonja entnervt auf. Gleich wieder Streit. Misstrauen. Rufe mir ein Taxi und fahre in die Agentur. Unterwegs kontrolliere ich mein Telefon. Zum Glück habe ich niemanden angerufen. Keine Nachrichten versendet. Oder habe ich sie gelöscht? Drei der Fotos auf meinem Handy habe ich noch nie gesehen. Das Erste zeigt Jens aus nächster Nähe. Er schwitzt und kommt mir bedrohlich nahe. Neonlicht spiegelt sich in seiner Glatze, auf die er sich einen Irokesen geklebt hat. An den Rändern guckt noch Teppichklebeband hervor. Auf seiner Stirn steht in roter Schrift „Qu’est-ce que c’est?“. Auf dem zweiten Foto ist Gabi, die neue Controllerin. Pechschwarze Nacht umgibt sie. Unscharf verschwimmen die Konturen ihres Gesichts. Als habe sie sich hastig umgedreht. Verärgerung ist zu erkennen. Vielleicht ist es auch Angst. Das letzte Bild zeigt Breuer. Lächelnd steht er vor einer Fensterfront. Könnte sein Büro sein. Draußen ist helllichter Tag. Das Foto wirkt gar nicht wie ein Handy-Schnappschuss. Breuers Gesicht ist perfekt ausgeleuchtet. Der Blickwinkel bewusst gewählt. Trägt er nicht sogar Make-up? Da hat sich aber jemand Mühe gegeben. Starre das Bild lange an. Kann es sein, dass wir uns geküsst haben? Die Büros sind leer. Nur Zielke ist natürlich da. Umständlich kommt er hinter seinem Schreibtisch hervor. Breitet die Arme aus. Ausgerechnet heute. Noch nie haben wir ein persönliches Wort gewechselt. Gratulation, ruft er, bevor ich etwas sagen kann. Die Präsentation sei fantastisch gelaufen. Der Kunde ganz begeistert. Das ist es also, denke ich. Es geht auch ohne mich. Zielke hat endlich einen Grund, mich rauszuschmeißen. Ich nicke erleichtert. Breuer hat also performt, sage ich durch die Zähne. Zielke blickt irritiert. Breuer? Den wollten sie doch nicht dabei haben.
Vierter Platz: „Der Auftrag“, Ulrich Effenhauser Unter anderen Umständen hätte ich natürlich nachgesehen, was es mit dem Geräusch auf sich hatte, aber ich hatte zu tun, entscheidende Vorarbeiten mussten erledigt werden, es konnte ja auch sein, dass das Kratzen gar nicht aus der Kleiderkammer, sondern von oben kam, von der Familie mit den Kindern, wofür ich meine Nerven, gerade an diesem Tag, wirklich nicht verschwenden konnte, also machte ich die Arbeitszimmertür hinter mir zu und vertiefte mich in meinen Auftrag, der von der Leitung als dringend und schwierig eingestuft worden war, ein Kollege meinte sogar, im Grunde könne nur ich dieses Problem lösen, ich benötigte daher völlige Konzentration und konnte mich um die, zunächst geringfügige, Störung wirklich nicht kümmern. Gegen ein Uhr in der Nacht, während ich grübelnd herumging, fiel mir das Geräusch wieder auf, es kam mir nun vor wie das regelmäßige Aufeinandertreffen von etwas Hartem mit Holz, eine Art Schnitzen mochte es sein oder ein Nagen, ich entschied daher, dass es besser sei, die Tür zur Kleiderkammer geschlossen zu halten und erst dann nach dem Rechten zu sehen, wenn ich mich auf die Vertreibung des Tiers ausreichend vorbereitet hätte, um etwas anderes konnte es sich, meines Ermessens, kaum handeln, es musste ein Nager sein, möglicherweise auch ein größeres Insekt, eine Schabe oder eine Grille, irgendwo hatte ich gelesen, dass sich überdimensionierte Käferartige mittlerweile gerne in Mietshäusern aufhalten, ich hielt es also für durchaus denkbar, dass in meine Kleiderkammer ein betreffendes Subjekt Einzug gehalten hatte, wo sonst sollte ein solcher Schädling zuerst Fuß fassen, wenn nicht in der Kleiderkammer, die sozusagen als Schleuse zwischen draußen und drinnen fungiert, und wenn dem so war, dann musste das Tier, so schnell es in die Wohnung gelangt war, ebenso schnell wieder vertreibbar sein, gleich für den nächsten Nachmittag hatte ich vor, wenn nicht selbst zu Werke zu gehen, so doch einen Fachmann zu bestellen, allerdings lag darin auch die Gefahr, mich der Lächerlichkeit preiszugeben, was nämlich, wenn es sich um etwas vollkommen Harmloses handelte?, man malt sich in Gedanken ja vieles weit schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist, insbesondere nachts neigt man zu dieser Lupenwahrnehmung, wie ich sie nenne, ein stellenweises Herabbröseln des Deckenputzes war, letzten Endes, vielleicht ebenso wahrscheinlich wie ein tierischer Geräuschursprung, auch dachte ich an eine eventuelle Aufwellung des Bodens, hatte ich nicht, so fiel mir ein, in der Vorwoche versehentlich neben den Sportschuhen eine Mineralwasserflasche auslaufen lassen, das Wasser, zumal mit Kohlensäure versetzt, musste in die Ritzen eingedrungen sein und jetzt von unten seine Wirkung tun, Holz arbeitet ja, zu diesem Ergebnis bin ich schließlich gekommen, so dass ich zunächst alle Gegenmaßnahmen zurückstellte, mich dann wieder, bis in die Nacht, dem Auftrag widmete, und als ich, nach etwa drei Stunden Schlaf, gegen sechs Uhr aufbrach, hatte ich die Störung mehr oder minder vergessen, meinen Anzug hatte ich, zum Glück, im Badezimmer aufgehängt, der Mantel lag in der Küche und die Schuhe hatte ich ausnahmsweise im Gang postiert, es gab also, bei Lichte betrachtet, keine echte Notwendigkeit, die Kleiderkammer aufzusuchen. Abends bemerkte ich nichts, weder in der Kleiderkammer, die ich zunächst mied, noch im Badezimmer, wo ich mich umzog, es ist freilich möglich, dass er in diesem Moment bereits hinter dem Duschvorhang verharrte oder dass ich ihn, vor Müdigkeit, einfach nicht wahrgenommen habe, obwohl er unmittelbar neben mir stand, den Kopf voller wichtiger Einzelheiten mag ich ihn tatsächlich übersehen haben, dergleichen kommt vor, auch bei meinen Mitarbeitern gelte ich als nach innen gewandt, zumal während der Erledigung schwieriger Aufträge, doch bislang hatte mir diese Eigenschaft eher Vorteile als Nachteile eingebracht, nicht umsonst bin ich derjenige in unser Firma, von dem es heißt, dass er in Notlagen die Ruhe bewahrt und selbst die heikelsten Probleme schnell und hundertprozentig bewältigt, ich rühme mich dessen nicht, ich bin es gewohnt, überlegt zu handeln, und die Tatsache, dass ich bislang noch jeden Angriff auf unser System abwehren konnte, halte ich für nichts anderes als eine Alltäglichkeit. Nach dem Verzehr eines Stücks Zwieback (wenn ich komplizierte Projekte zu bearbeiten habe, neige ich zu einem nervösen Magen, nicht selten verbunden mit Brechreiz), zog ich mich ins Arbeitszimmer zurück und stürzte mich in die Problemlösung, ohne allerdings recht voranzukommen, brauchbare Ansätze ergaben sich nicht, und als ich gegen zwei Uhr nachts versuchte, ins Badezimmer zu gelangen, musste ich feststellen, dass aus dem Inneren – mutmaßlich aus der Richtung der Dusche – wieder eigenartige Geräusche drangen, dieses Mal bedeutend lauter als am Vortag, es hörte sich an wie ein Zischen und Verdampfen, unterbrochen von gelegentlichem Hämmern, dessen Vibrationen noch auf der Diele spürbar waren, nachbarliche Klagen waren zu erwarten. Da ich zur Gründlichkeit neige, entschloss ich mich, trotz des Zeitdrucks, unter dem ich stehe, das Problem systematisch anzugehen und wandte mich, zunächst, der Kleiderkammer zu, wo die Störung als Erstes aufgetreten war, fasste Mut (ein Öffnen der Tür drohte die Auswirkungen auf die Gesamtwohnung schließlich zu vergrößern) und machte auf, wobei die Ansicht, die sich mir bot, im Widerspruch zu dem Kratzen vom Vortag, ganz und gar unauffällig war, eigentlich war alles wie sonst, ein oder zwei Hemden schienen mir verknittert, offenbar waren sie von jemandem anprobiert worden, und auf dem Boden entdeckte ich ein Metallstück, daumennagelgroß und verrostet, darüber hinaus fand sich nichts Ungewöhnliches, und meine Erleichterung, dass es sich offensichtlich nicht um ein Tier handelte, war so beträchtlich, dass ich mich von den aus der Form geratenen Hemden nicht weiter verunsichern ließ, gleichzeitig aber kam die Befürchtung in mir auf, ein Obdachloser könnte sich bei mir eingenistet haben, das Metall, augenscheinlich vom Schrottplatz, erinnerte mich sehr an entsprechende Personenkreise, auch drängte sich mir die, ethisch sicher nicht ganz einwandfreie, Überlegung auf, was wohl weniger von Schaden für mich sei, eine Schabe oder ein Obdachloser, und da ich noch ein paar Minuten Zeit hatte, begab mich nun, mit Entschlossenheit, zur Badezimmertür und versuchte diese zu öffnen, um den Eindringling, wer auch immer es sei, zur Rede zu stellen, doch die Tür war verschlossen, und durch die Sichtschutzscheibe konnte ich nur eine schemenhafte Gestalt erkennen, die sich gerade gebückt hielt, wobei ich erneut das undefinierbare Zisch- und Verdampfgeräusch hörte, welches mich, im Zusammenhang mit der dreisten Selbstverständlichkeit des Unbekannten, derart befremdete, dass ich zweimal heftig gegen die Tür klopfte und dringend bat, sich bitte zu erkennen zu geben, man könne die Angelegenheit doch auch von Angesicht zu Angesicht behandeln, aber es kam lediglich ein Wortschwall zurück, der sich nicht recht einordnen ließ, beim Weggehen hatte ich den Eindruck, als sei mir aus dem Badinnern, in seltsam beschwichtigendem Tonfall, die Wortfolge „keine Sorge, du bekommst es bald“ zugerufen worden, doch kann es sich auch um eine Fehlinterpretation meines Gehirns gehandelt haben, welches die undeutliche Aussage nicht präzise genug identifizieren konnte und daher zu einer Ersatzbedeutung griff. Da ich dem Menschen in meiner Dusche, als Obdachlosem, den Vorgang des Säuberns gönnte, selbst wenn er seine Verrichtungen, für meine Begriffe, zu geräuschvoll ausführte, und zumal ich schon länger das schlechte Gewissen mit mir herumtrug, für derartige Gesellschaftsschichten bislang zu wenig getan zu haben, unterdrückte ich mein wachsendes Unverständnis – mein Drang, mich zu erleichtern, war ohnehin bereits vergangen – und widmete mich, endlich, wieder der Arbeit, die keinerlei Abzweigung von Energien duldet, da sie von allerhöchster Komplexität ist. Irgendwann suchte ich für einen kurzen Schlaf das Bett auf, gegen halb acht wachte ich, mit deutlichem Verspätungsgefühl, auf, weswegen ich die Morgentoilette vernachlässigte und meine Wohnung schnellstmöglich verließ, in die ich gegen 19.45 Uhr zurückkehrte, wobei niemand anwesend zu sein schien, ich wagte daher einen kurzen Blick in das Badezimmer, wo alles, zu meiner Überraschung, aufgeräumt war, die Geräusche hatten ja ein mittleres Chaos vermuten lassen, nur stellte ich an der Duschwanne kleine Schlieren und Ränder fest, und ein wenig roch es nach Rauch, was ich auf Zigarettenkonsum zurückführte. Obwohl es mich ins Arbeitszimmer drängte, wollte ich mir noch geschwind ein Stück Zwieback einverleiben, doch als ich im Begriff war, die Küche zu betreten, saß er bereits am Tisch und aß, mit hörbarem Appetit, von mehreren, randvoll gefüllten Tellern, die leeren Dosen und Packungen lagen feinsäuberlich aufeinandergestapelt neben der Spüle. Da ich ihn nur von hinten sah, kann ich nach wie vor keine genaueren Angaben zu seiner äußeren Erscheinung machen, er ist von eher schlanker Gestalt, aber keineswegs großgewachsen, als muskulös würde ich ihn nicht bezeichnen, und doch strahlt seine Haltung eine gewisse Kräftigkeit aus, seine Frisur konnte ich nur kurz erkennen, da er den Kopf nach unten neigte, ich würde sie als durchaus gepflegt bezeichnen, mitnichten obdachlosentypisch, allerdings von stumpfem, unschönem Grau, insbesondere die Hände, die in der Sekunde, in der ich in die Küche starrte, gerade an etwas Blinkendem herumfingerten, sind mir verhältnismäßig gut in Erinnerung, sie wirkten feingliedrig auf mich, beinahe kam es mir vor, als hätten sie weibliche Züge, und die Farbe des Pullovers, den er anhatte, kann ich mit Sicherheit angeben, da es sich um mein Eigentum handelt, der Störenfried hatte, aus der Kleiderkammer, meinen roten Lieblingspullover entwendet, der ihm an den Ärmeln jedoch zu kurz und am Körper deutlich zu lang war. Selbstverständlich sprach ich ihn auf sein Verhalten an, an meiner Irritation konnte er keinerlei Zweifel haben, ich erhob meine Stimme einigermaßen laut, doch zur Antwort bekam ich nur eine gelangweilt wirkende Winkbewegung, woraufhin er, in plötzlicher Raschheit, zur Tür sprang und diese verschloss, sodass ich, reflexartig, zurückwich und nur noch seine dunklen Augen erkennen konnte, die darauf schließen ließen, dass er lächelte, während er mich meiner Küche verwies. Trotz meines Zeitproblems entschloss ich mich also zu Gegenmaßnahmen, ich ging zum Sicherungskasten und kappte in der Küche den Strom, danach postierte ich mich vor der Tür und forderte, mit klaren Worten, ein sofortiges Verschwinden, ansonsten würde ich die Polizei rufen, das Recht lag schließlich auf meiner Seite, danach wartete ich noch ein paar Minuten ab, aber keinerlei Reaktion erfolgte, ich war mir sicher, den Unbekannten mit meinem, doch recht drastischen, Vorgehen eingeschüchtert zu haben, und da es draußen schneite, tat ich ein Übriges und stellte in der gesamten Wohnung die Heizung ab (im Winter wird es nachts in der Küche, die nach Norden zeigt, empfindlich kalt), während ich, dank mehrerer Decken, keine Unannehmlichkeiten zu befürchten hatte, doch leider gelang es mir in den folgenden Stunden, wider Erwarten, nicht, den Auftrag zu abzuschließen, mein Kopf fühlte sich wie eingefroren an, so dass ich mich, früher als sonst, ins Schlafzimmer zurückzog, um Kraft für den nächsten Tag zu schöpfen, an dem es nicht nur galt, endlich die Leitung zufriedenzustellen, sondern auch meine Wohnung von dem Unbekannten zu befreien, auf die Abendtoilette verzichtete ich, da ich sonst an der Küche hätte vorbeigehen müssen, völlig, ein erneutes Aufeinandertreffen hätte mich nur über Gebühr aufgewühlt, also stieg ich mit dem Anzug ins Bett, was, in Stresssituationen, schon einmal angehen kann, ich fühlte mich sogar erstaunlich wohl in dieser Lage, zumal ich am nächsten Tag, so wie ich war, unverzüglich aufbrechen konnte, zur Beschleunigung des Einschlafens beschäftigte mich in Gedanken noch mit einem Subproblem, ich befand mich auch schon kurz vor dem Wegdämmern und wollte mich nur noch einmal umdrehen, da stieß ich mit meiner Hand gegen etwas Festes, Warmes, es war deutlich zu spüren, dass jemand in meinem Bett lag, aber statt aufzuschrecken und davonzulaufen, entschied ich mich, so zu tun, als hätte ich etwas vergessen und müsste deswegen noch einmal aufstehen, dabei erschien mir ratsam, zur Tarnung mit der größtmöglichen Langsamkeit vor die Schlafzimmertür zu schlurfen, wo ich in plötzlicher Schnelligkeit versucht hätte, den Schlüssel zu greifen, draußen einzustecken und umzudrehen, damit der Unbekannte eingesperrt wäre, daraufhin hätte ich, ohne Zögern, die Polizei verständigt (die Worte, die ich während der Wartezeit an den Unbekannten gerichtet hätte, wären sicher keine höflichen gewesen), bedauerlicherweise befand sich aber der Schlüssel nicht wie sonst im Schloss, vielmehr musste ich feststellen, dass alle anderen Zimmer, bis auf das Arbeitszimmer, abgeschlossen waren, der Unbekannte hatte mich übertölpelt, was meine Stimmung derart beeinträchtigte, dass ich mit aller Kraft gegen die Schlafzimmertür schlug (lautes Schreien verbot sich im Hinblick auf die Nachbarn), erst nach zwei, drei Sekunden fand ich meine Beherrschung wieder und blickte durch das Schlüsselloch, wobei ich erneut die Hände des Eindringlings sehen konnte, die sich, im Licht meiner Nachttischlampe, in schneller Abfolge gegeneinanderbewegten und dabei ein schleifendes Geräusch produzierten, mehr ließ sich nicht erkennen. Da in den anderen Zimmern noch immer die Vorherrschaft des Fremden zu vermuten ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich, im Arbeitszimmer, mit meinem Auftrag zu beschäftigen, der mit jedem teilweisen Fortschritt im Gesamten immer verzwickter zu werden droht, so dass ich, in gewissem Maße, besorgt bin, wer weiß, wie die Leitung auf die Komplikation reagieren wird, für meine Kollegen, die den Auftrag nicht bekommen haben, wird es ohnehin ein gefundenes Fressen sein, mich als Gescheiterten zu sehen, ich starre seit Minuten gedankenlos in die Luft und treffe mit meinem Blick immer wieder das Telefon in der Diele, wobei ich in Erwägung ziehe, mich möglicherweise doch noch vorzuwagen, um die Polizei zu verständigen, gewiss handelt es sich um einen Straftäter, es wäre auch meine Bürgerpflicht, mich bei seiner Bekämpfung zu beteiligen, doch gerade jetzt, wo ich mir die Worte für das Telefonat zurechtlege, sehe ich, aus den Augenwinkeln, wie der Unbekannte, gar nicht einmal überstürzt, zu mir ins Arbeitszimmer schreitet, um das Messer, von dem er sagt, er habe es für mich gemacht, mit seinen dürren Armen, durch die Decken hindurch, mir in den Rücken zu treiben, was mich an der erfolgreichen Fertigstellung meines Auftrags vollends verzweifeln lässt, und im Dahinsinken meines Körpers muss ich, beschämt, zur Kenntnis nehmen, dass ich die Gründe meines Versagens der Leitung gegenüber, unglücklicherweise, nicht persönlich werde erläutern können.
Fünfter Platz: „Substanzen“, Andreas Kurz Diese Mittel wirken ja nicht so schnell. Es dauert, bis man etwas merkt. Sie schleichen sich an, lullen dich ein, bis du glaubst, es wäre ganz normal. Mir fiel es eigentlich erst auf, als sie mich schon so gut wie im Sack hatte. Samstag Abend, ich saß auf der Couch und es dämmerte mir irgendwann, da doch tatsächlich gerade einer alternden Sängerin zu lauschen, die ihre Hängebacken über griechische Sonnenuntergänge wackeln ließ. Als erwachte ich aus einem diffusen Nebel, schälten sich die Konturen einer seltsamen Welt aus dem Nichts. Ich bemerkte, eine Tasse Tee in der Hand zu halten, ich schnupperte, Fencheltee, ein Holzstäbchen Kandiszucker schwamm darin. Über meine Beine breitete sich eine braun und ocker gemusterte Wolldecke, Rauten und Linien, darauf lag die Fernsehillustrierte, aufgeschlagen, erstes und zweites Programm, öffentlich-rechtlich, die ganz harte Nummer. Meine Frau, die, wie ich mich plötzlich erinnerte, irgendwann nur noch Bärbel genannt werden wollte, strickte und lächelte mich an. „Alles wird gut“, sagte sie zu mir mit einem bis an die Grenze zur Blödsinnigkeit sanften Blick. Sie ergänzte, ich könne ganz unbesorgt sein. Es sei doch sehr gemütlich so. Kuschelig. Sie zwinkerte mir zu. Aber da spürte ich längst ihre Panik, ihre Augen irrten jetzt durch den Raum, als suche sie nach etwas, was sie übersehen haben könnte. „Was soll das hier?“ Ich befreite mich von der Decke, die Illustrierte rutschte zu Boden. Ich trug einen grünen, wattierten Frotteeoverall mit Handtellergrossen rosa Knöpfen und Osterhasenmotiven darauf. Und ein gestricktes Mützchen. „Was soll schon sein?“, druckste sie herum, das schlechte Gewissen wie eine Blinkleuchte auf der Stirn. Ich öffnete den ersten Knopf unter meinem Kinn. Unter dem Overall war ich nackt, die Haut glänzte speckig nach Babyöl. „Hier stimmt doch etwas nicht“, stieß ich hervor. „Was du nur immer hast.“ Ich deutete zum Fernseher. „Ja aber … Das ist ein scheiß Programm. Warum schalte ich nicht um? Warum hast du überhaupt die Fernsteuerung? Und ich trinke niemals Tee, ich hasse dieses Schlabberzeugs.“ Da bemerkte ich, wie sie möglichst unauffällig ein kleines Fläschchen vom Nebentisch nahm und verstecken wollte. Ich warf mich auf sie und riss es ihr fort. Das Fläschchen war leer, das war wohl der Grund für mein Erwachen. Auf dem Etikett stand Spießikum. Hatte ich noch nie gehört. Trotzdem wusste ich sofort, von wem sie es hatte. Ich zielte mit dem Finger auf sie. „Du und deine dämliche Heilpraktikerin, hab ich recht?“, polterte ich los. „Das habt ihr euch wirklich fein ausgetüftelt.“ Betreten senkte sie den Blick. „Seit wann gibst du mir das schon?“ „Es ist doch nur zu deinem Besten“, wich sie mir aus. „Bist du verrückt?“, schrie ich sie an. „Es macht mich völlig gaga.“ „Im Gegenteil“, murmelte sie, „ich kann so viel besser mit dir zusammen sein.“ Ich begann im Zimmer auf und ab zu rennen. „Aber ich bin erst vierzig, ich will noch was erleben.“ „Schon vierzig“, sagte sie tadelnd, die Hand erhoben und die Stirn gekraust. „Da sollte man anfangen, an die Gesundheit zu denken. Man muss mit ihr hauszuhalten. Und kürzer treten. In jeder Weise. Ja ja.“ Sie sagte es wie eine Oberlehrerin. Auf einmal begriff ich es. Seit Monaten hatte ich bereits das Gefühl, den Kontakt zu mir selbst zu verlieren. Auf dem Weg in die Arbeit döse ich zufrieden im Bus oder lese interessiert eine Krankenkassen-Zeitung, die man mir unaufgefordert zuschickt. Die Leber, ein Spiegel deiner Seele. Stilles Glück mit Topfpflanzen. Früher hatte ich nie etwas gelesen, nur den jungen Dingern auf den Arsch gestarrt, in den Ausschnitt, sonst wohin. Und mich immer über irgendetwas geärgert, ach was, tierisch aufgeregt. Über die Drängelei, über den widerlichen Gestank der fremden Leiber, über meinen faden Job, in dem ich keine Zukunft sah. Doch plötzlich ertrage ich die Tage gleichmütig. Die Schalterstunden mit den genervten Bürgern, meinen unfähigen Chef, meine fetten Kolleginnen mit ihren Plappermäulern. Lächle nur, entdecke das Schöne im Kleinen, im Nebensächlichen, fahre wie in Trance nach Hause, verbringe den Feierabend ans Balkongeländer gelehnt, betrachte am Horizont die gute, alte, tröstende Sonne, während unten auf der Straße sich die Rad- und Autofahrer duellieren, sich anschreien und beleidigen, Jugendliche mir den Finger zeigen, Hundebesitzer ihre Missgeburten auf den Grünstreifen kacken lassen, all das wie durch einen Zauber wunderlich egal. Keine Wut mehr, kein Aufbegehren, kein Mumm in den Knochen. Wie ein Mönch in seiner Klause nehme ich die Tage einfach so hin. Als hätte eine höhere Einsicht meinen Kopf durchblasen und alles ausgefegt, was mal ich gewesen war. Ich begann alles zu durchwühlen und machte mich auf die Suche. Kampflos würde sie mich nicht kriegen, niemals. Schon nach kurzer Zeit wurde ich fündig. Unter unserem Bett türmten sich Kiloweise Kristalle, grüne, blaue, rote, das Betriebslämpchen eines verdächtigen schwarzen Kastens glomm, Energizer stand drauf, es roch auch komisch, fiel mir auf, sie musste Räucherstäbchen verbrennen, wenn ich zur Tür draußen war. Ich riss das Fenster auf, ließ Luft und Lärm und Leben herein. Aus ihrer Nachttischschublade quoll mir ein Haufen leerer Fläschchen und Packungen entgegen, deren Inhalt sie ganz sicher nicht selbst genommen hatte. Kuschelbär extra, Pantoffelheld Oral, Ganz-der-Meine forte. Ich hätte kotzen können. Bärbel schlich mir hinterher, beobachtete mich, schien verzweifelt. „Warum sträubst du dich?“, redete sie auf mich ein. „Sei doch einfach so, wie ich es mir wünsche.“ Das war stark! Mir schwoll der Kamm. „Warum bist du nicht so, wie es mir lieber wäre?“ Ihre Lippen wurden sehr schmal. „Natürlich“, tat sie schnippisch, „es soll stets nach deinem Kopf gehen.“ Ich warf alles weg, was ich finden konnte, ihre Niederlage sollte absolut sein. Tagelang sprachen wir kein Wort miteinander, meine Speisen und Getränke bereitete ich mir selbst. Jeder Tag brachte mein altes Leben ein Stück zurück. Zuerst gesellte sich die schlechte Laune wieder zu mir, der allgemeine Missmut, mein Blutdruck erhob sich, meine Lippen pressten sich wieder zusammen und das war gut so, ich fand zu mir selbst zurück. Doch wie ich an einem grauen Montag Morgen durchs regennasse Busfenster starre, kommt mir plötzlich ein großartiger Gedanke. Ich sagte mir, das kann ich auch! Von einem Arbeitskollegen, der nur mitgebrachte Rohkost aus einem Hofladen aß und ein CO²-freies Leben führte, bei dem er selbst Blähungen mied, ließ ich mir einen Heilpraktiker empfehlen, aber einen, der auf der richtigen Seite stand, nämlich der männlichen. Der Kerl war dünn und groß, lächelte wie nicht von dieser Welt, nickte und tat, als verstünde er mich gut. Er schlug den Gong, um sich zu zentrieren, schloss die Augen, hob das Kinn, summte, ließ was weiß ich für Energien durch seinen Körper rieseln, berauschte sich wahrscheinlich am Gedanken an die fette Rechnung, die er stellen würde. „Hör mal zu, du Pappnase“, knurrte ich ihn an. „Ich brauche ein Gegenmittel.“ Er linste mich über seinen Schreibtisch aus Indianergeweihter Rotkiefer hinweg an wie ein verschrecktes Reh. „Äh … Inwiefern?“, wollte er wissen. „Keine Ahnung, eine Art Schlampikum, oder wie man das nennen will.“ „Verstehe“, meinte er verhuscht. Ich zog ihn an seinem Streichelzarten Halstuch zu mir herüber. „Hochpotent“, fuhr ich ihn an und er zuckte zusammen. Der dünne Kerl in seinem roten, selbstgestrickten Tibetschafpulli guckte mich an wie einer, der gerne Bäume umarmt, gab sich aber immerhin Mühe. Er zog ein dickes Buch aus dem Regal, blätterte darin herum, kratzte sich am Kinn, murmelte Fachbegriffe oder vielleicht auch nur das Mantra der Unwissenden und verzweifelt Suchenden. Am Ende stellte er mir alle möglichen Fläschchen und Döschen zusammen, auch Tropfen, Energiesteine und Kraftfeldverstärker waren darunter. Absolut nicht billig, muss ich sagen. Es war mir egal, ich wollte den Sieg, also musste ich aus allen verfügbaren Rohren feuern. Zuhause angekommen, trennte ich mich gleich von seinen laschen Dosierungsvorschlägen. Winzigkleine Kügelchen, was sollen die schon können? Fortan pfefferte ich es meiner Frau überall rein, streute es über Speisen, tropfte es in Getränke, selbst in die Zahnpasta presste ich Globuli, auf das sie sich diese ins Zahnfleisch massiere, bis ihr Körper und Geist klein beigibt. Unter meine Matratze schob ich sicherheitshalber eine Bleiplatte von der Stärke, dass selbst eine Kernschmelze keine Chance hätte, bis zu mir vorzudringen. Das sollte für die Strahlen ihrer Kristalle oder was sie sonst noch aus dem Hut zauberte, dicke reichen. Es war unser privates Wettrüsten, denn ich wusste natürlich, sie machte es genauso bei mir. Es wurde ein regelrechter Krieg daraus, ein unerklärter, aber dafür umso verbissener geführter. Verließ einer von uns das Zimmer, um mal ins Bad zu gehen, nutzte der andere sofort die Gelegenheit, um seine Mittelchen aus Dosen, Flaschen und Kanülen anzuwenden. Das meiste trug ich immer bei mir, um ihr keine Gelegenheit zu geben, daran zu manipulieren. In die Erdnüsse, in den Prosecco, in ihren geliebten Joghurt und Heile-heile-Segen-Tee, ganz egal, überall kriegte sie ihre Dosis mit, selbst wenn sie schlief und schnarchte, sich ihr kleiner Mund nur einen Spalt breit öffnete, war ich zur Stelle, ergriff meine Chance und ließ winzige Substanzen in sie hinein fallen. Nach einigen Wochen hatten wir es beide nicht mehr im Griff, die Lage spitzte sich dramatisch zu. Sie tauchte plötzlich im knappen Fummel auf, mit Push ups, die versuchten, ihren kleinen Busen bis auf Schulterhöhe hinauf zu quetschen und wollte alles auf einmal, ausgehen, Party und unanständige Sachen machen, während ich mich bereits auf zwanzig Uhr fünfzehn freute und gedanklich mit ihrem Strickzeug beschäftigte. „Nenn mich nie mehr Bärbel“, zischte sie mich an. „Ich bin jetzt Barb. Aber nicht irgendeine beschissene Bitch-Barb, sondern jene einzigartige Sharp Barb, die dir das Hirn rauspustet, wenn sie dir näher kommt.“ Sie wickelte ihr rechtes, Strapsbestrumpftes Bein um meine Hüfte und zog sich eine Haarsträhne quer über den Mund. Ich schupste sie weg. „Oswin“, hielt ich dagegen, eine spontane und ganz aus dem Bauch kommende Replik. Ein Name, der schon Wochen in mir gereift sein musste. „Oswin der Verlässliche.“ „Du bist so ein Langeweiler“, fuhr sie mich an. „Schau doch mal in den Spiegel, wie du ausschaust“, bellte ich aufgebracht zurück, „wie eine vom horizontalen Gewerbe.“ Der Teufel lächelte aus ihr heraus. „Dafür werde ich heute Nacht ein wenig Spaß haben.“ „Du Schlampe!“ „Du Spießer!“ Türen knallend verließ sie mich, um erst am nächsten Mittag wieder aufzutauchen. Die Haare zerzaust, die Kleidung verrutscht und unvollständig, stakste sie auf hochhackigen Absätzen heran, ihre beschwipste Laune dabei wie eine Siegestrophäe vor sich hertragend. Ich folgte da gerade einem unwiderstehlichen inneren Zwang und wischte die Küchenschränke mit Essigessenz aus, nachdem ich die Teppiche hinunter in den Hof getragen und gründlich ausgeklopft hatte. Ohne Reinigungsmittel natürlich, ganz umweltschonend. Wie zwei Fremde aus unterschiedlichen Galaxien starrten wir uns an. „Ich werde dich verlassen“, sagte sie, die Nase stolz erhoben und die Augenbrauen ernst zusammengezogen. „Ja, geh doch in deinen Sumpf!“, trotzte ich zurück. Es war wohl das beste, wer weiß, was wir einander noch angetan hätten. Sie packte und nahm all ihre Sachen mit, auch die Kristalle, Voodoo-Puppen und Zehner-Potenz-Kügelchen. Nach einer Weile verspürte ich keine Lust mehr auf Tee und Fenster putzen, der Kühlschrank füllte sich mit Bier und die Wohnung mit getragener Wäsche. Mein Leben taumelte zurück in die alte, abgestandene Unzufriedenheit und bald riss ich wieder verzweifelt an den klirrenden inneren Ketten, die mich vor allem daran hinderten, endlich jenes Leben zu führen, das mir eigentlich entsprach. Ich wurde wieder ganz ich selbst, hatte keine Freunde und baggerte alles an, was im Prinzip an eine Frau erinnerte. Die Masse macht es letztendlich, nimm Schrot und ballere, was das Zeug hält, das empfiehlt dir jeder Jäger. Es war nichts, womit man angeben konnte, aber es war mein Leben, immerhin. Vor kurzem traf ich Bärbel auf der Straße, zufällig. Ich war überrascht. Kein Fummel-Outfit mehr, nur noch die graue Maus, in die ich mich mal verliebt hatte auf die mir so eigene verzweifelte Art und Weise. Verlegen blieben wir voreinander stehen und musterten uns. „Du siehst aus wie früher“, sagte ich. „Du aber auch.“ Wir mussten nicht viel reden, um uns wieder sehr vertraut zu fühlen. Zu blöd, wir hatten so gut zueinander gepasst. Jeder war, wie ihn sich der andere zwar nicht wünschte. Von dem er aber auf angenehme Weise glauben durfte, leichtes Spiel mit ihm zu haben. Wir waren einander überlegen, jeder auf seine Weise. Und konnten aneinander dieses großartige Gefühl genießen. Das verband uns auf fast magische Weise. „Wir hätten uns nicht trennen müssen“, sagte ich leise. „Wohl nicht“, murmelte sie. „Na dann …“ Ein Wochenende sie, eins ich, das ist jetzt unser Deal. Die Cocktails, die wir einander bereiten, werden immer raffinierter. Mit der Zeit bekommt man den Dreh raus, welche Substanzen in die richtige Richtung wirken und welche eher nicht. Wir sind jetzt, würde ich mal sagen, glücklich. Wobei vor kurzem ihre jüngere Schwester zu Besuch war, die sich erstaunlich entwickelt hat. Bärbel hatte einen Termin, den sie nicht verschieben konnte und ihre Schwester bat mich um eine Tasse Tee. Na, wie soll ich sagen, ich konnte irgendwie nicht widerstehen. Jedenfalls, wenn ich woanders eine Tasse Was-auch-immer angeboten bekomme, schütte ich sie unbemerkt in die nächste Vase.
Sechster Platz: „Ferien“, Nike Boes In der ersten Nacht seines Urlaubs schläft Oberfeldwebel Dörne ein letztes Mal mit seiner Frau. Monatelang hat er auf diesen Augenblick gewartet, schlaflos und schwitzend zwischen schnarchenden stinkenden Kameraden auf einer unbequemen Pritsche liegend, dem Geraschel der vorbeihuschenden Ratten und dem Brummen der Klimaanlage lauschend, träumte er von Sex auf frisch gestärkten Laken im heimischen Schlafzimmer. Am Morgen erst ist er in Deutschland gelandet, mit einer Transallmaschine über Umwege aus Kundus, eigentlich sollte er schon am späten Nachmittag zuhause eintreffen, aber die gründliche deutsche Administration am Flugplatz hat wie immer länger gedauert, und er erreicht sein weiß verputztes Reihenhaus in den Außenbezirken von G. erst am späten Abend. Die Kinder sind beim Warten auf den Vater auf dem Sofa eingeschlafen. Auf dem Couchtisch liegen Zeichnungen, die sie in den langen Monaten seiner Abwesenheit für den Vater gemalt haben. Dörnes Frau kämpft mit Rührung und Tränen und presst ihn in einer zitternden Umarmung an sich. Er atmet den Duft ihrer Haare, sie benutzt ein neues Shampoo, der Geruch ist ihm fremd. Gemeinsam tragen sie die Zwillinge ins Bett. „Gleich haben wir Zeit für uns“, flüstert seine Frau beim Zudecken der Tochter, mechanisch wirft er die Bettdecke über seinen schlafenden Sohn. Der Junge ist sieben und lutscht noch immer am Daumen. Jetzt, wo er wieder da ist, muss er ihm diese Kinderei dringend abgewöhnen. In Afghanistan wäre er alt genug, um zu arbeiten, alt genug, um als Lockvogel bei einem Sprengstoffanschlag missbraucht zu werden. Kurz ist Dörne versucht, dem schlafenden Kind den Daumen aus dem Mund zu ziehen und der Nuckelei ein Ende zu bereiten, aber da fasst seine Frau ihn am Handgelenk. „Komm!“ Alles ist falsch: das Zimmer, das ordentlich gemachte nach Weichspüler duftende Bett, seine Frau, die die rote Spitzenwäsche trägt, die er ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hat, der Ausdruck in ihren Augen: die unsagbare Erleichterung, die in Monaten aufgestaute Sehnsucht. Dörne ist unvorbereitet in einen Hinterhalt geraten. Deckung suchen, feindliche Gefechtsposition aufklären, schreit es in ihm, während seine Frau den BH auszieht und das Höschen abstreift. Aber es gibt keine Rückzugsmöglichkeit, und der Oberfeldwebel, noch in Uniform, reißt sich Tarnanzugshose samt Feinripp bis zu den Knien herunter und humpelt, die schweren Stiefel noch an den Füßen, zwei Schritte bis zum Ehebett. Das Schamhaar seiner Frau ist kurz geschoren, die dunklen Stoppeln erinnern ihn an die Zacken von Nato-Draht. Sein Penis aber weiß besser als er selbst, was zu tun ist, und so dringt Dörne in seine Frau, wie man eine frisch eroberte Stellung einnimmt: schnell, effizient und mit der gebotenen Härte. Anschließend steht er auf, duscht und schlüpft in Jeans und Oberhemd, die schon für ihn bereit liegen und in denen er sich unbehaglich und schutzlos fühlt wie eine Schildkröte ohne Panzer. Eine Entschuldigung murmelnd, dem enttäuschten, besorgten Blick seiner Frau ausweichend, geht er zurück ins Wohnzimmer, wo er sich aufs Sofa setzt, auf die blinkende Digitalanzeige des DVD-Players starrt und dem entfernten Rauschen der Autobahn lauscht, die nur hundertfünfzig Meter übers offene Feld hinter der Grundstücksgrenze verläuft. Irgendwann steht er auf, reißt die Gartentür auf, lässt Autobahn und schwüle Nachtluft ins Zimmer, legt sich zurück auf die Couch und schläft schließlich ein. Auch in den nächsten Nächten schläft er auf dem Sofa. Er trägt wieder Uniform, Jeans und Hemd hat er ordentlich gefaltet auf den Stuhl im Schlafzimmer gelegt, sie sind nicht weggeräumt worden, liegen noch immer dort, wartend und anklagend. Seine Frau wirft ihm abwechselnd müde verzweifelte oder besorgte Blicke zu und schickt ihn mit den Kindern in den Garten. Die Zwillinge toben hinter dem Fußball über den Rasen, er bleibt auf den Steinplatten, seine Armeestiefel berühren nicht einen Grashalm. Der Junge schießt den Ball bis zur Hecke im hinteren Teil des Gartens, wo das Rauschen der Autobahn viel stärker zu hören ist als am Haus. Dörne verfolgt die Schritte seines Sohns, er ist sich nicht sicher, ob er schwer genug ist, seine Tochter läuft ihrem Bruder hinterher, so viel Gewicht müsste ausreichen. Er hält den Atem an. Nichts passiert. Die Kinder kämpfen kichernd um den Ball, kicken ihn ungeschickt hin und her. „Du auch, Papa.“ Dörne bleibt auf den Steinplatten und zündet sich eine Zigarette an. Abends baut er das Zelt aus dem Keller neben der Hecke auf. Der Platz scheint ihm jetzt sicher, nichts ist explodiert, keine Minen oder Sprengfallen. Das Rauschen der Autobahn erinnert ihn an das Brummen der Klimaanlage im Außenlager, die Luftmatratze ist unbequem wie seine alte Pritsche, es ist zwar zu kalt, und das Schnarchen der Kameraden fehlt, aber er schläft trotzdem sofort ein. Er will seiner Frau erklären, dass er nicht mit den Kindern auf den Spielplatz gehen kann, während sie einkaufen geht. Es gibt dort Sandkästen, Rasenflächen, mit Rindenmulch bestreute Wege, mindestens fünf Abfalleimer, einfach unmöglich, dieses unübersichtliche Areal alleine aufzuklären. „Bitte!“ Er schüttelt den Kopf, fast hat er Mitleid mit ihr. „Jens, es reicht“. Das linke Augenlid seiner Frau zuckt nervös. „Es sind deine Kinder. Sie brauchen dich!“ Er reagiert nicht. Mehrmals hat er versucht, ihr zu erklären, dass sie ihn so nicht nennen soll. Sein Vorname ist ihm fremd geworden. Er ist Dörne, oder, ganz offiziell, Oberfeldwebel Dörne, die Zugkameraden rufen ihn Deo, weil er auch bei mehr als 45 Grad im Schatten und Aufklärungsmärschen mit 35 Kilo Gepäck auf dem Rücken noch den eigenen Gestank mit dem hartnäckigen wiederholten Aufsprühen von AXE zu bekämpfen versucht. Auch die anderen Kameraden haben Spitznamen: Mücke, Socke, Swatch, Cola und Rizzo. Seinen Namen lässt man gemeinsam mit zivilem Leben und Identität in Deutschland zurück. „Jens, bitte, so geht das nicht länger.“ Die Stimme seiner Frau hämmert wie ein Maschinengewehr mit leichter Ladehemmung. Tack,tack…tack,tack,tack…tack. „Kannst du mich nicht Deo nennen?“, fragt Dörne so freundlich es ihm möglich ist. Die Kinder hängen wie lästige Kletten an seinen Hosenbeinen. „Bitte, Papa, wir wollen auf den Spielplatz“. „Deo?“ Der Unglauben im Gesicht seiner Frau nimmt um die Augen herum wütende Züge an. „So nennen mich alle im Zug“. Der Oberfeldwebel sehnt sich nach etwas Vertrautem, etwas das ihm nicht so fremd ist wie das Wohnzimmer seines Reihenhauses, die zornige Frau, die vor ihm steht, die beiden quengelnden Kinder an seinen Hosenbeinen. Seinen liebgewonnenen Namen einzufordern, findet er nicht übertrieben. Er ist Gruppenführer, bekannt dafür, seinen Jungs nie mehr als das Mögliche abzuverlangen. Seine Bitte scheint ihm im Gegensatz zu den Befehlen, die er in den letzten Monaten gebrüllt und die, obwohl sie oft akute Lebensgefahr bedeuteten, ohne Murren erfüllt wurden, zumutbar. Seine Frau sieht das anders. „Nein“, sagt sie entschieden, „das kann ich nicht. In unserem Zuhause heißt du Jens und nicht Deo. Du bist nicht mehr in Afghanistan.“ Offenbar glaubt sie, dass Afghanistan tatsächlich ein Ort ist, den man verlassen kann, indem man sich in ein Flugzeug setzt. Nur wer dort gewesen ist, weiß, dass es sich mit Afghanistan wie mit Hundekacke unter einer Profilsohle verhält: auch nach gründlichem Kratzen bleiben Spuren und Gestank zurück. Aus einer Berufung, die er vor fast zwei Jahren gefühlt hat, ähnlich klar und unbefleckt wie eine jungfräuliche Novizin vor der Einkleidung, ist während des Einsatzes eine Bestimmung herangereift: seine Mission. Für immer ist Afghanistan in ihm und er für immer in Afghanistan. Abends telefoniert seine Frau lange. Dörne liegt in seinem Zelt, raucht, und sieht sie mit dem Telefon am Ohr durch das Wohnzimmer laufen, es sieht aus, als ob sie weint. Der Raum ist hell erleuchtet, aufgebracht tigert sie am Fenster auf und ab, für einen Scharfschützen ein gefundenes Fressen. Am nächsten Morgen klingelt es. Vor der Haustür steht Mücke. Swatch und Cola warten im Wagen. Er hat fast vergessen, dass sie heute Socke besuchen wollen. „Was soll die Uniform?“, fragt Mücke, während er auf die Rückbank klettert. Die Frage findet Dörne so merkwürdig, dass er sie nicht beantwortet. Die Fahrt ins Bundeswehrkrankenhaus dauert eine knappe Stunde. Auch wenn die Kameraden zivil tragen, ein Anblick, an den er sich nicht gewöhnen mag, sind sie dennoch vertraut. Der Oberfeldwebel fühlt sich wohl. Die Straßen sind lückenlos asphaltiert, und er schafft es fast, sich zu entspannen. „Ich hoffe, keiner von euch war so dämlich, eine Motorradzeitschrift oder ein Surfmagazin als Mitbringsel zu besorgen“, sagt Mücke aus dem Fond des Wagens. Alle schütteln betreten die Köpfe. Vor dem Einsatz fuhr Socke eine alte BMW, an der er jedes freie Wochenende reparierte, und zum Windsurfen ging es im Herbst mit seiner Freundin immer nach Seeland an die Küste. Über Rizzo verlieren sie kein Wort, keine Einsatzausbildung hat sie auf Unsagbares vorbereitet. Rizzo kommt erst nachts, wenn man zwischen frischen Laken auf weicher Matratze im Dunklen liegt, und der Baum hinter der Straßenlaterne zitternde Schatten auf den Schlafzimmervorhang wirft. Auf dem Rückweg sagen sie lange nichts. Irgendwann unterbricht Cola das Schweigen. „Er braucht einen neuen Spitznamen. Mann, ich wusste gar nicht, wie ich ihn ansprechen soll, aber Socke wollte mir einfach nicht über die Lippen.“ Die anderen nicken. „Ob seine Eier noch dran sind?“, fragt Swatch, „hab mich nicht getraut zu fragen.“ „Monika hat sich von ihm getrennt, oder?“, meint Mücke bedeutungsschwer. „Und?“ „Wegen meiner Haxen würde Sabine mich vielleicht noch nicht verlassen, aber ohne Eier? Mann, die Alte zeigst du mir, die dann noch bei dir bleibt. Wir waren doch dabei, die Sprengfalle hat untenrum Frikassee aus ihm gemacht.“ Wieder schweigen sie eine Weile. „Letzten Sonntag ist meiner Frau der Braten angebrannt“, sagt Swatch schließlich. Alle wissen sofort, was er meint. „Ich habe unseren Grill auf den Sperrmüll geworfen. Sabine war fürchterlich wütend, wegen dem schönen Wetter gerade und so.“ Mücke unterbricht sich. „‘Man könnte glauben, du wärst schwanger‘, hat sie gesagt.“ „Ob das wieder besser wird?“, fragt Cola. Keiner antwortet. Der Urlaub zieht sich dahin. Dörne verbringt die Nächte im Zelt und die Tage rauchend auf der Terrasse, während die Kinder im Garten spielen. Sie haben aufgehört, darum zu betteln, dass er mitmacht. Seine Frau hat aufgehört, ihn zu bitten, auf den Spielplatz zu gehen, die Uniform auszuziehen und im gemeinsamen Bett zu schlafen. Er zählt die Tage, bis er wieder arbeiten darf, verkürzt sich die Wartezeit, indem er im Haushalt mithilft. Der Oberfeldwebel saugt, putzt das Badezimmer und bringt den Müll raus, manchmal bleibt er dann vor dem Haus stehen, beobachtet die Straße, klärt mit den Augen mögliche Gefechtspositionen und Hinterhalte auf. Zwei Tage bevor er sich wieder in der Kaserne melden muss, steht er dort, als die Müllabfuhr vorfährt. Die Mülltonnen hat er am Vorabend ordentlich auf dem Bürgersteig abgestellt, gerade hat er noch einen letzten Beutel hineingeworfen. Es ist Ende Juli und ziemlich heiß, aber nach Kundus braucht der Oberfeldwebel mehr, um zu schwitzen, sein sandfarbenes T-Shirt weist keine Flecken auf. Langsam öffnet sich die Luke des Müllautos, um den Abfall der Familie Dörne zu verschlucken, und wie bei der Schnauze eines gähnenden Hundes entweichen dem Inneren des Lastwagens der Gestank von Fäulnis und Verwesung. Zwar fehlt der Geruch nach Exkrementen, scharfem alten Schweiß und sättigenden Küchendüften, aber es reicht aus, um Oberfeldwebel Dörne sofort an einen anderen Ort zu versetzen. Der sommerlich aufgewärmte Müllschlucker riecht wie die besseren Ecken von Kundus. Und dann riecht er Rizzo. Nicht den ungewaschenen, dreckverkrusteten, salzfleckigen im Angstschweiß Ersoffenen − ein Geruch, der eine Anwesenheit besitzt auch ohne dessen Träger, ein bestialischer Mief, der aber immer noch nach Leben stinkt − sondern den anderen Rizzo. Seinen letzten Geruch. Nach angebranntem Sonntagsbraten. Dörne kotzt auf seine polierten Armeestiefel und das frisch gekärcherte Pflaster vor dem Haus. Dann brüllt er. Er kotzt und brüllt abwechselnd. Er brüllt so laut, dass seine Frau aus dem Haus gestürmt kommt, die Müllmänner starren ihn mit offenen Mündern an. Große Schweißflecke haben sich unter seinen Achseln gebildet, sein Schrei vibriert noch immer in der Kehle, aber sein Magen gibt nicht einmal mehr Galle her. Er läuft an seiner Frau vorbei, die ihm etwas zuruft, er hört es nicht, vielleicht, weil er selbst immer noch schreit, vorbei an seinen heulenden Kindern, die ihn aus entsetzten Augen anstarren, auf Reste von Erbrochenem, das an seinem Kinn hinabläuft. Dörne läuft weiter, durchs Wohnzimmer, hinaus in den Garten, sucht Deckung, kriecht ins Zelt, reißt den Reißverschluss hinunter, wirft sich auf die Luftmatratze, drückt das Gesicht in den Schlafsack, presst die Hände auf die Ohren, versucht seinen pumpenden Atem und die tobende Panik zu kontrollieren, wie er es im Gefecht gelernt hat: Ein – Aus… Eins – Zwei… Ein – Aus…
Siebter Platz: „Reinvention“, Mario Fesler Es erwischt dich vor dem Spiegel. Der 35. naht. Schon der 30. hat die Erwartungen nicht erfüllt. Damals dachtest du, jetzt gibst du einfach Gas, hast dein Studium beendet, deine Praktika nachgeholt. Nochmal ein Jahr den Eltern auf der Tasche gelegen, einen Office- und einen Englisch-Auffrischungskurs belegt. Dann hat ein Praktikum sich endlich verfangen und wurde eine Teilzeitstelle. Du konntest das Kellnern lassen und die Miete selbst bezahlen. Aus der 20- wurde eine 30-Stunden-Woche, du zogst mit Fritz zusammen, jetzt brauchtest du nicht mal mehr das „Taschengeld“ von Mama und Papa. Du warst nicht mehr nur Mitarbeiter, sondern „Assistent Schul- und Jugendpflege“, das Geld blieb knapp, aber war erstmals ausreichend. Das wöchentliche Arbeitspensum wuchs im nächsten Jahr nochmal um 10 Stunden, mit Fritz klappte es nicht mehr, aber du konntest dir nun sogar ein Umzugsunternehmen leisten. Auf deiner Visitenkarte stand mittlerweile „Teamleiter Schul- und Jugendpflege Berlin/Brandenburg/Thüringen“, was nicht mal mehr in eine Zeile passte. Dein Gehalt durchbrach die 2500-brutto-Grenze, was deinen Anwaltsbruder amüsierte, dir aber unbekannten Reichtum bedeutete. Das siehst du im Spiegel, und du siehst aus den Augenwinkeln auch noch ein paar Leichen am Lebenswegesrand. Das Theaterstück, das Mitte des zweiten Aktes entschlief. Den Monat, der dich mit Fritz trotz Trennung noch nach Neuseeland führen sollte. Die Freunde, die du nach zwei vergessenen Geburtstagen mal wieder rechtzeitig erwischen wolltest, um festzustellen dass sie dir ihre neue Handynummer nicht mitgeteilt hatten. Du warst dann der dreißigste oder vierzigste, der „Alles Gute“ an ihre Pinnwand schrieb. Nach den neuen Nummern hast du nicht mehr gefragt. Du konzentrierst deinen Blick wieder auf das, was im Spiegel zählt – der eigene Anblick – und stellst fest, dass du dich zum Kotzen findest. Ja, du hast irgendwie geschafft, wobei die Betonung auf irgendwie liegt. Dich überrascht die Heftigkeit, mit der du dich plötzlich anwiderst. Es ist ja nicht so, dass du nicht gemerkt hättest, dass du zwar älter, aber keinen Deut glücklicher wirst. Im Billy gab es mal eine eigene Regalfläche für Lebenshilfe. Du hast „Simplify“ durch, was immerhin einige Wochen für eine ungewöhnlich aufgeräumte Wohnung sorgte. Du hast monatelang jeden Drecksgedanken durch die fünf Fragen von „The Work“ gehäckselt, du hast autogenes Training in der Volkshochschule gemacht und bei Familienaufstellungen Papa und Mama von anderen Bekloppten spielen lassen. Herrgott, du hast es sogar mit „The Secret“ versucht und dir erst bei der DVD, die aussah wie „Scientology – Der Film“, eingestanden, dass du gerade in einer Klärgrube nach Gold schürfst. Seit zwei Jahren führst du Tagebuch, hinterlässt mit eiserner Disziplin täglich drei Seiten zu den immer gleichen Themen: dem doofen Job, dem Traum vom Lottogewinn, der Verteidigung deines Daseins als überzeugter Single. Und jetzt stehst du da, weißt, dass diese Stirnfalte nicht im Laufe des Tages verschwindet und kotzt dich so richtig schön an, mit einer Tiefe, die sogar die finstersten Tage deiner Pubertät in den Schatten stellt. Das findest du gemein. Du hast es doch wirklich versucht. „Reparieren bringt nichts“, flüsterst du. Die Stirnfalte färbt sich schwarz. Du zwinkerst zweimal, um diesen sonderbaren Wahrnehmungsfehler zu vertreiben. Die Falte bleibt schwarz, schimmernd schwarz und dann erhebt sich etwas aus dieser Linie, ebenfalls tiefschwarz. Bögen, Striche, Punkte erwachsen der öligen Falte, du verfolgst ihren Aufstieg und begreifst erst bei Vollendung der Erscheinung, dass es sich um Buchstaben handelt. „Reinvention“, liest du dir vor, erst mit deutscher Betonung. „ReInvention“ Noch einmal, als du den Sinn verstehst. Du schließt die Augen. Sekunden verstreichen, vermutlich Minuten. Als du die Augen öffnest, ist die Botschaft verschwunden. Du hast sie erhalten. In den meisten Bundesländern sind Schulferien, deshalb ist dein Chef, der sich lieber Kalle nennen lässt, mit deinem überraschenden Urlaubsantrag einverstanden. Du hast eh zu viel Resturlaub angesammelt. Du reißt deine letzten 8,5 Stunden inklusive Pause runter, füllst Excel-Tabellen, packst neue Bilder in alte Power-Point-Präsentationen und machst dem Praktikanten das Zeugnis fertig, das er seit Praktikumsbeginn erfragt. Du überlegst, ob du zwischen den Zeilen eine Warnung für zukünftige Arbeitgeber hinterlässt, entscheidest dich aber dagegen. „Schlechte Erfahrungen sind die Weisheiten des Alters“, pflegt deine Mutter zu sagen. Du willst niemandem seinen Pfad zur Weisheit verbauen. Nach dem Büro gehst du zum Yoga, deine Zehnerkarte ist damit wieder aufgebraucht. Die Lehrerin fragt, ob du eine neue willst. Du greifst automatisch nach dem Portemonnaie, bevor dir einfällt, dass du dich ja neu erfindest. Du sagst „Nein, gerade nicht“ und verschwindest noch während der Stunde. Auf dem Heimweg liegt diese billige Fitnesskette, deren Publikum du schon oft mit Fremdheit auf ihrem Weg in den Eingang betrachtet hast. Bullige, finstere Gesellen mit verkniffenen Gesichtern, türkische Jugendliche, die vorzugsweise in Horden zum Sport gehen. Dazwischen mal ein schlaksiges Jüngelchen oder ein pummeliger Backfisch, vereint im Traum nach einem neuen Leben. Diesen Traum teilst du jetzt und schon hast du einen Jahresvertrag. Dein lockiges, mittellanges Haar fällt für nur acht Euro bei einem Frisurdiscounter statt bei Sabine für fünfzehn. Den kurzen Streifen Haar in der Mitte der neu geschaffenen Glatze lässt du dir für weitere acht Euro von hellbraun in tiefschwarz färben. Dein Bart beginnt gerade erst zu stoppeln. Wenn er soweit ist, wirst du ihn auf einen Strich über der Oberlippe und ein Dreieck auf dem Kinn beschränken und ebenfalls schwärzen. „Die Schönheitschirurgie der Geringverdiener“, nannte Fritz es einmal beim gemeinsamen Pornogucken, als ihm die Tattoodichte der Darsteller auf den Geist ging. Bei den ersten Stichen zuckst du noch. Dann beruhigt dich die wiederkehrende Bildung eines dünnen Blutfilms, der routiniert vor dem erneuten Ansetzen der Nadel weggewischt wird. Dein Inker hat vorgeschlagen, es auf zwei Sitzungen zu verteilen, doch du ziehst durch. Es ärgert dich, dass der Drache, der sich vom Rücken um ein Schwert auf der Seite windet, um auf deiner linken Brust bedrohlich das Maul aufzureißen, zunächst unter einem Verband verschwindet. Die volle sechsfarbige Pracht wird er erst in vier Wochen zeigen können. Kalle sieht dich an wie ein frisch gelandetes Alien, als du zurückkehrst. Du legst ihm die Kündigung auf den Tisch, was seinen Blick nicht unbedingt aufhellt. Als du fragst, ob du den Resturlaub gleich antreten kannst, gibt er einen röchelnden Laut von sich. Zwei Stunden später rauscht er vom Gang herein und legt dir einen Ausdruck mit psychiatrischen Beratungsstellen auf den Tisch. „Was ist jetzt mit dem Urlaub?“, fragst du. Er atmet schwer. „Hau‘ ab“, schreit er dann – er hat noch nie geschrien, er ist Sozialpädagoge – „Hau‘ einfach gleich ab.“ Saskia und Bettina, die sich das Büro mit dir teilen, schrumpfen hinter ihren Bildschirmen zusammen. Du hast sofort einen Nachmieter, kein Wunder bei 75 Quadratmetern Friedrichshain. Fast noch einfacher ist es, die Wohnung in Mariendorf zu bekommen. Eine Filiale deiner neuen Fitnesskette ist im gleichen Haus. Du überlegst, deine CDs, LPs, DVDs und Bücher bei Ebay anzubieten, aber stattdessen befüllst du mit ihnen drei blaue Säcke, die du nachts in die gelbe Tonne quetschst, weil die schwarze voll ist. Die Herrschaften vom Sperrmüll haben mehr zu tun als die zwei Umzugshelfer mit Transporter, die du für vier Stunden gebucht hast. Ihr seid nach drei Stunden fertig, die letzte sitzt ihr gemeinsam auf Kisten und vernichtet eine Palette Dosenbier. Einer der beiden ist der Chef, der sich beklagt, dass keiner mehr Umzüge machen will. Er sagt sofort ja, als du fragst, ob du bei ihm anfangen kannst, wenn das Tattoo richtig verheilt ist. Gut, dass das mit dem Job so geklappt hat, denkst du. So musstest du keinen Lebenslauf vorlegen, der Irritationen hervorgerufen hätte. Abitur-Zivildienst-Studium-Leitungsfunktion in gemeinnützigem Verein-Umzugshelfer? Du streichst noch etwas Bepanthen über das leicht verschorfte Schwert. Du liebst die abendliche Wundpflege, das Abkleben vor dem Duschen, das Fetten der abheilenden Wunden. Es hat etwas Mütterliches, und mütterlich passt zu deiner Wiedergeburt. Dir fällt dabei ein, dass du dummerweise auch noch eine echte Mutter hast und einen echten Vater, zu deren Wohlgefallen du bislang gelebt hast. Sie wussten ja nicht, dass es kein Leben ist und hätten dich beim Aussprechen des Gedankens freundlich der Undankbarkeit bezichtigt. Erst überlegst du, dich gar nicht mehr zu melden, wie du es auch bei deinen paar Freunden nicht mehr tust. Weder deine neue Nummer noch die neue Adresse noch die neue E-Mail kennen sie. Doch Eltern lassen sich nicht so leicht abschütteln. Beim abendlichen Bier in „Henning’s Tresen“ – reflexartig zuckst du beim falsch verwendeten Apostroph innerlich immer noch zusammen – fällt dir auf, dass er einen Ständer mit kostenlosen Postkarten hat, die in den 90ern überall rumstanden. Sein lückenhafter Inhalt ist vergilbt vom Rauch und der Tatsache, dass keiner von Hennigs Gästen Postkarten schreibt. Nach drei Weizen notierst du deinen Eltern den Stand der Dinge. In schroffen Zeilen bittest du um Akzeptanz und dass sie sich zukünftig fernhalten mögen. Falls es ihnen schwerfällt, empfiehlst du ihnen, sich an deinen Bruder zu wenden, der das ja auch prima hinkriegt. Am Supermarkt auf dem Heimweg gibt es einen Briefmarkenautomaten und einen Briefkasten. Damit wäre das erledigt. Das Tattoo erstrahlt schon seit Wochen in voller Pracht. Von deinem ersten Gehalt der neuen Stelle – die Hälfte von dem, was du bislang hattest, bei doppelter Arbeit – hast du dir eine Konsole und einen Flachbildfernseher gekauft. Natürlich hat die Kohle nicht gereicht, deshalb – und weil du es in deinem früheren Leben nie getan hättest – nahmst du einen Kredit auf. Im Fitnessstudio hast du einen Trainingspartner gefunden, Rustan, Ex-Knacki, zweimal geschieden, Paketbote. Ihr legt euch gegenseitig die Gewichte auf und feuert euch bei den Wiederholungen an – „Komm, einen schaffst du noch…..Jawoll!“. Sonst redet ihr nicht viel miteinander, und wenn, geht es um muskelgerechte Ernährung – du frisst eigentlich nur noch Hühnchen und Nudeln – und Nahrungsergänzungsmittel und dass man sich mal einen kleinen Helfer einwerfen könnte. Das reicht völlig für die neue Art der Freundschaft, die du ab jetzt pflegen wirst. Die Arbeit lässt manchmal deine Knochen quietschen, doch sie hilft, noch mehr Muskelmasse zuzulegen. Zufrieden betrachtest du den Pitbull im Flurspiegel. Die meisten Kunden mögen dich nicht. Wenn ihnen der Umzug zu langsam geht oder die Kartons im falschen Zimmer stehen, pflaumen sie mit Vorliebe dich an. Sobald sie dir den Rücken zudrehen, lächelst du ihnen hinterher. Jeder Umzug soll ja ein Neuanfang sein, doch wenn sie dich sehen, spüren sie, dass sie es nie schaffen werden. Sie ahnen, dass da jemand steht, der getan hat, wovon sie nur träumen. Als du Sammy bei Henning siehst, weißt du, dass sie es ist. Sie wird deine Metamorphose vollenden. Du hast dich bislang um das Thema vorbei gemogelt, doch diese Hürde muss noch genommen werden. Bereitwillig lässt sie sich von dir mit Cola-Rum für zwei Euro das Glas abfüllen, ihre Beine zittern, als du ihr über die Schenkel fährst. Dank Solarium ist ihre Haut viel älter als die genetisch vorgesehenen 22. Bevor sie sich von dir nach Hause lotsen lässt, fragt sie, ob es dir ernst ist und scheint dein unfreundliches „Was willst du denn jetzt damit?“ romantischer zu finden als ein „Ja“. Du zwingst dich zur Barschheit, als du ihr das Kleid runterreißt, bereitwillig lässt sie sich auf die Knie drücken. Wie ein Opferlamm harrt sie der Öffnung deines Reißverschlusses und legt los. Szenen wie diese ist sie offensichtlich gewohnt. Du schließt die Augen. Mechanisch betrachtet ist es das Gleiche, denkst du. Du entkleidest den Akt aller Vorlieben und Neigungen, stutzt ihn zurecht auf eine Abfolge von Reibungen und Nervenreizungen und siehe da: Es klappt. Trotzdem atmest du auf, als Sammy irgendwann schüchtern fragt, ob du es von hinten machen möchtest. Du drehst sie auf den Bauch. Sie bittet um Vorsicht, die nicht gewährt wird. Hinterher rauchst du eine, während Sperma auf deinem Knie trocknet. Für die Dauer der Zigarette gestattest du Sammy, ihren Kopf auf den Drachen zu legen, dann sagst du ihr, dass du früh raus musst. Ihre Frage nach deiner Handynummer beantwortest du mit „Man sieht sich“. Die Wohnungstür schließt und du bist allein. Die nächsten Wochen wirst du nicht mehr zu Henning gehen und Sammy ignorieren, wenn sie trotzdem noch guckt. Vielleicht wird sie eine Szene machen, vielleicht nur beleidigt. Ein fairer Preis für die Vollendung ist es so oder so. Du schreitest zum Flurspiegel und siehst dich an. Die Stirnfalte ist verschwunden.
Achter Platz: „Antidot“, Sonja Reichel Jetzt weiß ich, wie sich kalter Entzug anfühlt, schriebst du mir noch vor kurzem, doch ich glaube, wir ahnten beide nicht, wie heftig es würde sich zu befreien von dieser Sucht, dieser Sucht nacheinander. Meine Haut hängt in Fetzen dort, wo deine Berührungen waren und jetzt nicht mehr sind. Ich verweigere mir den nächsten Schuss, deinen Mund, deine Lippen und deinen Blick, der mir sagt, du bist da, ich sehe dich, und ich sehe noch viel mehr. Von Anfang an erkannte ich dich, weil du mich erkannt hast. Und dazu brauchten wir nicht Jahre, brauchten wir keine Gewöhnung, wir wussten es sofort, damals, in jener Winternacht in der Bar, als du meinen Blick auf deiner Wange spürtest, wie einen elektrischen Schlag. Du konntest nicht anders als deinen Kopf zu drehen, und als sich unser Blick traf, war es vorbei mit der Ruhe, wussten wir, früher oder später würden wir nebeneinander sitzen, würde einer den anderen ansprechen, und es wäre egal, wer den ersten Schritt machte, denn wir hatten uns gegenseitig eingeladen, hatten uns angefasst mit Blicken, noch bevor wir das erste Wort aneinander richteten. Trunken waren wir, und das lag nicht daran, dass die Nacht allmählich hell wurde an den Enden und schon einige leere Gläser vor uns standen – die Anwesenheit des anderen machte uns trunken, und als ich neben dir saß und die Wärme deines Körpers spürte, hatte ich ein Gefühl in mir, das mich ausfüllte. Ich dachte, so fühlt es sich an, wenn man nach Hause kommt. Wie leicht es war mit dir, gerade auch im Vergleich zu den gescheiterten Beziehungen, die ich in den letzten Jahren angehäuft hatte. Denn immer passte etwas nicht, begriff man den anderen nicht, wollte es vielleicht auch nicht, wegen dieser Fremdheit, der nicht beizukommen war, trotz aller Bemühungen. Denn immer, wenn die Freunde gegangen, das Konzert oder der Film vorbei waren, die Geräusche verstummten und nur noch er und ich übrig blieben, hielten wir die Stille miteinander nicht aus. Der Wunsch, allein zu sein, war größer als die Angst vor dem Verlust, der keiner war. Denn wie soll man etwas verlieren, das man nie begriffen hat? Jetzt, da ich wieder wusste, wie es sich anfühlt, das Gefühl in mir anhält, auch Monate nach der ersten Begegnung mit dir, möchte ich es länger, möchte es unbegrenzt, auch wenn es das Opfer eines anderen Zuhauses bedeutet. Deinem Zuhause. Diesem gewachsenen, seit Jahren, dieser gemeinsamen Geschichte, den zwei Kindern, die du liebst, die du in die Waagschale wirfst und sie wiegen schwer. Wie viel Gewicht hat eine Seelenverwandte, die nur eine ungewisse Zukunft zu bieten hat? Die du Traumfrau nennst, ohne dass es kitschig klingt, denn wir spüren, dass wir zusammen Träume leben könnten, die sich andere selbst in der Sicherheit der Nacht verbieten. Auch am helllichten Tag sind sie da, wenn du meine Arme verknotest, um dir mich zum Geschenk zu machen. Wir vergessen dann, dass du verheiratet bist, atmen uns ein und ein Wort ergibt das andere, wie ein seit tausenden von Jahren gewebter Teppich. Wer sagt, dass sie die erste Frau ist, habe ich nicht die älteren Vorrechte wegen dieses Urwissens, das da ist zwischen uns? Du willst wissen, warum ich dir nicht vor zwanzig Jahren begegnet bin, und ich sage, ich bin dir jetzt begegnet, reicht das nicht? Wir müssen dem engmaschigen Netz eurer gemeinsamen Bekannten entkommen, doch wir finden unsere Schlupflöcher und geheimen Orte, an denen wir uns nicht verstecken müssen, uns nicht und unsere Gefühle nicht. Wir wirken wie ein sorgloses frisch verliebtes Paar, das nicht voneinander lassen kann, es nicht nach Hause schafft, übermannt von Leidenschaft, dort in den Bars, in denen sich der Rauch auf uns legt, als wäre er Niederschlag. Manchmal scheint es, als möchte uns jemand zuflüstern, müsst Ihr euer Glück so ausstellen? Uns an unsere eigenen mittelmäßigen Leben erinnern? An unsere Partner, die wir in- und auswendig kennen und die wir vergessen zu küssen, weil sie wie ein Gegenstand geworden sind? Nur der ein oder andere Barkeeper scheint zu ahnen, dass wir uns verzweifelt an dieses Glück klammern, das nie länger als ein paar Stunden dauern darf, und es blitzt Verständnis auf in seinem Blick, während er Gläser poliert oder uns unaufgefordert nachschenkt. Ihr werdet es nötig haben. Am liebsten würde ich ihm sagen: Das ist es nicht, was ich nötig habe. Stell den Wodka zurück. Ich bekomme nur Kopfschmerzen davon und einen trockenen Mund. Ihn hier, der nicht genug von mir bekommt, habe ich dagegen nötig. Bitter nötig. Wie kann er behaupten, dass er seine Frau liebt? Sie, mit der es sich so ergeben hat, man hatte die gleiche Clique, verstand sich, warum also nicht? Wie kann er das behaupten, wenn er sich immer wieder von zuhause wegschleicht unter dem Vorwand, einkaufen oder joggen zu gehen, nur um kurz darauf bei mir im Flur zu stehen, weil er ununterbrochen an mich denkt? – Ich werde noch verrückt vor Sehnsucht, wäre ich doch frei, stößt er hervor zwischen schnellen Atemzügen, diesem komprimierten Gespräch zwischen zwei Menschen, die sich unendlich viel zu sagen haben, und ich flüstere: Du bist frei, du kannst dich frei entscheiden. Und das ist die Stelle, an der er sagt: Die Kinder. Wären doch die Kinder nicht. Später erinnert er sich dann auch, dass er seine Frau liebt. Eigentlich. Wer bin ich zu richten? Ich habe nur meine Intuition, meine Vergleiche zu vergangenen Lieben, und ich weiß, auf wie viele Arten man lieben kann. Doch ich wage zu behaupten, dass ich erkenne, wenn es die große Liebe ist. Wie kann es stimmen mit seiner Frau, wenn so etwas möglich ist, denn dass es um mehr geht als um unsere Körper, war klar, von Anfang an. Er bestreitet es nicht und ist so vermessen zu sagen: Ich will ein Kind von dir. Doch ich verbiete es ihm: Sprich so etwas nicht aus, es ist unfair. Warum werfe ich mich ihm nicht schreiend an den Hals? Warum mache ich ihm nicht die Hölle heiß? Warum lege ich es nicht darauf an, schwanger zu werden? Zumal er diese Worte in mir sät: Eine Tochter habe ich noch nicht, wir würden bestimmt ein Mädchen bekommen, ein so hübsches wie dich, nur in klein. Was für eine Saat erwartet er zu ernten? Im Krieg und in der Liebe sind alle Mittel erlaubt. Doch ich befürchte, dass er nicht so kampfbereit ist, wie es schien. Dass er bequemer ist, als ich dachte. Je vertrackter die Situation wird, weil die Gefühle nicht weniger werden und ein Handeln erforderlich machen, desto öfter rettet er sich in Allgemeinplätze. Die Gläser sind immer halb voll wird sein Lieblingsspruch. Aber halb und halb ergibt kein Ganzes. Die Frau und die Geliebte lassen sich nicht vermischen. Dabei hat er allen reinen Wein eingeschenkt. Die Ehefrau ist im Bilde, doch er trifft auch mich. Das geht jetzt so seit Wochen. Aber so kann ich es nicht, denn sie sitzt mit am Tisch. In Gedanken. Zu wissen, dass sie weiß und es notgedrungen billigt. Zu wissen, dass er uns beide dieser Situation aussetzt und keine Entscheidung trifft. Ich finde es krank. Was für ein perfides Spiel spielen wir? Denkt er, er kann ewig so weitermachen? Er küsst mich mit derselben Intensität wie am ersten Tag und sagt: Ich lasse mir nicht von ihr verbieten, dich zu sehen. Wenn sie wüsste, was ich empfinde für dich. Wie wohl ich mich fühle bei dir. Wie unsere Seelen klicken, als wären sie eins. Macht man so etwas, wenn man jemanden (noch) liebt? Trotzdem: Er riskiert seine Ehe, aber hat nicht vor, seine Familie zu verlassen. Und immer: Du bist perfekt für mich, ich wäre so gern immer mit dir. Mein Ton wird härter: Wenn du das noch einmal sagst, schlage ich dich. (So, wie jedes nicht eingelöste Versprechen von ihm ein Schlag ins Gesicht ist. Mit seiner Ehrlichkeit hat er sich Narrenfreiheit erkauft. Ich liebe eben zwei Frauen. Seht Ihr zu, wie Ihr damit klar kommt. Das eine Gefühl hat mit dem anderen nichts zu tun.) Sieht er denn nicht, dass sie alles miteinander zu tun haben? Wären die Gefühle für seine Frau so intensiv, so dicht, könnte kein zweites eindringen, könnte nicht wachsen, so groß werden, dass er, wie er sagt, den Wald vor lauter Schmetterlingen nicht sieht. — Du hast mich verhext, wirft er mir dann vor, aber er lächelt und fordert mich auf, diesen Bann nie zu lösen. Und doch schafft er es, sich loszureißen, früher oder später, in Etappen, noch ein gestohlener Kuss, noch eine Berührung, noch ein letztes Schnuppern an meinem Haar. Ein Sohn muss abgeholt werden vom Sport, der andere in den Musikunterricht gebracht werden, er will Vorbild sein, seine Söhne sollen ein intaktes Elternhaus haben. Dass ich nicht lache. Mein Hass wächst. Auf ihn und seine Frau. Denn das arme Opfer ist sie nicht. Vor ein paar Jahren hat sie ihn betrogen. Mit seinem besten Freund teilte sie das Bett. Ein Jahr lang. Ich begreife immer weniger, wie es sein kann, dass in ihrer Ehe nicht einmal der ultimative Verrat zum Bruch führt, als hätten sie einen Pakt geschlossen: Egal, was ist, wir verlassen uns nicht. Wir werden uns verletzen, bis aufs Mark, aber allein sein werden wir nie. Versprich mir, dass du mich nie verlässt! Ich fürchte mich im Dunkeln, sei mein Licht. Dafür werde ich dir auch immer wieder verzeihen, egal, was du mir antust, nur lass mich nicht allein. Wer sind wir, mehr vom Leben zu fordern, vor Liebe fliegen zu wollen? Unser Gut ist die Zugehörigkeit. Auch diese Suppe werden wir gemeinsam auslöffeln. Wie du mir, so ich dir. Was die Betrügereien angeht, sind wir quitt. Gleich und gleich gesellt sich. Einen Löffel für die Mama, einen Löffel für den Papa, und dann noch für die beiden Jungs. Machen wir weiter wie bisher. Mögen sich noch so viele scheiden lassen, wir stehen zusammen. Egal, ob ich dich mit deinem besten Freund betrüge und du deine Traumfrau triffst, deine Seelenverwandte, deine Liebe auf den ersten Blick, wir blenden die Risse aus, die über die Jahre entstanden sind, machen weiter und wollen nicht wahrhaben, dass da draußen etwas wartet an Gefühl, das größer sein könnte als alles, was wir je erlebt haben. Halten wir lieber an unserer Definition von Liebe fest, und das, was sie uns nicht mehr zu geben imstande ist, holen wir uns von außen. Aber jetzt iss deine Suppe, sie wird sonst kalt. (Ich verzeihe dir, aber ich werde dir nie wieder vertrauen). Wie kann man nur, frage ich mich. Wie kannst du nur, würde ich dich gerne fragen. Wie kannst du nur dieses marode Konstrukt, morsch an so vielen Stellen, immer kurz vor dem Einsturz, aber durch unerklärlichen Kitt zusammengehalten, dem Neubeginn vorziehen? Ich verstehe, dass man zwanzig Jahre nicht einfach aufgeben kann, aber was ist noch übrig von euch, nach all den Betrügereien? Braucht Ihr den Kick des Argwohns? Traut Ihr einem anderen Lebensmodell so wenig über den Weg, weil Ihr euch gegenseitig nicht mehr trauen könnt? Ich komme nicht dazu, dich das alles zu fragen. Ich bräuchte mehr als ein paar Stunden dazu, denn wenn die Sekunden gegen mich ticken, kann ich mich nicht konzentrieren. Unsere Liebe ist eigentlich zu frisch, um Krisengespräche zu führen, wir sollten unseren Gefühlen folgen dürfen, die Arbeit schwänzen und losfahren, um irgendwo am Strand aufzuwachen, mit Haaren, die der Wind zerzaust hat, mit Haut, die endlich satt werden darf von Berührungen und doch nicht genug davon bekommt. Wir würden durch eine südeuropäische Gasse schlendern und dem Duft einer Bäckerei folgen, aber außer einem caffè crema nichts hinunterbekommen, weil Verliebte nie Hunger haben. Stattdessen wälzen wir Probleme, von denen du zuhause schon genug hast, aber durch dein Geständnis hast du uns der Möglichkeit beraubt, uns in Ruhe kennenzulernen, herauszufinden, ob der Blitzeinschlag zwischen uns nur ein Strohfeuer ausgelöst oder ein dauerhaftes Feuer entfacht hat. Ich fühle mich verraten von dir, weil sie weiß, dass du in mich verliebt bist. Sehr, sehr, sehr verliebt, stellst du klar. Wozu diese Klarstellung, wenn sie zu nichts führt? Fühlst du dich damit besser? Ich habe keinen Plan, sagst du, ich weiß nur, dass ich dich sehen will. (Nur wie, wenn sie über jeden deiner Schritte wacht und du nicht mehr vor die Tür kannst, ohne zu Protokoll zu geben, wohin du gehst. Deine Frau wacht über deine Zeit wie eine Glucke über ihre auszubrütenden Eier. Und lügen kannst du nicht. Es spricht für dich, aber es spielt ihr in die Hände. Vielleicht auch mir, wenn du sie sogar von deinen Gedanken an mich in Kenntnis setzt.) Es gab wieder Streit, erzählst du mir. Weil du abwesend gewirkt hättest. Sie wissen wollte, was los sei. Du ihr wahrheitsgemäß geantwortet hättest. Dass du so voller Sehnsucht seist nach mir. Du verstehst nicht, dass ich es nicht fassen kann. Ob du schon mal was von Inhibition gehört hättest, der Fähigkeit, spontane Handlungen zu unterdrücken? Dass es dem Schutz vor unnötiger Verletzung diene, nicht alles auszusprechen – eine white lie. Eine unschuldige, weil in weiß gekleidete Lüge. Verborgen hinter dem barmherzigen Schleier des Schweigens. Ich frage mich, wie man in deinem Alter (und immerhin bist du fast zehn Jahre älter als ich) so naiv sein kann. Ich versuche mir einzureden, dass ich wahrscheinlich nicht glücklich würde mit dir. Es ist demütigend, die Vernunft ansetzen zu müssen, um die Gefühle auszuhebeln, herauszubrechen aus mir, sie mit den Fakten, den kalten, die keine Ahnung haben, auf einen Haufen zu werfen. Dabei möchte ich: losleben. Mit dir. So wie du neben mir aufwachen möchtest, wenn ich nach und nach ankomme im Tag, in den du mich lockst, mit deinem Mund auf meinem, als sicheren Köder, da es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich anbeißen und die Nacht früher als sonst hinter mir lassen werde. Und das nur wegen dir. Wir wären bestimmt ein tolles Paar, begeistert küsst du mich, während du das sagst, ich hätte so gerne eine Beziehung mit dir. (Merkst du nicht, dass Worte irgendwann nicht mehr reichen? Was nützt die Liebe in Gedanken?) Es ist leise in mir, doch dann werde ich laut und nehme die Fäuste dazu, so machtlos fühle ich mich: Was nützt die Liebe in Gedanken, sag es mir? Was nützt es, so geliebt zu werden und es nicht leben zu dürfen? Ich habe das Gefühl, verrückt zu werden. Unsere Treffen bestehen nur noch aus Zeit, die zu schnell verstreicht. Mein Kopf fühlt sich taub an von all dem Schmerz und der Wut, ich kann das so nicht. Ich höre mich schreien, dass du gehen sollst, jetzt! Ganz oder gar nicht. Wenn du das Große nicht wahrhaben kannst, willst, darfst, dann geh! Ich werde nicht dabei zusehen, wie unsere Liebe in Stundenzeitfenster gesperrt und am Fliegen gehindert wird. Ich werde nicht dabei zusehen, wie die Umstände sie begraben unter sich, ihr den Mund verstopfen mit schwarzer Erde. Wenn das, was du bereits erlebt hast mit mir, nicht ausreicht, alles zu wollen vom Leben, dann bist du vielleicht weniger seelenverwandt als ich dachte. Dann geh zurück zu deiner Frau. Leb mit ihr. Pass auf, dass dich die Sehnsucht nicht vergiftet von innen, denn jemandem, der verdrängt, dem ist sie ein schleichendes Gift. Vielleicht merkst du es rechtzeitig. Ich kann nur hoffen, flehen, beten, dass du es rechtzeitig merkst. So lange du noch handlungsfähig bist, dein Antidot zu nehmen. Bevor die Lähmung einsetzt. Möge ich dein Gegengift sein. Deswegen setze ich dich (und mich) auf kalten Entzug. Verbiete ich dir, mich zu sehen. Der kalte Entzug ist das einzige Mittel, das mir bleibt, der Einsatz ist hoch, ich pokere mit deiner Sehnsucht nach mir. Vielleicht bezahle ich mit meinem Leben. Vielleicht bezahlen wir beide mit unserem Leben. Wir werden sehen. Aber jetzt: geh!
Es ist besser als nichts, findest du nicht?
Nein! Es ist grausam, weil es zum Greifen nah ist und doch unerreichbar.
Neunter Platz: „Darko“, Margarita Kinstner Natürlich wisse seine Mutter nichts. Gar nichts wisse seine Mutter. „Sie hält mich für verrückt. Sie versteht nicht, was hier wirklich vor sich geht.“ Ich habe Darko vor 10 Tagen am Artcamp kennen gelernt. In den ersten Nächten hielten wir unsere feuchten Schlafsäcke gegen das prasselnde Feuer während unsere Hintern auf den Strohballen kalt wurden. Abend für Abend reichten wir Flasche mit selbstgebranntem Rakija im Kreis und tranken lauwarmes Nektar-Bier aus Dosen, bis der Regen kam und uns das Lagerfeuer löschte. Ich bin das erste Mal hier, im anderen Teil jenes Landes, das keiner kennt und vor dem man immer noch warnt – auch wenn ich nicht verstehe, wie die Menschen in Österreich nach 18 Jahren noch immer glauben können, hier sei Krieg. „Fahr dort nicht hin!“, hat mich meine Mutter gewarnt, so wie sie mich auch voriges Jahr schon vor Sarajevo gewarnt hatte. Ich hatte ihr letztendlich einreden können, dass Sarajevo eine Stadt sei wie jede andere, wie Paris oder London, von mir aus eine kleinere, sagen wir Graz. Dass Banja Luka ebenfalls eine zivilisierte Stadt sein soll, das ließ sie sich jedoch nicht mehr einreden. Die Republika Srpska? – Vergiss es. Dass er froh sei, hier zu sein, sagt Darko, so wie er es jeden Tag vor sich her sagt, als sei es sein Mantra. „Ich muss endlich ein wenig zur Ruhe kommen.“ Er habe seine Bekannte in Zagreb endlich erreicht, dorthin werde er fahren, gleich nach der Ausstellungseröffnung. Vorhin saßen wir in einem Kaffeehaus, in dem es schon wieder keinen domača kava gab. Das fällt mir hier auf – hier servieren sie Espresso und Cappuccino, aber keinen türkischen Kaffee. Das ist, als lehnten sie sich sogar in den Kaffeehäusern gegen alles, was es in der Föderation gibt, ab, dabei trinken sie ihn in ihren Wohnungen genauso wie man ihn in Sarajevo trinkt. Bosanska kava, so sagt man in Sarajevo zu den Touristen, aber hier sagst du das lieber nicht. Noch weniger solltest du türkischen Kaffee bestellen, auch wenn Darko sagt „Was soll diese nationalistische Scheiße schon wieder, das ist türkischer Kaffee und aus basta.“ Als tschechischer Hund ist ihm egal, ob der Kaffee türkisch oder bosnisch oder serbisch sei, aber Marijana schüttelte den Kopf, „Nein, bestell am besten domača kava, damit bist du immer auf der sicheren Seite, Kaffee des Haues, den kannst du auf der ganzen Welt bestellen und man wird man dich überall dafür lieben, dass du die Machart des Hauses bevorzugst.“ Nur hier gibt es ihn nicht, den Hauskaffee, der Kellner sah mich verächtlich an, sein Kaffee komme aus der Maschine, klärte er mich auf. „Vielleicht ist es besser, du steigst auf Espresso um, ist doch eh nicht so viel Unterschied, Hauptsache, er wirkt gegen Kälte und Müdigkeit“, lacht mich Darko aus. Darkos Mutter ist Katholikin, sein Vater war orthodox, bis man ihm die Kalashnikov gegen den Kopf hielt und abdrückte, danach war er nichts mehr. „Jaja, schau nicht so, das hat es auch gegeben“, sagte er, als er mir davon erzählte, und sofort dachte ich, ich wüsste, was er meint, dass er mir wie all die anderen auch vorwirft, als Österreicherin sei ich sowieso gegen die Serben, Serbien muss sterbien, so hat es doch in unseren Schulbüchern immer geheißen. Er hörte sich meine gestammelten Rechtfertigungen an, dann erst klärte er mich auf: „Verdammt, krieg dich ein, ich gehör nicht zu den Scheiß Nationalisten, mir ist das wuscht, was einer ist, außerdem bin ich aus Mostar und ein Mischlingsrüde der übelsten Sorte.“ Dass er das auch denen gesagt hätte, die wegen der Volkszählung an seine Tür geklopft hätten, um ihn zu fragen, welcher Nationalität er angehöre. Er hätte sagen können, er sei Serbe, genauso wie er sich als Kroate hätte eintragen lassen können. („Obwohl du in Mostar besser Kroate sagst, vielleicht ist deine Chance, einen Job zu bekommen, dann um 5 % höher“, kicherte er.) Stattdessen sagte er, er sei ein Hund aus Tschechien (weil tatsächlich ein Großonkel in Tschechien gelandet sei, lange vor Titos sozialistischer föderativer Republik, eher irgendwann zwischen Österreich-ungarischer Monarchie und Jugoslawischem Königreich. „Weißt du, was das Lustigste an diesem verfluchten Krieg mit seinen beschissenen Nationalitäten war? Dass mein Vater, obwohl orthodoxer Serbe, als Katholik gestorben ist. So war das in Mostar, uns waren die Serben scheißegal, da gab es nur hier und dort und links waren die Katholiken und rechts die Muslime und in der Mitte die schöne, smaragdgrüne Neretva, auf die wir jetzt pissen, seitdem wir uns wieder auf die Brücke trauen.“ Aus Darkos Mund schießt ständig ein Kraftausdruck, ich bin seine „Fuck“s und „Shit“s schon so gewöhnt, dass ich langsam das Gefühl bekomme, sie gehören zu Bosnien, so wie die Wut zu Bosnien gehört, die Wut, die sich nicht gegen die Menschen sondern gegen die Wand richtet, die Mauer aus Propaganda und Korruption. Ob er nicht Angst hätte, nach Banja Luka zu fahren, war er von einem muslimischen Freund gefragt wurden. „Nein, verdammte Scheiße“, wiederhole Darko seine Antwort mir gegenüber, „warum soll ich Angst vor der Republika Srpska haben, hier kennt mich wenigstens keiner, hier lebe ich sicherer als daheim.“ Daheim, die zweigeteilte Stadt, noch immer, und daran wird sich nichts ändern. Nichts wird sich ändern, solange in den Zeitungen noch immer gelogen und Propaganda betrieben wird – die einen dementieren den Genozid an den Muslimen, die anderen dementieren die gefälschte Berichterstattung und die Morde an der serbisch-bosnischen Armee, und die Katholiken sind sowieso ganz unschuldig in die Föderation gedrängt worden und wollen nun Teile der Herzegovina abtrennen und zurück in die kroatische Heimat. „Und da soll sich der normale Bauer noch auskennen, der ist so aufgewühlt, dass er, statt sein Feld zu bestellen, lieber darüber nachdenkt, ob man dieses ganze Scheiß Bosnien nicht ganz auflösen soll, dabei kann es ihm doch egal sein, ob sein Feld in einer Föderation liegt oder in einer autonomen Herzegowina oder in der Republika Srpska, solange keine Landwirtschaftsreform stattfindet, wird es ihm schlecht gehen, hier wie dort.“ Ich trinke Kaffee und schaue zu dem Fernseher, den sie hier an die Wand gehängt haben. Grüne Hügel, athletische Männer mit wehenden Fahnen, Guslarspieler und Frauen in serbischer Tracht. Was das sei, frage ich Darko und er dreht den Kopf, der Fernseher befindet sich in seinem Rücken, „Touristenwerbung“, sagt er, und ich frage mich, für welche Touristen die gemacht wird, ich habe das Gefühl, dass ich hier keine Touristen sehe, und sogar wenn hier welche sind, dann schauen sie auf ihren Hotelzimmern wohl Satellitenfernsehen, abgesehen davon, dass man die, die schon da sind, sowieso nicht anlocken muss. Soll also heißen, denen, die das staatliche Fernsehen schauen, will man zeigen, wie schön das eigene Land ist? Ich kenne das von Österreich, die Kärntner Seen und die Salzburger Berge vor dem Spielfilm, nur dass bei uns ein Urlaub in Kärnten dreimal so viel kostet ist wie ein Strandurlaub in Griechenland, während die Leute hier nicht lange überlegen müssen, wohin sie fahren, allein schon das Busticket nach Belgrad kostet soviel wie das Essen in der Mensa für mehr als eine Woche. Und doch wollen sie alle weg von hier, alle, die ich hier kennen gelernt habe. Haben mich doof angeschaut, als ich ihnen sagte, wie schön es hier sei, dass ich mich in ihr Land verliebt hätte, in das Dort wie in das Hier. „Vielleicht findet man es tatsächlich schön, wenn man hier wieder raus kann, aber ja!“, gab mir einer zur Antwort und ich biss mir auf die Zunge, wie müssen sich die jungen Studenten fühlen, wenn ich ihnen von ihrem Land vorschwärme, während sie hier Geld beschaffen müssen, um sich einen Job kaufen zu können. Wie sollen sie sich fühlen, wenn nicht verarscht, wenn ich die schönen grünen Hügel ihres Landes besinge (wie in der Tourismuswerbung), sie aber als Terrorist ins Gefängnis kommen, weil sie es gewagt haben, ein Schild hochzuhalten, weil sie es gewagt haben, den Mund aufzutun und laut anzuschreien gegen die Politiker, die in ihren Räumlichkeiten sitzen, immer gut geschützt vor der Arbeitslosigkeit und auch vor dem Schnee, der letzten Winter drei Meter hoch in Mostar gelegen haben soll, sodass keiner mehr gewusst hat wohin damit und womit die Heizkosten bezahlen. „Ich muss endlich damit aufhören“, sagt Darko, „Schluss mit der Politik, ich mag nicht mehr meinen Kopf hinhalten für ein Land, in dem sich sowieso nichts ändern wird. Sollen sie sich doch vom Nationalismus verblenden lassen und die Schädel einschlagen, sollen sie zugrunde gehen an der Korruption. Ich will einfach nur meine Ruhe haben.“ Vor zwei Monaten wurde Darko vor seinem Wohnhaus aufgelauert. Er hatte seinen Mund wieder einmal zu weit aufgemacht. Nach unzähligen Briefen an die Parteiabgeordneten, nach Spruchbannern und Plakaten, die er an Hausmauern nagelte, um sich für mehr Freiheit und Menschenrechte einzusetzen, gibt Darko auf. „Kein Schwein hat mir geholfen, als ich dort im eigenen Blut lag, verstehst du? Den meisten ist es doch egal, was hier geschieht, die Alten sind einfach nur froh, dass der Krieg vorbei ist und die Jungen kennen nichts anderes als die Kloake, in der sie von Geburt an leben. Und alle trauern sie Tito hinterdrein, das könnt ihr nicht verstehen, für euch war der ein Scheiß Diktator, aber soll ich dir was sagen? Das sind die, die heute an der Macht sind, auch. Die vielgelobte Meinungsfreiheit haben wir heute noch immer nicht, nur dass wir unter Tito wenigstens noch Wohnungen hatten, und sie Ausbildung unserer Kinder leisten und sogar auf Urlaub fahren konnten. Und zum Shoppen fuhren unsere Mütter nach Triest!“ Wir zahlen unsere Kaffee und machen uns auf die Suche nach einem Kiosk, denn Darko braucht neuen Tabak und ich habe Lust auf eine Schokolade. Und noch immer regnet es vom Himmel, wie aus Gießkannen schüttet es, und das nun schon seit vier Tagen. Ich komme aus meiner Regenhose nicht mehr heraus und bin froh, meine Bergschuhe, die ich für unsere Wanderung nach Zelenkovać mitgenommen hatte, kurz vor der Abreise noch mit Imprägnierspray eingesprüht zu haben. „Wie hältst du das nur aus, die ganze Zeit im Regen, und du schläfst tatsächlich noch immer im Zelt?“, schreibt meine Mutter per Mail, weil ich ihr verboten habe anzurufen, da die Republika Srpska nicht in der EU liegt und ich mir ihre besorgten Anrufe nicht leisten will. Aber was verlange ich von meiner Mutter, mache Dinge wird sie nie verstehen, dass es Regenkleidung gibt und dass ich jederzeit abreisen könnte, wenn ich wollte, dass mich hier niemand daran hindert, das nasse Zelt samt Schlafsack und feuchten Klamotten in den Kofferraum zu werfen und retour zu fahren. Und schon gar nicht wird sie jemals verstehen, was ich in diesem Land mache, warum ich nicht wie andere auch einen netten Urlaub in der Provence verbringe, oder – wenn es schon unbedingt sein muss, wenn ich schon diese Sprache lernen musste – dann doch wenigstens bitte ein Badeurlaub an der Kroatischen Küste oder eine Wandertour in Slowenien… „Mach dir nichts draus“, sagt Darko. „Meine Mutter hält mich auch für geistesgestört. Als ich ihr erzählte, dass ich mir überlege, Mostar zu verlassen, hat sie gemeint: Ja, mach dir doch ein schönes Leben, aber komm mich wieder besuchen.“ Am vierzehnten Juni wurde Darko niedergeschlagen und gewarnt, dass er aufpassen solle, was er in Zukunft von sich gebe. „Überleg dir, ob du es nicht einmal woanders mit deiner Kunst versuchen willst“, wurde ihm nahe gelegt. Als ihn seine Mutter mit geschwollenem Gesicht in seinem Zimmer vorfand, fragte sie, ob er jemandem Geld schulde. Von seiner Paranoia will sie nichts hören. „Niemand bedroht dich, wer soll dich bedrohen?“ Vor ein paar Wochen hat sie schließlich einen befreundeten Arzt kontaktiert. Ihr Sohn leide unter Wahnvorstellungen und hätte sich selbst verletzt. „Verstehst du jetzt, warum ich weggehe? Wenn nicht einmal mehr deine eigene Mutter an dich glaubt, wofür sollst du dann kämpfen?“ Gestern habe ich zwei Nachrichten bekommen. Eine von Marijana – der Katze, die Darko und ich zwischen den Mülltonnen gefunden hatten, ginge es gut, und ja, es regne noch immer, die ersten Häuser stünden bereits wieder unter Wasser, aber der Nachrichtensprecher habe gesagt, dass es ab morgen schöner werden solle. Die zweite Nachricht war von Darko. Er sei gut in Kroatien angekommen und habe sich schon eingelebt. Und er habe zwei Journalisten kennengelernt, einen aus Bihac und einen aus Sarajevo. „Ich kann mit ihnen reden wie mit dir“, las ich. Ich klickte den Facebook-Messenger weg und zündete mir eine Zigarette an. Darko wird keine Ruhe geben. Und das ist gut so. Margarita Kinstner, geboren 1976 in Wien, lebt in Graz. Im Herbst 2013 erschien ihr Debütroman „Mittelstadtrauschen“ im Wiener Deuticke Verlag sowie als Hörbuch bei Hörbuch Hamburg. Im November wird das erste Theaterstück der Autorin beim Styraburg Festival in Steyer uraufgeführt. Ein zweiter Roman ist gerade unter Vertrag und ein dritter in Arbeit. In letzter Zeit beschäftigt sich Margarita Kinstner mit Bosnien – mit der vorherrschenden Politik in beiden Entitäten, der Arbeit der AktivistInnen und den Vorurteilen im westlichen Europa gegenüber den Balkanländern.
Zehnter Platz: „Waldrauschen“, Carola Weider Im Alter von sechs Jahren hatte er angefangen, Frauenwäsche anzuziehen, sich in unbeaufsichtigten Momenten auszustaffieren. Im Kindergarten hatte er einmal die Garderobe durchwühlt, er konnte sich auch später deutlich an den Geruch der Schublade erinnern, in der er die Pelzkappe, ein Halstuch und die Handschuhe der Erzieherin gefunden und darauf uriniert hatte. Seine Eltern waren einbestellt worden und die Erzieherin hatte ihnen den Schrank gezeigt. Den Kindern hatte er vormachen müssen, wie er es getan hatte. Im Halbkreis hatten sie, einander bei den Händen fassend, in der Garderobe gestanden und ihn ausgelacht, ein schriller, unsicherer Chor. Als die Erwachsenen auf seine Neigung aufmerksam wurden und ihn zu bestrafen begannen, als man ihn geschlagen hatte, nachdem man ihn im Schlafzimmer fand, an Mutters Schränken, setzte er seine Vorliebe im Wald fort. Inzwischen eignete er sich nicht mehr nur die Leibwäsche der Mutter an. Anfang August war es, ein sagenhaft schöner Hochsommertag mit allen Freuden. Er würde ihn nicht vergessen, solange er lebte nicht. Auf der Suche nach einem Rehbock, der eine hochbeschlagene Ricke zu Tode geforkelt hatte, war er in dessen Einstand am Rand eines Waldsees unterwegs gewesen. Es hatte nicht lange gedauert, bis der Bock vor ihm lag, ein altes Tier mit langen Spießen. Kurz nach sieben, noch früh am Morgen: Der Wald brütete in der Sonne. Sommerliches Summen, ein Flirren des Lichts unter den Baumkronen. Rudolf wollte den Tag auskosten, er wollte noch nicht nach Hause gehen. Er wusste, dass auf der anderen Seite des Sees ein ganz besonderer Bock stand, mit guten, weit ausgelegten Stangen in Lyraform, mindestens achtundzwanzig Zentimeter hoch. Im Frühjahr war er ihm ein paar Male begegnet. Da hatte er ihn noch nicht schießen wollen. Der Bock konnte höchstens fünfjährig sein, obwohl er sich ausreichend vererbt haben musste, denn einige Tiere des umliegenden Reviers trugen schon das auffallende Geweih. Rudolf fühlte sich paradiesisch, er ließ sich Zeit. Langsam lief er am unteren Waldrand das Seeufer ab, rauchte eine Zigarette und suchte nach ausreichender Deckung. Er wollte es versuchen. Er hatte sich vorgenommen anzulegen, wenn der Bock so kam, dass ihn die Kugel mit absoluter Sicherheit treffen musste. Der kleine See mit der Insel darauf lag eingebettet zwischen Wiesenhängen, Kiefern und Stieleichen. Die spätmittelalterliche Rodung einstiger Erlenbrüche, die ursprünglich das Ufer säumte, hatte zur Versandung und deren Ausbreitung geführt. Der ganze Kessel war umgeben von einem sagenhaften alten Buchenbestand. Zwischen den Stämmen schimmerte der See, blaugrün und tief. Schon nach dem ersten Blattlaut raschelte es im Laub, dann blieb es still. Fünf Minuten später fiepte er leise. Das Kitz. Und dann war er da. Keine einhundert Schritte weit stand er ihm gegenüber. Ans Schießen war nicht zu denken, Rudolf spürte den Luftzug im Genick. Er begann zu schwitzen, hielt den Atem flach. Der Drilling schmiegte sich eng an seine Schulter. Der Bock witterte mit erhobenem Geäse, dann verschwand er im Dickicht. Der Jäger riss die Büchse hoch und traf ihn am Hinterlauf. Sein Wutgeschrei prallte gegen umstehende Buchenstämme, von dort ins dämmende Unterholz, bevor es weiteren Schaden anrichten konnte. Nach einem Laufschuss musste er unverzüglich hetzen, er brauchte den Hund. Er hatte ihn wie immer beim Fischerhaus gelassen, wo er auch das Fahrrad abstellte, und lief los. Nach einer halben Stunde war er mit Otto zurück am Anschuss. Der Hund fuhr mit der Schnauze rein, zeigte einen Knochensplitter im Fang und ging sofort der Fährte nach. Der Bock war indessen etwas weiter in einen Eichenaufschlag gezogen, rauschend schlug das Gebüsch hinter ihm zusammen, dann plätscherte es unten am Wasser. Er hatte den See genommen, um seine Wunde zu kühlen, und schwamm jetzt auf die nur etwa fünfzig Meter entfernte Insel zu. Rudolf lief zum Schilf hinunter, wo er einen kleinen Kahn an der Leine hatte, blieb aber immer wieder stehen und sah zum Wasser. Der Anblick fesselte ihn dermaßen, dass er seinen Fehlschuss nicht mehr bereute. Der Bock würde ihm nicht entkommen, auf den Hund war Verlass. Unten am Wasser war der Kahn verschwunden. Der See lag spiegelglatt. Seine ungewöhnliche Tiefe von bis zu dreißig Metern, das klare Wasser, das stellenweise bis zu fünf, sechs Meter Sichtweite bot, ließen ihn verschiedenste Fischarten führen. Sogar Aale, aber auch Hechte und Zander hatte Rudolf schon rausgeholt. Der See war ein Nachlass der späten Weichseleiszeit, seine Hauptquelle lag weiter oben im Nordosten. Durch ausgedehnte Moorwiesen im Süden und Westen erhielt er ebenfalls etwas Zulauf. Rudolf hatte ein zweites Boot dreihundert Meter weiter an einer Schutzhütte liegen. Während er lief, dass ihm der Schweiß aus den Poren brach, glaubte er einen irritierenden Moment lang, aus der Wirklichkeit zu kippen, hatte er mit einem Mal die überdeutliche Vorstellung von Oberflächen, die sein Bedürfnis nach glatten synthetischen Kleiderstoffen, nach Schur- und hart gewaschener Baumwolle weckte, und die ihn herauskatapultierte aus dem, der er war, der er zu sein vorgab. Als er an der Hütte hinter der Badebucht ankam, hörte er drüben das Klagen des Bockes. Kurz darauf verbellte der Hund. Tot. Tot. Tot. Das Bellen kam gleichmäßig über den See. Rudolf stieß das Boot vom Ufer ab, zog die Ruder ein und glitt still dahin. Das Leben war schön, wenn man es verstand, wenn man in der Lage war, es richtig aufzufassen. Das Bellen des Hundes veränderte sich. Rudolf horchte auf. Er ruderte ruhig auf die Insel zu, als das Knurren in wütendes Kläffen überging. Als der Kahn durch das Schilf brach und auf dem Ufer auflief, konnte Rudolf den Bock im hohen Riedgras liegen sehen, daneben Otto, der in entgegengesetzter Richtung Laut gab. Hinter dürren Silberpappeln verharrte eine Frau in der Haltung einer Statue. Rudolf kannte sie nicht, er hatte sie noch nicht gesehen. Er fand sie schön. Die Frau trat vor die glitzernden Büsche und schimpfte. Was geht hier vor, was denken Sie sich dabei? Erst hetzen Sie Ihre Bestie auf das arme Tier, dann fällt sie mich an! Und als ich mich anziehen will, lässt sie mich nicht an meine Kleider! Er sah nicht weg von ihr, starrte sie an, auf ihr nasses Haar, das auf den runden Schultern klebte wie Schlingpflanzen, den vorgewölbten, weißen Bauch. Tatsächlich war sie fast perfekt. Von der anderen Seite des Sees grüßten die Buchen in sein stilles Paradies. Zuerst wollte er sich den Bock ansehen und wandte sich ohne ein Wort von ihr ab; sowohl der Gedanke als auch der Umstand, dass die Frau annehmen musste, er missachte ihre Lage absichtlich, gefielen ihm. Der Kopf des Bockes lag im tiefen Gras. Rudolf griff nach dem Gehörn, er wollte vor allem das. Als er danach fasste, fühlte es sich seltsam weich an, unnatürlich. Es war etwas darum herumgewickelt, Rudolf bekam es ab und hielt es gegen die Sonne. Es war ein schmuckloses, glattes Kleidungsstück, über der Herzhälfte der Brust hatte es ein eingesticktes Monogramm und am rückseitigen Verschluss ein goldfarbiges Emblem mit dem Schriftzug einer bekannten Wäschefirma darauf. Er schwankte zwischen Bockshorn und Wäschestück. Der Tag hatte es in sich, dachte er; er konnte bekommen, was er wollte, Sankt Hubertus meinte es gut mit ihm. Mit dem schlechten Schuss hatte er ihm eine ganz besondere Freude machen wollen. Rudolf musste sich nur für eine Sache entscheiden. Das Sonnenlicht schärfte die Konturen ringsherum, jeder Grashalm stand messerscharf. Der Himmel drohte vor Spannung zu bersten. Was das Mieder der Frau betraf, tröstete er sich damit, dass er beides wiederfinden würde. Er würde sie bekommen und den Bock. Das Leibchen überließ er dem Hund, der ihn mit schräggelegtem Kopf und hängenden Ohren ansah, als wolle er apportieren. Otto fasste nach dem Teil und verschwand damit in den Büschen, kam zurück, holte etwas, das im Gras lag, und lief erneut zu den Pappeln. Er hetzte hin und her. Es dauerte eine Weile, bis Rudolf verstand, was der Hund vorhatte. Hier, auf dem Kampfplatz von Bock und Hund, war die Stelle gewesen, an der die Frau sich am Morgen ausgezogen und nach dem Schwimmen ein Sonnenbad genommen hatte. Es lagen noch ein Schal, ein Paar Sandalen und ein Badetuch, alles in seinem Todeskampf von dem Bock in heillose Unordnung gebracht, herum. Otto trug Stück für Stück hinter den Busch und Rudolf hörte jedes Mal das einschmeichelnde Lob. Otto sei der klügste Hund von allen und so weiter. Rudolf sah sich den Bock genauer an. Es war der bisher beste seines Lebens. Prachtvolle Auslage – achtundzwanzig Zentimeter, er hatte also richtig geschätzt – und mehr als zehn Zentimeter lange Enden. Vielleicht ein einmaliger Abschuss. Und dazu jenes andere, eigenartige Erlebnis: nicht weniger verwirrend, würde dieses Kapitalgehörn ihn daran erinnern, solange er denken konnte. Zwischen den Silberpappeln gab es eine flüchtige Bewegung. Ohne ein Wort, nicht einmal einen Abschiedsgruß, war seine elegante Beute im Hintergrund verschwunden. Rudolf horchte ihr nach. Er selbst trug ein lachsfarbenes Trikot aus falscher Seide unter dem Jagdhemd. Rudolf öffnete einen Knopf über der Brust und tastete nach den starren, leeren Körbchen, versuchte sich an das Monogramm auf dem Bruststück des Hemdchens zu erinnern, das ihm gerade weglaufen wollte. M.G., da war er sich sicher. Ein kleiner Laut, ein Trillern mit der Zunge, und der Hund setzte hinterher. Rudolf dachte, gegen den warmen Rumpf des Bockes gelehnt, immer noch an seinen Fund, als es erneut Krach gab. Er stand abrupt auf und ging Otto hinterher, den er kurz darauf an einer abseits gelegeneren Uferstelle fand. Der Hund stand in dem vom Pflock gestohlenen Kahn und bellte, davor schrie die Frau in ohnmächtiger Wut. Als sie Rudolf kommen sah, ließ sie ihrem Ärger freien Lauf. Wissen Sie was? Das ist Freiheitsberaubung! Was fällt Ihnen ein, mich von Ihrem Bluthund festhalten zu lassen? Dafür werde ich Sie anzeigen! Sie stampfte mit dem Fuß auf. Rudolf dachte daran, ihr ins Gesicht zu schlagen, damit sie den Mund hielt. Lieber noch wollte er sie mit einem der Knüppel, die hier zuhauf herumlagen, verprügeln und sie sich anschließend in Ruhe ansehen, wäre der Köter nicht dabei. Je ausschließlicher der Hund wegen des Bockes hier war, umso mehr schlug es Rudolf auf die Seite der Frau. Er verschränkte die Arme über der Brust, ging auf sie zu, grüßte und nannte seinen Namen. Guten Morgen, Rudolf Mandel. Der Hauch eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht und verschwand wieder. Nun, Rudolf, sagte sie, was spielst Du hier? Sie hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt. Unter dem Rock zitterten ihre Oberschenkel. Rudolf sah lange hin, auf das Zittern der Beine unter dem Stoff, der leicht und elektrisch aufgeladen war. Er atmete gleichmäßig, schaute sie an. Etwas stimmte nicht. Er ignorierte es, dass sie ihn duzte. Sie war eine schwere Frau unbestimmbaren Alters, wie er es gerne hatte; da sie aber in jedem Fall älter war als er, mochte sie in ihm einen Jungen sehen. Sie hielt ihn für harmlos. Irrtum, sagte er. Erstens haben Sie mir meinen Kahn geklaut. Und zweitens baden Sie trotz gut sichtbarer Verbotstafeln im See. Untiefen, Strudel, Schlingpflanzen, hier sind schon einige ertrunken, die es besser wussten, solche wie Sie. Er log sie an; seitdem man ihm die Verantwortung für das Revier übertragen hatte, war hier noch niemand ertrunken. Wenigstens wusste er nichts davon und möglicherweise lagen die Leichname ja dort unten auf dem Grund des Sees, festgezurrt von dunkelgrünen Schlingpflanzen, die selbst einen guten Schwimmer in Panik versetzen konnten, wenn sie beim ruhigen Darübergleiten seine Bauchdecke streiften, so dass er die Nerven verlor und sich dadurch erst recht mit ihnen verstrickte. Dann war er auf immer verloren; unmöglich, eine Schlingpflanze auszureißen, die auf dem Grund des Sees mit den anderen zu einem unentwirrbaren Geflecht verwachsen war. Gelassenheit und unbekümmertes Verhalten hingegen machten ein Abstreifen der verfangenen Pflanzenteile jederzeit möglich. Er traute der Sirene zu, dass sie Bescheid wusste. Ihr Körper war eins mit dem See und dem Wald, das spürte er. Selbst den Hund hatte sie mit ihrem Gesang betört, dem ewigen Locken. In der Nacht eines späteren Tages hatte er einen Traum, in dem sie die Hauptrolle spielte: auf der Pirsch sah er sie ausgestreckt auf dem Waldboden liegen, mit geschlossenen Lidern, flach zu seinen Füßen. Bei seinem Kommen schlug sie die Augen auf. Dann, in einem Haus, beobachtete er sie mit einem anderen Mann: Sie vor ihm auf einem Hocker sitzend, so dass sie steil aufblicken musste zu ihm, und er, stehend, misshandelte sie, indem er mit einem Wanderstock, oder vielleicht war es auch der Lauf eines Jagdgewehrs, ihren Rock anhob, als prüfe er madiges Aas. Er glaubte im Traum, den Mann zu kennen und dachte daran, ihn zu töten. Aber ihr Hundeblick verriet ihm, dass sie genau so und nicht anders behandelt werden wollte, und er wandte sich ab, um nicht weiter hinsehen zu müssen, erkannte, dass Mitleid und Trauer fehl am Platz waren. Nun, ich bin eine gute Schwimmerin, sagte sie und schmunzelte dabei. Du musst dir um mich keine Sorgen machen, Rudolf. Sie taute allmählich auf, der Hund hatte sich ein zweites Mal beruhigt. Dann erzählte sie ihm, wie sie hergekommen war: mit dem Auto sei sie versehentlich von der Straße abgefahren und auf einen Waldweg geraten, wo sie in der Folge einen Reifenschaden gehabt und den Wagen der ortsansässigen Werkstatt überlassen habe. Der Meister habe ihr zugesagt, den Defekt innerhalb von drei Stunden wenigstens soweit zu beheben, dass der Wagen behelfsmäßig wiederhergestellt sei. Er riet mir, mich derweil an diesem schönen See auszuruhen, ohne mich vor dem Förster zu warnen. Dabei lachte sie.
Elfter Platz: „Fuck this shit – ein Monolog“, Eva Wachter „Fuck this shit.“ Der dunkelblaue Anzug ein Vorzeigestück englischer Schneiderkunst. Das weiße Hemd darunter enganliegend, ohne obszön zu wirken. Generell schmeichelt der Schnitt der schmalen Figur und lässt Frauen dem hoffnungslosen Schmachten verfallen. Benedict Cumberbatch spricht über Putins Poltik, insbesondere das aktuellste Gesetz, das öffentliches Fluchen unter Strafe stellt. Eloquent und sexy. An meinem Zugfenster rauschen Landschaften vorbei. Hauptsächlich Lärmschutzwälle, die ich nicht mehr wahrnehme. In meinem Kopf wirbeln Bilder in einer ähnlichen Geschwindigkeit durcheinander. Wenn ich lange genug auf das Blumenmuster meiner Schuhe starre, kann ich mir einbilden, wie sie sich langsam nach der Sonne ausrichten und wie aus den geschlossenen Knollen bunte Blütenblätter quellen. Ein buntes Dickicht an Farben. Irgendwie beruhigend. Ich schließe die Augen, in meinen Ohren pfeift eine absonderliche Komposition der einschlagenden Worthülsen, nah und näher, dann wieder in der Distanz. Fast meine ich den Dreck auf meinem Gesicht spüren zu können, der aufspritzende Dreck, wenn sich wieder eine leere Hülse in den Boden bohrt. Vorstellungsgespräche sind Krieg. Kurze, aber heftige Gefechte zwischen Personalern, der verbündeten Partei der Teamleitung und dem Kandidaten. Eingeladen, um den vielversprechenden Lebenslauf in Fleisch und Blut vor sich zu haben. Um Stärken und Schwächen in taktischen Winkelzügen abzutasten. Verhärtete Fronten. Ausnahmezustand im Konferenzraum. Ich bin auf dem Heimweg von meinem letzten Bewerbungsgespräch für diese Woche. Natürlich ist auf halber Strecke die Klimaanlage ausgefallen und es gibt kein Eis zur Wiedergutmachung. Fuck this shit. Auch wenn Benedict Cumberbatch diesen Satz in einem vollkommen anderen Kontext äußerte, denke ich ernsthaft darüber nach, diese drei Worte zu meinem Motto zu machen. Zwischen globalen Krisen, Kriegen im Namen des Glaubens, territoriale Uneinigkeiten, Epidemien und Drohgebärden fechte ich meinen eigenen Kampf. Den Kampf um einen Job. Einen Job für einen überqualifizierten Akademiker. Ich lasse das letzte Gespräch Revue passieren, für eine derartige Aufgabe hätte ich mir das Studium und den Abschluss mit Bestnoten sparen können. Noten, für die man in der Uni noch ein anerkennendes Nicken vom Professor erhält, lösen sich in der Arbeitswelt auf. Das akademische Schulterklopfen verpufft. Alles, was hier zählt, Kompetenzen, Kompetenzen und Kompetenzen. Und meine Fähigkeit zur Selbstprofilierung. „Wenn ich Ihren früheren Chef anrufen würde, was würde der mir über Sie verraten?“ Natürlich habe ich Stichworte wie Teamfähigkeit, eigenständiges sowie strukturiertes Arbeiten und die allzeit beliebte Flexibilität zur Hand. Das ist alles kein Geheimnis und steht auch so in meinem Zeugnis. Außerdem sagen diese Begriffe gar nichts über mich aus. Aber ich kann mir sicher sein, dass man meinen ehemaligen Chef grundsätzlich nicht erreicht, weil Wichtigkeit sich proportional zu ignorierten Anrufen verhält und brauche ich mir über dessen Meinung wohl die wenigsten Gedanken machen. So sitze ich hier und erlebe den Gegensatz zwischen Stellenanzeige und Arbeitsrealität. Live und in HD. Ernüchternd. Fünf Jahre Studium der Literaturwissenschaft, Stipendium, Praktika und jetzt soll ich Vierzeiler für einen Onlinekatalog schreiben? Vierzeiler für Kleidung, die ich mir im Traum nicht leisten kann und für einen Lohn, der es nicht erlaubt zu träumen? Ich frage mich, ob ich nicht von Grund auf zu romantisch, zu naiv, zu enthusiastisch veranlagt bin und allein durch die Worte in den Jobbeschreibungen grandiose Szenen in meinem Kopf entstehen. Szenen wie in großen Hollywoodfilmen. Vielleicht ist ein Regisseur an mir verloren gegangen, doch die Wirklichkeit ist gar nicht so, sie ist ganz anders. Und bevor ich mich zu weiteren, verheißungsvollen Tagträumereien hinreißen lassen kann, pfeift die nächste Frage heran und detoniert kurz vor meiner Verteidigungslinie. „Wie informieren Sie sich über Trends?“ Aha. Ich bemerke einen strategischen Wechsel. Der Personaler zieht sich zurück, die Teamleitung springt in die Bresche und prüft mein moderelevantes Wissen. Auch das noch. Ich spiele kurz mit der verlockenden Möglichkeit einer ehrlichen Antwort. Ich setze mich gerne mit einer Tasse Kaffee in die Fußgängerzone meiner Wahl und schaue mir die Idioten an. Frauen in engen Leggins, die sich anscheinend kein längeres Shirt leisten können. Fleisch gegen Gewebe. Ganze Galaxien, die sich über Schenkel ziehen. Katzen. Cellulitis in Hotpants. Bauchfrei an kleinen Mädchen. Möpse. SWAG. TWERK. Folge dem Trend oder stirb! YOLO. Würde ich mir YOLO wirklich zu Herzen nehmen, hätte ich dies alles laut aussprechen müssen. So findet es stattdessen in meinem Kopf statt und bleibt dort. Wieder einmal. Denn ich bin vorbereitet und habe Phrasen gesammelt, die sich mit einem netten Lächeln problemlos abspulen lassen. Ich informiere mich logischerweise regelmäßig über Trends, verfolge angesagte Mode- und Fashionblogs und studiere Kataloge führender Marken. Röcke in bordeaux und Glockenform sind natürlich der absolute Geheimtipp für diesen Herbst, lassen Sie sich das gesagt sein! Sympathisches Augenzwinkern wegen der persönlichen Note, an die sich Personaler und Teamleitung später noch erinnern sollen. Ist das alles eigentlich schon gelogen oder folgt man damit einfach den ungeschriebenen Regeln eines Vorstellungsgesprächs? Zeigt man, dass man verstanden hat, dass es hier überhaupt nicht darum geht, den Menschen hinter den Noten und Qualifikationen kennenzulernen, sondern nur darum, Phrasen korrekt zu reproduzieren? Phrasen, die man einschlägigen Ratgebern entnommen, auf den eigenen Lebenslauf zugeschnitten und dann auswendig gelernt hat? Man hat schließlich was mitgenommen aus dem Studium und wenn es nur die Faustregel ist, dass Vorbereitung die beste Verteidigung darstellt. Putin hätte sicherlich seinen Spaß an einem solchen Gespräch. Schafft es doch kein anderer Regierungschef vor die Weltöffentlichkeit zu treten und Märchen zu erzählen, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. Ausgedachte Geschichten von Frieden und Wodka für alle. Niemand hat die Absicht, die Krim… Und während ich von den moralischen Fragestellungen psychologischer Kriegsführung zu amüsanten historischen Parallelen abdrifte, explodiert die nächste Frage vor meinen Füßen. „Wenn Sie ein Produkt aus unserem Katalog wären, welches wäre das und warum?“ Phraseologismen aus dem Lexikon der Vorstellungsgespräche. Ich wäre ein Turnschuh, bunt und funktional, der euch jeden Tag, immer und immer wieder, vor Augen führt, wie sehr ich einen Fick auf eure exquisite Exklusivität gebe und es mich am Arsch interessiert, aus welchem Grund ihr Modejournalismus studieren musstet, um Verse auf überteuerte Kleidung zu komponieren. Glaubt ihr wirklich daran, dass sich eure Kunden von ein paar netten Worten blenden lassen? In meinem Kopf tobt ein Wirbelsturm an furiosen Äußerungen und ich muss mich kurz sammeln. Fast wäre mir das Schrapnell einer leeren Phrase zum Verhängnis geworden. Je weiter ich mich von meinem letzten Schlachtfeld entferne, desto mehr lichtet sich der Nebel aus Mündungsfeuern und dem penetranten Geruch von Schießpulver. Das Pfeifen in meinen Ohren vermischt sich langsam mit den Zuggeräuschen. Die Klimaanlage funktioniert immer noch nicht und das Kostüm zwickt. Dass ich mich auf eine derartige Verkleidung überhaupt eingelassen habe, für einen Hungerlohn von Bruttogehalt. Fuck this shit. Je weiter ich mich von meinem letzten Schlachtfeld entferne, desto klarer wird mir, dass ich mich dem nächsten nähere. Klassentreffen. Die Kampfzone sozialer Beurteilung. Und ich bin jedes Jahr wieder mit dabei. Perverse Neugier? Nostalgische Wiedergeburt gemeinsamer Erinnerungen? Also scheine ich nicht nur zu romantisch, zu naiv, zu enthusiastisch veranlagt, sondern auch unbelehrbar zu sein. Eine fast schon masochistische Kombination. Wir bewegen uns auf Zehenspitzen um unangenehme Themen herum, zumindest vorerst. Die wichtigsten Eckdaten des Jahres werden abgetastet. Milestones. Wir lachen laut und viel. Versprechen, uns doch öfter zu sehen. Wir wissen nichts über unsere Zukunft und stellen sie doch vor dem jeweils Anderen in großen Bildern dar, Heldenepen, wo doch jede fein gesponnene Seifenblase an den harten Kanten des nächsten Vorstellungsgesprächs zerplatzt. „Was?“ Mir war nicht klar, dass man pures Entsetzen in drei Buchstaben fassen kann und irgendwie fasziniert mich diese Tatsache. Wir sind beim Schnaps angelangt und langsam bröckeln die lächelnden Gesichter. „Du ziehst wieder bei deinen Eltern ein?“ Ich muss meinen Fehler augenblicklich einsehen. Eindeutig das falsche Thema bei der Jetset-Fraktion. Hier wird keine Fernbeziehung unter 700km geführt und mir bei jedem Gespräch mehr oder weniger subtil empfohlen, dass mir ein anderes Bundesland doch gut tun würde. Der Nutzen daraus wird mir nicht dargelegt, vielleicht könnte ich mich dann mit der unwiderstehlichen Aura eines Kosmopolits umgeben. Ein solches Fernweh ist mir fremd. Und Gott sei Dank findet man an Schnapsgläsern Halt und da meine Argumentation durch meine statische Fixierung am Heimatort ungültig wird, versinke ich dankbar im Zynismus des Mirabellengeists. „Manchmal merkt man gar nicht, dass du einen Spitzenabschluss an einer Exzellenzuniversität hast.“ Ich will in eurer Gegenwart nicht kompetent sein, sondern nur immer wieder dieses Glas zum Mund führen. Ihr sollt meine Auszeit sein, meine Insel ironischer Kommentare, auf der stets noch Bier kalt steht. Ihr sollt nicht über meine Taten richten. Dieser ständige Zwang sich rechtfertigen zu müssen, das Hinterfragen von Lebens- oder Zukunftsentscheidungen anderer. Lasst uns gleichgültig sein! Und wenn Gleichgültigkeit nicht mehr reicht, dann wenden wir uns Schulter an Schulter der Gehässigkeit zu. Fuck this shit. Ihr sollt verstehen, dass ich hier nicht weg will. Ich kann Entscheidungen treffen, ohne mich an Einwohnerzahlen, der flächenmäßigen Ausbreitung einer Stadt oder dem Puls des Hypes orientieren zu müssen. Ich brauche kein Jahr im Ausland, an exotischen Stränden oder fremden Kulturen, um über ein Ja oder ein Nein zu bestimmen. Ich muss nicht in ein anderes Leben fliehen, um hier und jetzt ein zufriedenes führen zu können. Ausrufezeichen. Aber darüber schweige ich und der Alkohol verliert sein Privileg. Kampfzone ausgeweitet. Die Verteidigungslinien der Leidenschaftslosigkeit lösen sich auf. Wird diese Schlacht nie enden? Ich sehe einen fahlen Mond über den Schützengräben aufgehen, als die Waffen für einen Moment schweigen. Im Zwielicht zähle ich Leichenberge. Kollateralschäden eines Lebens, das ich nicht zur vollkommenen Zufriedenheit der Allgemeinheit führe. „Ich hätte gerne dein perfektes Leben.“ Im kaleidoskopischen Inferno der Tanzfläche erkenne ich eine gute Freundin, als ich grimmig die Kampflinien abschreite. Die Liebe ihres Lebens für eine Gefühlsverwirrung mit Sixpack abgeschossen. Jetzt große Reue. Menschen tun so etwas. Die Erschütterung dieses Einschlags, presst die Luft aus meinen Lungen und ich lehne mich an die Wand des Schützengrabens zurück. Hast du mal in meinen Kopf geschaut? Perfekt ist der Euphemismus des gnädig urteilenden Außenstehenden, der lächelt, die Hände in die Hosentasche schiebt und weiterflaniert. Fuck this shit. Der Berg an Zukunftssorgen ist nicht perfekt, die beständig nagende Stimme des Zweifels ist es nicht. Daneben die Angst, dass der Mann in meinem Bett sich abwendet, sobald ich ihn für einen Job allein lassen muss. Und sich einer zuwendet, die ihn von Grund auf versteht, für die er in manchen Angelegenheiten kein Mysterium darstellt. Eine, die bei ihm bleibt. Bedingungslos und loyal. Hast du mal in die Welt geschaut? Pessimismus. Resignation. Realitätsverdrossenheit. Das bleibt kein Platz für Perfektion. „Ich habe es schon immer gewusst, du machst deinen Weg.“ Wenn ehemalige Lehrer, Kollegen, Kommilitonen, alte Bekannte, Freunde, ja, sogar Nachbarn nicht müde werden, diesen Satz wieder und wieder von sich zu geben, dann möchte ich gern daran glauben. Mich zurücklehnen, noch weiter vom Geld meiner Eltern leben und mich ohne den kleinsten Anflug von schlechtem Gewissen am Arbeitslosengeld bedienen, dass der Sozialstaat für mich bereithält. Ich mach ja meinen Weg. Eh und sowieso. Der nächste Job, die große Chance kommt bestimmt. Das wird ein super Ding, ohja. Man scheint mich im Moment nicht zu brauchen, aber irgendwann kommt der Tag, an dem Deutschland nach mir ruft! Erst Deutschland und dann die Welt! Dafür sprechen meine Noten, meine Praktika und mein nettes Äußeres. An solchen Tagen fällt es mir leicht, darüber hinweg zu sehen, dass mein Lebenslauf zur Kampfzone geworden ist. Kampfzone für die Grabenkämpfe der Personalabteilungen. Querschläger aus dem sozialen Hinterfeld. Ein Minenfeld von Blindgängern der Tagespolitik. Und dann gibt es die anderen Tage. An diesen kommt das schizophrene Äquivalent zu meinem hoffnungsfrohen, sonnigen Ich zum Vorschein und das Bedürfnis mich in meinen Phantasien von Benedict Cumberbatch zu verkriechen überwältigt mich. Jetzt sitzt er da, neben mir, in diesem Zugabteil, in dem die Klimaanlage ausgefallen ist. In jenem dunkelblauen Anzug, in den ich mich noch ein kleines bisschen mehr verliebt habe, als seine redegewandte Abhandlung über Putins Gesetze. Ich kann den feinen Stoff unter meinen Fingern fühlen, spüre den Körper unter dem enganliegenden Hemd, lass mich von einem privaten Lächeln wärmen und mich in Arme ziehen, die die Realität ausblenden. „Fuck all this shit“, seine Stimme mehr eine wahrnehmbare Vibration durch meine Eingeweide als tatsächlich hörbar, bis ich feststellen muss, dass es sich dabei nur um mein Handy handelt. Eine ungelesene Mail in meinem Posteingang. „Sehr geehrte/r Bewerber/in, Ihr Lebenslauf und Ihre Qualifikationen haben uns sehr beeindruckt. Wir bedauern jedoch sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Sie trotz Ihres interessanten Profils bei der Besetzung der Stelle nicht weiter berücksichtigen können. Bitte haben Sie Verständnis für diese Entscheidung, die uns nicht leicht gefallen ist. Da wir ständig neue Talente und erfahrene Fachkräfte suchen, möchten wir Sie ermutigen, sich weiterhin über offene Stellen in unserem Unternehmen zu erkundigen. Wir danken Ihnen nochmals für das Interesse und wünschen Ihnen für Ihre persönliche berufliche Zukunft alles Gute.“ Mit einem Seufzen verschiebe ich die Mail zu den anderen Absagen. Well, fuck it.
Zwölfter Platz: „Profis fahren rund“, Cornelius Grupen Ping. Er hat mir geschrieben! “Kleine Fahrradtour morgen Nachmittag?” Ich antworte, ohne nachzudenken. “Na klar! Wann und wo?” Ping. “Um drei am Savignyplatz?” “Ich freu mich,” texte ich besinnungslos zurück. Ping. “Okay, super.” Verdammte Textnachrichten. Am nächsten Tag stehe ich ratlos vor dem Spiegel, natürlich noch im Schlafanzug. “Ich habe nichts zum Anziehen,” jammere ich. “Und Imelda Marcos hat keine Schuhe,” sagt Nina. Nina kann sehr gehässig sein. Allerdings leiht sie mir ihr Fahrrad. Ich darf jetzt keinen Streit riskieren. “So mein ich das doch nicht.” Nina zieht die Augenbrauen hoch. “Nichts für eine Fahrradtour!” Um es ihr zu beweisen, hole ich nacheinander verschiedene Teile aus dem Kleiderschrank und werfe sie aufs Bett. “Haremshose? Zu weit. Hotpants? Zu billig. Sommerkleidchen? Zu kurz. Overall? Zu Disko. Latzhose? Zu öko. Röhre? Zu eng. Jogginganzug? Zu Hermannplatz.” Der Haufen auf dem Bett wächst und wächst. “Siehst Du? Nichts!” Nina lässt mich kopfschüttelnd vor dem Spiegel stehen und geht auf den Balkon, rauchen. Das macht sie immer, wenn ihr keine gute Antwort einfällt. Ich male mir die Augen an. Kajal total. Und Lidschatten. So viel Zeit muss sein. Ich sehe zur Uhr. Schon fast halb drei, und ich bin immer noch im Schlafanzug. Shit. Also Leggings und T-Shirt. Normal. Normal ist gut. Normal wird nach der Fahrradtour zum Eis eingeladen. “Bist Du sicher?” Nina ist zurück vom Rauchen. “Wieso?” “Mal hinten drauf geguckt?” Ich ziehe das T-Shirt wieder aus. Es ist das Tour- Shirt von ‘Tote Crackhuren im Kofferraum.’ Ich war so stolz! Aber auf dem Rücken steht ‘Mama ich blute’ in verschmierten roten Buchstaben. Keine gute Idee. “Hier, das hier!” Nina wirft mir ein rosa Top zu. Ich ziehe es an. Es ist sehr eng. “Im Ernst?” “Wird ihm gefallen.” “Du kennst ihn doch gar nicht!” “Jetzt fahr endlich los. Du bist sowieso zu spät.” Nina hat recht. Ich bin immer zu spät. Aber meine Haare! Keine Zeit. Also Sonnenbrille auf und los. Bis zur Uhlandstraße fahre ich mit der U-Bahn. Von da sind es nur noch fünf Minuten. Es ist trotzdem fast vier, als ich am Savignyplatz ankomme. Eigentlich hab ich schon jetzt genug. Er wartet gegenüber vom Einstein, lässig an sein Rad gelehnt. “Na?”, sagt er, aber es klingt nett. Keine Klagen über meine Verspätung. Punkt für ihn. Allerdings sehe ich sofort, dass wir verschiedene Vorstellungen von einer kleinen Fahrradtour haben. Er eher so Tour de France, ich eher so Breitensport. Sein Fahrrad ist aus Karbon. Meins ist ja nicht mal meins. Seine Füße stecken in Fahrradschuhen. Meine in Chucks. Er hat sich aufgewärmt. Ich hab mich hübsch gemacht. So gut es eben ging. Was wohl die Leute im Einstein denken? Faules Flittchen mit Personal Trainer? Dafür sehe ich nicht reich genug aus. Er lässt mir keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. “Profis fahren rund,” sagt er mit kritischem Blick auf meine Füße. Ich hab keine Ahnung, was er meint. “Du hast Biopace-Kettenblätter drauf,” erklärt er mir. “Hm?” Ich versuche, nicht genervt zu klingen. “War in den Achtzigern mal so ein Trend, ovale Kettenblätter. Um den Totpunkt beim Treten auszugleichen.” “Aha.” Läuft ja super. Warum wollen Männer mir immer was erklären? “Ja. Bringt aber nix. Ohne Haken sowieso nicht,” sagt er. “Wenn Du meinst.” Ist das vielleicht ein verstecktes Kompliment? Dein Rad ist scheiße, aber du bist heiß? Ich denke zu viel. “Profis fahren rund,” sagt er noch einmal und zeigt auf sein eigenes Rad. Das wird anstrengend. Immerhin sieht er super aus. So enge Hosen stehen ja wirklich nicht jedem, aber er kann das tragen. Nur der Helm ist hässlich. Irgendwie insektoid. “Cooles Outfit,” sage ich versöhnlich. “Danke,” sagt er. Ich warte, aber da kommt nichts mehr. Verkehrte Welt. Er steigt aufs Rad. Ich hinterher. Wir holpern die Kantstraße lang. Er hat wirklich schöne Waden. Ich bin der Esel, und er ist die Karotte. Eine sehr schnelle Karotte allerdings. Wir sind gerade mal am Tiergarten, da geht mir schon die Puste aus. “Pause!” rufe ich. Meine Stimme klingt zickig. Kein Wunder. Ich kann nicht mehr. Er guckt mich ungläubig an, über die Schulter. Geschmeidig. Wie in Zeitlupe. Lässig. “Nur Spaß,” sage ich, aber wer soll das glauben? Ich schiele zum Straßenrand. Ein kleines Mädchen kommt aus einer Eisdiele, mit Schlemmertüte, und strahlt. Sehr gerne hätte ich jetzt auch ein Eis, aber ich trau mich nicht, ihm das zu sagen. Also weiter. Ich trete mit voller Kraft, um mich nicht noch mehr zu blamieren. Ninas rosa Top ist mittlerweile brombeerfarben vor Schweiß. Die Leggings sind beschichtet und ungefähr so atmungsaktiv wie Plastikfolie. Das Wasser läuft mir an den Beinen runter in die Schuhe. Beim Treten entsteht ein schmatzendes Geräusche. Ich keuche wie ein krankes Pferd. Ihm scheint das alles zu gefallen. Vielleicht ist er Erschöpfungsfetischist? “Merkst Du, wie Du langsam in den Rhythmus kommst?” Klarer Fall von Frauenhass. Wenn das so weitergeht, verrecke ich in Weißensee, und er fährt weiter bis nach Usedom. Letzter Versuch. “Hast Du nicht Lust auf ein Eis?” rufe ich mit rasselnder Lunge. “Nee, Du?” “Die Hunderose ist hier gleich um die Ecke!” “Hunde was?” “Eisdiele, ” schnaufe ich, “Bötzowstraße.” “Okay.” Wir rumpeln übers Kopfsteinpflaster am alten Kino vorbei. Ich zähle die Querstraßen. Eins, zwei, drei. Ich bin kurz vor dem Kollaps, als wir am Arnswalder Platz ankommen. Seine Fahrradschuhe klackern auf dem Bürgersteig. Ich schlurfe kraftlos hinterher. “Was nimmst Du denn?” frage ich. Er winkt ab. “Nur Fett und Zucker,” sagt er, “nichts für mich.” Meint er jetzt das Eis oder meint er mich? Er will keine Zuckerfrau. Er will eine Muskelmaus. Mit Rhythmus, aber ohne Körperfett. Oder denke ich schon wieder zu viel? Wir sind an der Reihe. “Ich nehme einen Milchshake,” höre ich mich sagen. Ist bestimmt genauso fett wie eine Schlemmertüte, sieht aber gesünder aus. Er zieht sich umständlich seine Handschuhe aus und zahlt für mich. Immerhin. Wir setzen uns an einen Tisch. Viel zu sagen haben wir einander nicht. Er nippt an seiner Fahrradflasche. Ich schlürfe meinen Shake. Er guckt ein paar mageren Mädchen hinterher. Ich bestaune seine harten Waden. Vielleicht passen wir doch ganz gut zusammen. “Waffenstillstand?” frage ich. “Wie meinst Du das?” Er guckt verwirrt. Ich versuche es mal mit der Wahrheit. “Ich kann echt nicht mehr.” “Wie, jetzt schon?” Ich trete gegen sein Schienbein, mehr so zum Spaß. “Ja, jetzt schon, Du Sklaventreiber.” Er wird rot. Wie süß. “Soll ich Dich nicht wenigstens nach Hause bringen?” “Lass mal, ich nehm die Bahn.” Er will mir zum Abschied ein Küsschen geben, aber sein Helm verfängt sich in meiner Sonnenbrille. Es dauert eine Ewigkeit, bis wir das wieder auseinandergefummelt haben. Nix mit Küsschen. Meine Brille ist verbogen, und er grinst schuldbewusst, als hätte ich ihn beim FDP-Wählen erwischt. “Jetzt hau schon ab, ich ruf Dich an,” sage ich und puste mir die Haare aus dem Gesicht. Er schwingt sich auf sein Rad. Bestimmt dreht er noch eine kleine Runde bis zum Rand der Atmosphäre. Ich schiebe Ninas Gurke bis zur S-Bahn an der Greifswalder Straße. Natürlich ist die Rolltreppe kaputt. Es ist erst halb sieben, als ich wieder zu Hause bin, aber ich bin sehr, sehr müde. Nina ist nicht da. Ich lege mich ins Bett. Am nächsten Morgen steht sie mit Kaffee in der Tür. “Und? Spaß gehabt?” “Mir tut alles weh.” “Klingt gut. Was genau?” “Du bist so widerlich.” “Details!” “Er nimmt das mit dem Radfahren ziemlich ernst.” “Will er denn was von Dir?” “Glaub schon.” “Und Du von ihm?” “Weiß ich doch noch gar nicht.” “Aber er gefällt Dir.” “Schöne Waden hat er jedenfalls.” “Soll vorkommen, bei Radfahrern.” “Reicht das denn, schöne Waden?” “Du musst ihn ja nicht heiraten.” “Hab ich auch nicht vor.” “Und weiter?” “Ich hab gesagt, ich ruf ihn an.” Nina geht auf den Balkon, rauchen. Als sie wiederkommt, stehe ich vor dem Spiegel. “Findest Du, ich sehe sportlich aus?” “Alles eine Frage der Verpackung.” “Was soll das denn heißen?” “Aufrüstung ist angesagt!” Ich will wieder ins Bett, aber Nina schleppt mich zu Cicli Berlinetta. Jacke, Hose, Helm, Socken, Schuhe, Handschuhe, alles unfassbar teuer und alles in grün-weiß-rot. “Ich sehe aus wie ein Clown,” maule ich. “Ein sexy Clown,” sagt Nina. “Ein Siebenhundert-Euro-Clown,” sage ich. “Denk an seine strammen Waden.” “Ich weiß nicht.” “Sie behält die Sachen gleich an,” sagt Nina zu der Frau an der Kasse. Die zuckt mit den Achseln und stopft meine alte Jeans in eine Tüte. Ich zahle. “Jetzt brauchst Du nur noch eine fette Freundin.” “Wie bitte?” “Ohne Taille. Martina. Neben der siehst Du fit und fruchtbar aus.” “Du spinnst.” “Im Krieg ist alles erlaubt.” “Und was bringt mir das?” “Ihr hängt sie gemeinsam ab, und schon …” Nina macht eine obszöne Geste. Ich will protestieren, aber der Plan ist nicht so schlecht. Ich rufe Martina an. Sie ist begeistert. Martina ist immer gleich begeistert. Ich fühle mich elend. Zum Glück ist sie bei Ihren Eltern in München und kommt erst in zwei Wochen wieder nach Berlin. “Ich zieh das jetzt alleine durch,” sage ich. “Mach doch, was Du willst,” sagt Nina und geht rauchen. Ich schreibe ihm eine Textnachricht. Er antwortet sofort. Ping. “Na Prinzessin, Muskelkater?” Frechheit. Aber ich muss lachen. “Ich doch nicht. Du vielleicht?” Ich drücke auf ‘Senden’. Ping. “Bisschen,” textet er zurück. “Neuer Versuch?” Senden. Ping. “Ja klar!” “Und wohin?” Senden. Ping. “Tempelhof?” “Klingt gut.” schreibe ich. Ich male mir aus, wie wir gemütlich über die Startbahn rollen. Abendsonne, leichte Brise, dann mal sehen. Ich hoffe nur, er will kein Rennen fahren. Ping! “Treffen an der Luftbrücke? Um fünf?” “Ok,” antworte ich. Es ist schon kurz nach drei. Solarium fällt flach. Also Selbstbräuner. Nichts sieht ja fieser aus als weiße Haut zu weißem Stoff. Eine Stunde einwirken lassen, steht auf der Tube mit dem Bräunungszeug. Könnte gerade noch so klappen. Aber dann brauche ich zehn Minuten, um die tausend Etiketten von den Fahrradklamotten abzukriegen, und schon bin ich wieder zu spät. Ich gucke in den Spiegel im Flur. Tomate, Mozzarella und Basilikum auf zwei bleichen Beinen. “Geiler Style,” ruft Nina mir vom Balkon hinterher. Sie hat gut reden. Sie muss ja nicht mit den komischen Schuhen fahren. Irgendwie passen die nicht auf die Pedale. Ich rutsche ständig ab. Und schwitze schon wieder wie verrückt. Jetzt ist auch noch rot! Ich zuppel an der Hose rum. Der Selbstbräuner hat sich in die Kunstfaser gefressen. Von wegen Mozzarella. Schmelzkäse wohl eher. “Das geht doch nie wieder raus!” brülle ich. Ein Motz-Verkäufer fühlt sich angesprochen und guckt mich ängstlich an. Endlich wird die Ampel grün. Als ich ihn sehe, muss ich grinsen. Ich: Lycrahose, Trikotjacke, Insektenhelm. Er: Shorts, Kapuzenshirt, Baseball-Kappe. Ich hab aufgerüstet, und er hat abgerüstet. “Ich dachte, wir machen vielleicht ein Picknick,” sagt er. “Und ich dachte, wir trainieren fürs Zeitfahren,” sage ich. “Ja, wenn Du willst?” “Nee, schon gut, Picknick ist super.” Er hat sogar Stullen geschmiert. Ich habe ein gutes Gefühl. Wir schieben die Räder und holen uns Schultheiß in der Hasenschänke. Es wird ziemlich spät. Licht haben wir natürlich beide nicht. Bei Dunkelheit ist das Tempelhofer Feld ein gefährliches Gelände. Gräben, Scherben, Einweggrills, betrunkene Berliner. Wir brauchen eine Ewigkeit, bis wir wieder an der Straße sind. “Ich zeig Dir einen Trick,” sagt er, bierernst. “Au ja,” sage ich, beschwipst. Er fährt an mir vorbei, viel zu schnell für die Uhrzeit und den Alkoholpegel. “Bleib dicht dran,” ruft er. “Is gut,” schnaufe ich. Ich hätte die Luft aus den Reifen lassen sollen. Zu spät. Immer, wenn ein Gully kommt, zeigt er mit der rechten Hand zum Rinnstein. “Dann kannste ausweichen. Sonst bleibste noch mit dem Reifen hängen,” erklärt er. Na super. Es lief so gut, und nun zeigt er mir seinen Gullytrick. Ich könnte mich einfach vom Rad fallen lassen. Bis er was merkt, ist er bestimmt längst in Brandenburg. “Willste auch mal versuchen, Gullys zeigen? Geht ganz leicht!” Das glaubt mir keiner, wenn ich das erzähle. Ich hätte doch Martina mitnehmen sollen. Dann hätte ich wenigstens eine Zeugin. “Meinetwegen,” sage ich. Ist jetzt auch egal. Er lässt mich überholen. Dicht hinter mir surrt seine Kette. “Mehr Vorderfuß,” ruft er. “Dann kommt die ganze Kraft auf die Pedale!” Mittlerweile sind wir auf dem Columbiadamm. Hier gibt es jede Menge Gullys. “Wolln wir nich noch was trinken gehn?” schlage ich verzweifelt vor. Keine Antwort. Das Surren hat auch aufgehört. Ich gucke mich um. Im selben Moment fliegt er an mir vorbei. Ohne Fahrrad. Das steckt mit dem Vorderrad in einem Gully fest. Er prallt gegen eine solide Infotafel der Bebauungsgegner und ruht sich erst mal aus. Aus dem Sattel, aus dem Sinn. “Fahrradfahren ist Selbstmord,” sagt der Sanitäter, “besonders in Berlin.” Er lebt noch, aber seine Beine sehen übel aus. “Kommen Sie mit ins Krankenhaus?” fragt der Sanitäter. Ich nicke. Die Räder lass ich stehen. Unterwegs kommt er kurz zu sich und kotzt den Krankenwagen voll. Es stinkt, nach Stullen und nach Schulle. Er guckt mich fragend an und wird wieder ohnmächtig. “Gehirnerschütterung,” sagt der Sanitäter. “Hätte mal besser Helm getragen, so wie Sie.” “Ist ihm zu spießig,” sage ich. “Sehr leichtsinnig.” “Hab ich ihm auch gesagt.” “Wir müssen operieren,” sagen sie mir im Krankenhaus. “Gehen Sie mal nach Hause.” Ich fahre mit dem Taxi zurück zum Columbiadamm, aber die Räder sind natürlich weg. Ich will wieder ins Taxi steigen, aber da sitzen schon zwei bekiffte Italiener drin. “Eh, carissima, è bella maglia!” lallt der erste. “Ma dimmi, dov’è la tua bicicletta?” fragt der zweite. Das wüsste ich auch gerne. Verdammte Touristen. Ich schleppe mich zum Südstern. Abfahrt in 17 Minuten. “Na, schon verlobt?” fragt Nina. “Halt einfach die Klappe,” sage ich. “Wo ist eigentlich mein Fahrrad?” “Was weiß ich. In Italien. Geklaut.” Das wirkt. Nina geht rauchen. Zwei Wochen später besuche ich ihn in der Reha, Klinikum Friedrichshain. Der Idiot hat sich tatsächlich beide Beine gebrochen. Er sitzt im Rollstuhl. Wir gehen in den Park. Wir kommen nur bis zum kleinen Teich, denn der Rollstuhl eiert gefährlich. “Bin Kassenpatient,” sagt er kleinlaut und zeigt auf die krummen Rollstuhlräder. “Profis fahren rund,” sage ich.
Dreizehnter Platz: „Blackbox“, Holger Jäckle 1 Freitag. Ich wache auf wie elektrisiert. Meine Hände sind so sehr zu Fäusten gekrampft, dass die Knöchel schalweiss hervortreten. Wie Schraubstöcke sind beide Kiefer mahlend aufeinandergepresst. In meinem rechten Ohr wird der Sinuston derartig laut, dass er das Bett mit mir in ein schweißnasses Zittern versetzt. Ich spüre ganz deutlich, dass über mir im diffusen Morgenlicht Augen sind, die mich von der Decke herab beobachten, untereinander flüstern und Wetten abschliessen darüber, was er jetzt tun wird. Sie sind gelangweilt, weil die Show wohl einige Stunden Pause hatte. Ich presse die Augen zusammen und stelle mich tot, wie ein Verwundeter auf dem Schlachtfeld, nach dem großen Gemetzel, wenn die Sieger dampfend im Nebel über die Körper marodieren und auf alles einstechen, in dem noch ein Rest Leben ist. Ich frage mich, wie ich überhaupt schlafen konnte, doch das ist der letzte klare Impuls, denn wie ein Schwarm Vögel stürzen kreischende Gedanken auf mich, stossen durch meine Haut, reissen mir einzeln die Haare vom Kopf, versuchen mit ihren gegeneinander rasselnden Schnäbeln die Stelle zu finden, an denen die Schädeldecke bereits am brüchigsten ist. Es hat keinen Sinn. Ich stehe auf, stelle mich breitbeinig hin, den Kopf leicht gesenkt. Hebe beide Arme um zu zeigen, dass ich unbewaffnet bin. Der Geruch kalter Angst steigt auf, mischt sich mit dem metallischen Geschmack von Blut. Ich spüre, dass das hohe Gericht über mir mit meiner Geste nicht zufrieden ist. Meine Hände sind noch immer zu Fäusten gekrampft, der Körper zittert vor zerreissen wollender Spannung. Mit ganzer Kraft versuche ich die Fäuste zu öffnen, atme tief ein und halte die Luft an, bis helle und dunkle Flächen vor meinen Augen tanzen. Atme aus, langsam, öffnen sich meine Hände, geben die Handteller frei. Ein letzter Hauch Wärme weicht von mir. Ich strecke die Finger formvollendet gerade nach oben. Das drängende Flüstern der Augen verstummt mit einem anerkennenden AAAAAAAH! Die Show muss schließlich weitergehen. 2 Dieses seelenschlürfende Neolicht in der U-Bahn lässt selbst die dunkle Haut meines Gegenübers wie tot aussehen. Er trägt eine Hippsteruniform die meiner gleicht. Wahrscheinlich arbeitet er wie ich für das Fernsehen. Ich habe mich zumindest soweit wieder hergestellt, dass ich von aussen betrachtet für das abschließende Briefing bereit bin. Vielleicht ist er ein neuer Kollege? Er spürt meinen Blick und ich fixiere gerade noch rechtzeitig den überquellenden Notizblock, der in meinem Schoss liegt. Die Notizen für den Nachdreh der neu aufgelegten Doku-Soap habe ich mir beim Rapport in der Höhle des Drachen gemacht. Sie sind ein undurchdringliches Gekrakel, das meine Hand ganz von selbst erzeugt hat, während ich unter bohrenden Blicken unablässig bestätigend mit dem Kopf genickt habe. In den letzten Wochen ist meine Schrift absolut unleserlich geworden. Ob das etwas zu bedeuten hat? Der Versuch direkten Augekontakt zu vermeiden, ist das Einzige was uns alle hier miteinander verbindet in den dunklen Adern der Stadt. Nur die Überwachungs-kamera über dem Infobildschirm dokumentiert das manische Schauspiel, mit dem die Fremdkörper einander verstohlen sezieren. Doch da kann immer auch jemand sein, der die verstohlenen Blicke des anderen ertappt. Wer beim Sezieren durch einen anderen Sezierer seziert wird, der hat verloren. So lautet das ungeschriebene Gesetz. Das Wort Nachdreh lösst bei meiner Chefin einen unkontrollierten Blutrausch aus. Nachdreh heisst, das ETWAS nicht funktioniert hat. Das Wort Nachdreh gibt es in ihrer Fernsehproduktionsfirma eigentlich nicht, denn es bedeutet Kosten die nicht kalkuliert sind. Und unkalkulierte Kosten kosten den Kopf. Kamera, Tontechnik, Licht, Auto, plus meine One-Man-Army-Arbeitskraft zum Dumpingpreis. Es gibt einfach zu viele von uns in der glitzernden Retortenwelt. Friss oder stirb. Big mommy is watching you! Es muss Ende des Monats sein, denn auch die Obdachlosen sind aggressiver. Dieser hier spricht sogar den Dealer an, der schon morgens um acht zwischen Adenauer und Bismarck pendelt und mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit seine Kunden bedient. Krampfhaft starre ich auf mein Buchstabengewirr, als der verschlissene Kaffeebecher direkt vor meinen Augen Münzen klirren lässt. Ich kann spüren, wie er einen Teil seiner Verrücktheit bei mir abladen will, spüre die gieriger Düsternis, die wie ein Staubsauger Energie aus mir zieht, bis ich mich nicht mehr wehren kann. Mein Blick gleitet seine Vogelscheuchengestalt hinauf in ein Gesicht, das mich an einen verwesenden Vogel erinnert, die Nase spitz zulaufend wie ein Schnabel. Seine Stimme ist ein krächzendes Gurren mit einstudierter Melodie: 20 Cents. Für was zu essen? Er zwingt mich in Augen zu sehen, die ich nicht beschreiben kann. Sein Blick erinnert entfernt an die lieben Kollegen, wenn sie aus purer Bosheit: Na, wie läuft’s denn bei dir? fragen. Wann und wodurch hat mein sorgsam imprägniertes Es-läuft-alles-super-Gesicht zu bröckeln begonnen? Wie zur Hölle soll ich in diesem Zustand den Nachdreh hinter mich bringen? Ich war ein Profi darin, das innere der Protagonisten nach aussen zu kehren. Sie über ihre Knebelverträge hinwegzutäuschen, so wie ich es auch mit mir selbst mache. Und jetzt? 20 Cents. Für was zu essen? Ich werde blutrot, mit vor Verzweiflung aufgerissenen Poren kämpfe ich gegen sein Drängen an, als ginge es um mein Leben. Alle im Abteil sehen uns an. Plötzlich sind wir eine Gemeinschaft. Ich denke: Wie viele Stationen noch? Sein Blick antwortet mir: Bald, bald ist es soweit. 3 Sonntag. Ich wache auf, sitze auf meinem Sofa, angezogen in Jacke, Schuhen und vollgepisster Hose. Irgendetwas ist passiert, denn meine Hände liegen flach und unverkrampft auf meinen Schenkeln. Für einen Moment bin ich tatsächlich völlig entspannt. Meine Brille liegt ordentlich zusammengeklappt vor mir auf dem Tisch. Ich habe absolut keine Ahnung wie der gestrige Tag verlaufen ist, wann und wie ich nach Hause gekommen bin. Was ist passiert? Panik schießt in mich, ich bemerke, dass mein Handy in der linken, völlig durchnässten Hosentasche steckt. Es ist tot. Ohne das Ding bin ich verloren. Der Kühlschrank startet passend sein nervtötendes Brummen, das sich anhört, wie der dumpf und grell auf- und abschwellende Gesang mechanischer Indianer beim Kriegstanz. Ich ziehe mich aus, packe alle Klamotten in die Waschmaschine, betrachte mich im Badezimmerspiegel. Während sich Wasser in die Maschine saugt, denke ich daran, dass mein Handy gegen alles möglich versichert ist. Aber allein der Gedanke, dass sie untersuchen könnten welche Art von Flüssigkeit es zerstört hat, ist unerträglich für mich. Dann bemerke ich das walnussgrosse Ding, das sich überhalb meiner Genitalien, rechts unter dem Schamhaar aus meinem Unterleib drückt. Erst als ich es zaghaft berühre, fühle ich den stechenden Schmerz, der sich über die Hoden mein Bein hinabzieht. Ich stehe einfach nur da und blicke entsetzt zwischen Spiegel und Ding hin und her. Wie lange? Ich weiss es nicht. Als die Maschine zu schleudern beginnt, dreht auch der Raum sich um mich. 4 Montag. Beim Blick aus dem Fenster im Wartezimmer fällt mir auf, dass es Sommer ist. Es ist gerade ein unglaublich beruhigendes Gefühl, dass mein Handy nicht klingeln kann. Und dieses Ding in der Hose ist ein handfester Grund und nicht nur Befindlichkeit. Es verleiht mir das Recht, jetzt nicht in der Redaktionssitzung zu sein. Auf meinem temporär, projektbezogenen Schleudersitz in der Höhle des Drachen. Ein Taumeln kann sich vor ihr nur erlauben, wer Sympathiepunkte hat. Da habe ich völlig verkackt. Ich bin weder Frau, noch gay, noch habe ich Kinder. Ich bin noch nicht einmal hart genug, um immer zu lächeln. Ich bin Drachenfutter. Vor der Höhle drängen die Scharen zukünftiger Selbstausbeuter, drinnen wird sich untereinander, professionell an den Stühlen gesägt. Einfach hier sitzen. Die Sonne sticht mich mit ihren gleissenden Nadeln. Es ist ein wohliger Schmerz. Flüssigkeit quillt aus der Tiefe in meinen ausgetrockneten Brunnen. Ich bin so kurz davor endlich zu heulen. Spüre, dass bald, bald alles aus mir herausbricht. Es gibt wirklich nichts befreienderes, als die Entspannung nach einem Weinkrampf. Das ist die einzige Erkenntnis aus 35 Lebensjahren, der ich mir völlig sicher bin. Ich habe kein Problem damit, vor meiner Ärztin die Hosen herunter zu lassen. Doch zu meinem Entsetzen ist das Ding nicht mehr da. Mit einem Stromstoss ist meine Entspannung verschwunden. Ich spüre das aufpoppen von der Decke stierender Augen. Verliere jegliche Fassung als Frau Doktor erwähnt, dass es sich theoretisch um einen Leistenbruch handle, sie aber nichts ertasten kann. Dann hört sie nicht auf, wie ein Geier um meinen Allgemeinzustand zu kreisen. “Ich habe ihnen schon beim letzten Mal gesagt, dass es so nicht weitergehen kann”, sagt Sie. Und mit Blick auf meine krampfenden Fäuste: Sie brauchen eine richtige Auszeit. Nicht nur für zwei bis drei Tage. Sie müssen zu sich kommen. Sie lächelt ihr vertrautes, gewinnendes Lächeln. Haben Sie in der letzten Zeit mal in den Spiegel geschaut? Sie sehen nicht besonders gut aus, um es mal diplomatisch zu sagen. Wie eine startende Triebwerkturbine fährt kalter Hass meinen nackt vor ihr stehenden Körper hoch. Das mechanische Kriegsgebrüll meines Kühlschranks setzt ein: Sie wissen genau, dass ich mir das nicht erlauben kann! Es wird lauter in mir: Jeder in dem Laden könnte sich vom Fleck weg krankschreiben lassen! Immer lauter: Dann bin ich weg vom Fenster! Kreischend: Und ja, ich habe in den Spiegel gesehen. Sie: “Und was haben Sie gesehen?” Kreischend dröhnende Stille. Die Knöchel aus meinen Fäusten treten wie weisse Klingen hervor. Wie ich den Drang sie zu zerfleischen unterdrücken soll weiss ich nicht. Ein Gedanke kitzelt mich wie von Geisterhand, reißt meine Fäuste hoch in die Luft. Zeit für ein kleines Haiku: Wer nicht ausbrennt, der arbeitet einfach nicht hart genug. Mit weit ausgebreiteten Armen ergebe ich mich der Komik der Gesamtsituation. Verzerrt lachend stimme ich ein in das HEYAHEYAHEYAHEYA der Krieger. Drehe mich mechanisch tanzend vor Frau Doktor im Kreis. 5 Keine Ahnung was für ein Tag heute ist. Die Zeit zieht im Sturzflug an mir vorbei. Mit der Wohnung geschehen seltsame Dinge, doch ich spüre ganz deutlich, dass ich sie nicht verlassen darf. Sonst wird etwas passieren, dass ich nicht wieder gut machen kann. Doch Mäander ist bei mir. Frau Doktor hatte Recht. Er ist kein Leistenbruch. Wie eine walnussgroße Kugel glühend heisses Metall driftet er unter der Haut durch meinen Körper. In mir ist der Drang ihn herauszuschneiden, nur das gurgelnde Brummen des Kühlschranks hält mich ab. Es hört sich jetzt an wie ein Schwarm beunruhigend gurrender Tauben. Doch das ist eigentlich gar nicht möglich, denn längst schon habe ich aus allem den Stecker gezogen und den Sicherungskasten mit dem Hammer zerlegt. Etwas in mir ist verloren gegangen und ich werde es wiederfinden. Hier in diesen vier Wänden. Meinen Kern wiederfinden, auch wenn er unter kontinentalschweren Platten zermalen ist. Da ist dieses extreme Völlegefühl in mir, durch die sich zu unbesteigbaren Gebirgen auftürmende Leere. Sie zeigt mir ihr Panorama im Spiegel: Das wachsweiche Gesicht eines formlosen Kindes, das sich den Kopf an einer grob verputzten Wand blutig schlägt. Ein aschfahler blonder Jüngling, der auf dem Sofa sitzt und bemerkt, dass er sich vor Verzweiflung die Haare ausreisst. Das Zerrbild des um Anerkennung rudernden Sklaven auf der Galeere ins Nichts. Bald, bald! rufen mich die Sirenen. 6 Mäander brodelt in mir, ich liege auf den kühlenden Fliesen und lausche dem Gurren der Tauben, das aus dem Kühlschrank dringt. Es lenkt mich davon ab, auf das Wiederkehren der Krämpfe zu warten, die wieder und wieder zwanghaft versuchen meinem Darm zu entleeren, obwohl ich seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen habe. Doch alles was dabei herauskommt ist ein weißlich zähes Sekret und dann immer wieder auch Blut. Manchmal nur einzelne Tropfen, dann wieder ein Schwall, der die weissen Fliesen mit der Karte eines unentdeckten Landes verziert. Was mir wirklich Sorgen macht sind die Risse in den Wänden. Sie wachsen immer schneller zu Kratern heran. Auch die Decke hat sich bereits soweit herabgesenkt, dass die Türrahmen unter Knacken und Knirschen zersplittern. Je näher die Decke zu mir rückt, desto drängender werden die Krämpfe. Und dann endlich, während meine Zähne zu vereinzelten Tönen zersplittern, pflanzt der erlösende Satz sich in mich. Mäander verlässt mich. Die Augen sehen von der Decke herab, wie eine milchige, walnussgroße Kugel aus Licht meinen Schoss verlässt. Sekunde für Sekunde wächst sie zu einem galertartigen Etwas heran, verwandelt sich in das wachsweiche, formlose Gesicht eines Kindes. Im Knirschen der niederfahrenden Decke wird Mäander zu meinem dreijährigen Ich. Der gurrende Chor mahnt zur Eile. Mäander öffnet die sich verzerrende Kühlschranktür, hinter der drei weisse Tauben mit ihren Krallen auf der milchigen Glasplatte scharren. Er kniet nieder, da die Decke für einen Siebenjährigen bereits zu niedrig ist. Seelenruhig gurrt er ihnen freudig und ohne Hast zu, denn DER WAHRE KRIEGER WEISS IMMER, DASS ER NICHTS WEITER TUN KANN, ALS DIE RUHE BEWAHREN UND DEN WILLEN DES HIMMELS DURCH SICH FLIESSEN ZU LASSEN. Je eine der Tauben setzt sich auf seine Schultern, die dritte in seinen Nacken, als er vierzehnjährig gen Ausgang robbt. Mit einundzwanzig erreicht er den letztmöglichen Türspalt. Wenn er unter aus der Tür in den Innenhof tritt, wird er fünfundreissig Jahre alt sein und wir lassen die Tauben mit einem stillen, sanftmütigen Lächeln gen Himmel steigen, wie ich es auf meinem Gesicht noch nie zuvor gesehen habe.
Vierzehnter Platz: „Brandtsetter geht“, Sibylle Luithlen Er schlug die Türe fester zu, als beabsichtigt. Wenn Meike nun aufwachte; neben sich fasste, wie immer, wenn sie aufwachte, dort nichts finden würde als einen Rest Körperwärme, und dann. Aber egal. Er ließ die Garage aufschnurren, es war laut, in seinem Kopf dieser Nebel, neongelb, aggressiv. Kerner, das Schwein. Wieder vor der ganzen Belegschaft. Oder sehen Sie das anders, Herr Brandtstetter? Das Schwein. Einmal Grinsen in die Runde, zehn Mal Grinsen zurück. Nein, sehe ich nicht, Herr Kerner. Blick senken, lächeln; als würde man das auch komisch finden, wie die zehn anderen. Und später in der Kantine, als dieses Gefühl ihm noch immer im Gesicht klebt wie eine Hautkrankheit: nichts für Ungut, Brandtstetter, Grinsen, und er lächelt zurück, kein Problem, weiß ich doch, dabei würde er gerne. Aber das war vorhin. Schwein, denkt er, würde er gerne schreien, aber dann wachen die nachher auf, hängen im Schlafanzug am Fenster und rufen, Peter, was machst du denn da, mitten in der Nacht? Manchmal träumt er davon; ein Schuss, und einer verschwindet aus einem Fenster, noch einer, wieder ein Kopf weniger, und noch einer, sie würden einer nach dem anderen aus den Fenstern verschwinden wie Blumen am Schießstand auf der Kirmes. Aber jetzt ist die Garage offen. Leise rollt er aus der Einfahrt. Im Haus ist es dunkel, also ist Meike nicht aufgewacht. Was Sie Ihrer Frau schon immer mal sagen wollten. Aber wo soll er da anfangen. Die Rubensstraße liegt still und dunkel vor ihm, die Häuser wie eine Reihe von Mausoleen. Dort leben wir also, in so einem Mausoleum. Später wird Sina alles erben. Später, wenn man nichts mehr tun kann als nicht zurück zu gucken, es sich einfach verbieten; auf 35 Jahre Kerner und Meike, einsame Radtouren am Wochenende, ein Kind, das er schon lange nicht mehr ohne Kopfhörer kennt, ein unter Kopfhörern verschwundenes Kind, das eines Tages, eines schönen Tages, eine Zelle im Mausoleum erben wird. Und Meike, die das Singen angefangen hat, die, seit sie in den Chor geht, trällernd durch das Haus spaziert, so viel Anlass zur Freude, so viel Anlass zum Singen, ein Gegen-etwas-Ansingen, das manchmal so jäh verstummt, als wäre der Strom ausgefallen. Manchmal, wenn er sie anguckt, denkt er, wenn ihr nur nichts passiert, wenn nur niemand diese Goldkehle zudrückt, die am Wochenende durch sein Mausoleum trällert, man liest ja alles Mögliche, selbst in Kleinstädten und trotz Frauenparkplätzen. Er beschleunigt, die Rubensstraße ist eine Spielstraße, Tempo 30, aber wenn er jetzt bremst. Können Organe explodieren? Oder Köpfe? Und das Quietschen, klingt wie ne Verfolgungsjagd, wenn nur niemand, aber nein, die schlafen ja alle wie tot, die sind ja gar nicht aufzuwecken. Die Autobahn ist leer um diese Zeit, er tritt aufs Gas, sieht der Nadel auf dem Tacho zu, wie sie immer höher kriecht. Er rast. Mit Annette ist er ein paar Mal so gerast, obwohl sie gejammert hat, du willst uns wohl, gedroht hat. Nie mehr mit dir in ein Auto. Er wusste, es stimmt nicht, er wusste, er brauchte sie nur im Nacken zu fassen, sie an sich zu ziehen, und schon würde DAS über sie kommen, DAS, was er schon fast vergessen hatte. Für unmöglich gehalten hatte. Und was dazu führte, dass er mit Annette in der Mittagspause in der Tiefgarage auf dem Rücksitz seines Autos. Dass er es geschafft hatte, sich in einer Stunde Mittagspause mit Annette aus der Zeit zu schleichen und in der Ewigkeit zu landen. Eine Stunde Ewigkeit. Eine Stunde ohne Schwerkraft, mit nichts als süßem Brei im Hirn. Aber es war nicht nur DAS, es war, wie soll man es nennen. Nach allem, was dann passiert ist. Er hat angefangen, an die Zukunft zu denken, hat Phantasien entwickelt, lächerliche Phantasien. Am Strand von Capri im Sonnenuntergang oder so. Schlimmer als Meike mit ihren englischen Arztfilmen. Er fängt an in Gedanken das Gespräch mit Meike zu üben, das Ich-habe-jemanden-kennengelernt-Gespräch. Versucht sich alle denkbaren Reaktionen vorzustellen, Tränen, Wut, zerschmissene Teller, obwohl, das ist nicht ihr Stil. Sie könnte es auch ignorieren, ihn zum Homöopathen schicken, es ihm einfach nicht glauben, ihm einen Stapel Psychologie-Bücher auf den Nachttisch legen. Fragen, wer ist es. Ist sie jünger. Städtenamen, Kilometerzahlen, Ausfahrten fliegen an ihm vorbei, was gehen sie ihn an. Was geht das alles hier ihn an. Soll sein Haus abbrennen, seine Tochter nach Amerika heiraten, seine Frau ins Kloster gehen, es kann nur besser werden, alles kann nur besser werden. Die Nadel zittert bei 220 km/h, das Auto macht ein bedrohliches Geräusch, ein Sirren im Hintergrund, als bereite es sich auf etwas vor. Selbstzerstörungsmechanismus. Er und sein Auto. Tickticktick. Irgendwo ganz tief drinnen. Tick tick. Und dann. Ein LKW drängt sich auf seine Spur, direkt vor ihn, dabei ist es vollkommen leer. Reine Schikane. Er hupt, bremst, wird nach vorne gedrückt und fällt zurück in den Sitz. Ein Meter vor ihm die Plane, darunter veiculo longo. Schwein!, schreit er, Scheißidiot! Er boxt gegen die Scheibe, brüllt. Dann schert er aus, drückt das Gaspedal durch, hupt, fährt vor den LKW, bremst, fährt wieder an, bremst. Was eiert der denn so, denkt er und sieht in den Rückspiegel, was schlingert der denn mit seinem langen Ding über zwei Spuren, kann der nicht fahren, oder was. Er beschleunigt wieder, lässt sich in den Sitz drücken wie im Flugzeug kurz vorm Abheben, hört auf das Sirren, es setzt bei ungefähr 180 km/h ein. Er in den Mittagspausen mit Annette auf dem Rücksitz seines Autos, ein Wunder, dass nicht mal, nicht ein einziges Mal, jemand gekommen ist; so was wie Liebe, so was wie Glück oder wie, jedenfalls dachte er das. Idiot. Und das ihm, dem seit Jahren alles auf den Zeiger ging. Alles und alle. Am liebsten beim Sport, beim Autorennen mit Dieter, ab und zu mal in der Sauna, der dachte, Glück ist anscheinend, die anderen loszuwerden, das sagt dir nur keiner, vorher. Sie stunden- oder tageweise loszuwerden, eine Radtour zu machen, allein ein kaltes Bier irgendwo, in den Himmel gucken, mehr is nicht. Und auf einmal stellt er sich vor, wie er mit Annette nach Griechenland fährt. Schreibt zig Nachrichten am Tag, hat Herzklopfen, wenn sein Handy pling macht. Sentimentaler Schrott, denkt Brandtstetter. Was von einem Menschen so übrig bleibt, wenn er versucht zu fliegen und dann die warme Strömung plötzlich abreißt. Tausend Meter tief und ankommen auf Beton. Totalschaden. Man müsste Plätze anlegen, auf denen man es entsorgen kann, wie bei Autos. Irgendwohin damit, aus den Füßen. Die Luft ist kühl, die Tankstelle leer. Weit hinten steht eine ganze Herde von LKW’s, groß und reglos, wie schlafend. Er sieht auf sein Handy, während die Tankuhr leise rattert, hinter der beleuchteten Scheibe jemand hin und hergeht, vielleicht räumt er etwas ein oder aus. Gleich fünf. Noch eine gute Stunde, ehe Meike aufwacht. Was könnte er ihr sagen, wenn er in ihr Frühstück geplatzt käme? Oder sie läse gerade Zeitung. Oder schminkte sich, das dauerte mit jedem Jahr länger. Als würde das helfen, das Puder und ihre bunten Stifte. Ob sie ihn je betrogen hat? Ob es einen Mann gab, der wegen ihr gerne sein ganzes Leben hingeschmissen hätte? Weggeschmissen. Einfach in den nächstbesten Mülleimer, mit Haus und Schwiegereltern und Grillabenden mit Demskis. Bei den Ich-habe-jemanden-kennengelernt-Gesprächen in seinem Kopf war eine Variante, dass sie sagen würde: ich auch. Jetzt kann ich es dir ja sagen. Die Peinlichkeit des gegenseitigen Geständnisses; der Erkenntnis, dass niemand etwas bedauerte, einmal Scheidung bitte, wie auf einer Beerdigung ohne Gäste. Aber dazu ist es ja nie gekommen, da war ja Annette vor, die Natter. Er zahlt, zieht einen Kaffee am Automaten, einen zweiten, den er mit ins Auto nimmt. Viertel nach fünf. Selbst mit Höchstgeschwindigkeit käme er nicht mehr nach Hause, ehe Meike zur Arbeit geht. In Schweichheim fährt er ab. Nie gehört. Langsam wird es hell. Er müsste müde sein, verdammt müde, von den letzten Monaten müde, denn nichts strengt so an wie das. Normal tun. Die sogenannte Normalität aufrecht erhalten wie eine schlecht gebaute Kulisse, brüchig und schief. Keine Sekunde darfst du nachlassen, sonst. Selbst im Schlaf. Nicht im Traum reden, nicht zucken, nicht Meike angrabbeln, während du an Annette denkst, und du denkst immer an Annette, Kerner nicht an die Kehle springen, wenn er zerzaust und mit gerötetem Gesicht von seiner Mittagspause kommt. Die Landschaft ist hügelig, die Straße leer, aber viel mehr als hundert geht nicht, bei den Kurven. Zwanzig vor, gleich klingelt bei Meike der Wecker. Und Annette? Was täte er, wenn. Wenn Annette sagen würde, tut mir leid, war alles dumm, war schlimm, so etwas wegzuwerfen wie zwischen uns. Heulen. Sich in den Arm nehmen lassen, erklären, warum und wie. Das mit Kerner war nur. Er hatte ihr gedroht. Genau. Er hatte ihr gedroht, sie würde ihren Job verlieren, wenn sie nicht. Und er weiß doch, mit der Kleinen. Sie kann es sich nicht leisten, rauszufliegen. Tränen. Dabei hätte sie immer nur an ihn gedacht, jedes Mal, sie hätte Kerner über sich ergehen lassen, die Augen zugekniffen und sich vorgestellt, es wäre er. Würde er? Er hat sich auch schon vorgestellt, sie wäre von fremden Geheimdiensten erpresst worden (aber welcher sollte Interesse an Annette haben?), von einem Medikament geistig verwirrt. Oder Gehirntumor. Das fällt ihm erst jetzt ein, während er um die Kurve rast. Mehr als hundert geht also doch. Gehirntumor. Warum ist er da nicht früher drauf, das kann zu richtigen Kurzschlüssen führen. Hat er mal irgendwo gelesen. Und was soll das anderes gewesen sein als ein Kurzschluss, wie Annette ihn vor der Tiefgarage abfängt, mit dieser Beerdigungsmiene und fragt: hast du schon mit ihr gesprochen? Er: nein, heute Abend, war doch so ausgemacht. Und sie: tu’s nicht. Bitte tu’s nicht. Ich kann nicht. Und so weiter. Wenn du’s tust, verlass ich dich. Und wenn nicht? Dann auch. Es ist aus. Dreht sich um und geht davon, als hätte ihr jemand so ne melodramatische Rolle in nem Film. Und anstatt, dass er sich auf sie stürzt, sie schlägt, sie wenigstens zwingt, ihn anzusehen, während sie ihn erledigt, sich ihr weinend zu Füßen wirft, trotz der Demütigung, irgendetwas tut. Aber nichts. Er steht da wie eine dieser Figuren aus Wachs, täuschend echt, aber unbelebt, sieht sie weggehen, Schritt für Schritt für Schritt. Und von da an: nichts mehr. Keine Erklärung. Keine Antwort auf nichts. Telefon tot. Er am Wahnsinn. Aber so ne Art erstickter Wahnsinn, nicht mal Streiten tut er, alles bleibt drinnen, drückt von Innen die Luftröhre zu. Röchelt. Ein röchelndes Etwas. Er müsste schreien, denkt er, stunden- oder tagelang schreien. Aber er schweigt. Schläft nicht mehr. Sie sehen nicht gut aus, Herr Brandtstetter, sagt Frau Limpert, Sie brauchen Urlaub. Er lächelt. Alles in bester Ordnung, sagt er. Und Urlaub könnten wir wohl alle gebrauchen. Was ist eigentlich mit dir los, sagt Meike, sagt Kerner, sagt Sina. Sogar Dieter fragt, was los ist. Du bist ja noch schlechter gelaunt als sonst. Und er: ich habe nicht gut geschlafen. Ich habe Kopfschmerzen. Bauchschmerzen. Schon wieder eine Reparatur am Haus, das nimmt ja kein Ende. Und der Stress im Büro. Der Regen, hast du diesen verfickten Regen gesehen. Seit wann benutzt du denn solche Ausdrücke, fragt Meike, und das wegen ein bisschen Regen. Annette geht er aus dem Weg. Er verkriecht sich, denkt: mit der Zeit muss es ja besser. Muss ja. Könntest du dir vorstellen, noch mal ins Ausland zu gehen?, sagt er eines morgens zu Meike. Plötzlich am Frühstückstisch kommt dieser Satz aus ihm raus. Sie, entgeistert: Wieso das denn? Als sei er irre. Als sei die Frage komplett unsinnig. Er zuckt die Schultern. Nur so. Weil da Annette viele Kilometer weit weg wäre, mindestens Hunderte, oder Tausende oder Zehntausende. Er könnte sich auf den Posten in Sidney bewerben, oder zumindest Singapur. Selbst Friesbach haben sie genommen, diese Flasche, warum dann ihn nicht. Neue Landschaft, fremde Sprache, neue Kollegen, niemand, der Annette kennt, niemand, der Kerner kennt. Meike redet über das Problem mit der Feuchtigkeit im Keller; ob er mal einen Handwerker, er wollte doch. Schüttelt den Kopf. Und das Auto klingt so komisch, hat er schon? Schüttelt noch mal den Kopf. Und am Samstag bei Demskis zum Raclette-Essen. Nickt. Die Sonne geht hinter einer Viehweide auf, schmutziges Orange in Dunstschleiern, alles fliegt vorbei, wird in seinen Kopf gesogen und dort in einen Strudel von bunten Flecken verwandelt, nichts mehr ist richtig zu erkennen außer der Straße, die wie ein schwarzes Band. Breit und glänzend. Und dann steigen sie aus diesem bunten Strudel, zwei klar gezeichnete Gestalten, neben dem Auto in der Tiefgarage, kaltes Licht auf Beton, das hohe Gurren von Annette, weiblicher Lockruf, ihre grazile Silhouette, die kleinere, gedrungenere von Kerner, steigen Sie doch, bitte, danke, das Zuschlagen der schweren Türen wie der Einschlag eines Projektils, und er. Sich krümmend in der Hocke, allein. Da klingelt das Handy. Nun hat Meike bemerkt, dass er. Telefoniert ihm hinterher. Sie kann ihn mal, alle können ihn mal, auch dieser Landrover vor ihm, der glaubt. Er beschleunigt, überholt, das Telefon klingelt zum xten Mal, er wird die Einstellungen ändern. Ok, Wettrennen, wenn du willst, Junge. Die Nadel klettert, braves Pferdchen, er hält sich genau auf der gleichen Höhe. Das Telefon verstummt und fängt dann wieder an. Herrgott. Nun fängt das Sirren wieder an, wie kurz vorm Abheben, der Mann in dem Rover sieht im Profil aus wie Kerner, hohe Stirn, kurze Nase. In der Kurve wird er ihn kriegen. Es klingelt weiter. Nun greift er doch danach, Annette steht da, wieso denn Annette, wieso denn um Himmels Willen Annette? Hallo?, ruft er, hallo? Da sind zwei Scheinwerfer vor ihm wie riesige, hungrige Augen, direkt vor seiner Scheibe, keine zehn Meter mehr, sie gehören zu einem Gefährt, so groß wie ein Tier aus der Vorzeit.
Fünfzehnter Platz: „Code“, Ursula Brochard Um Weihnachten beginnt es meistens heikel zu werden. Vielleicht ist das nur bei mir so, aber um den zwanzigsten Dezember, es schneite bereits, haben Thomas und ich Streit gehabt. Streit kann man es eigentlich nicht nennen, eher ist es um den Standpunkt gegangen, den jeder von uns beiden zu dieser Feierlichkeit einnimmt, und wie üblich war ich diejenige, die damit angefangen hat, Mist zu bauen. Genau in dem Moment, als er mich voller Vorfreude angesehen hat, hätte ich längst wissen müssen, dass alles, was ich zu ihm sagen würde, diese Vorfreude in eine gnadenlose Dummheit verwandeln wird- meine Dummheit zermürbt ihn nämlich immer wieder aufs neue- und als ich sie ihm dann entgegen schleuderte, regte sich sein schönes Gesicht wie ein Ameisenhaufen, in dem ein Unhold mit einem Zweig herumgestochert hat. Natürlich- obwohl er, wie immer, kein Wort darüber verloren hat- konnte ich erkennen wie er, wie kacke ist das denn schon wieder gedacht hat, obwohl Thomas das Wort Kacke nie gebrauchen würde. Nie geschieht etwas so, wie es sollte. Ich glaube, das ist mein Problem mit Weihnachten, Geburtstagen oder Silvester – gut, so geht es immer los- aber ich erinnere mich seit sieben Jahren eben nur an Feste, nach denen es mir immer beschissen gegangen ist. Was ich vielleicht vermissen würde, gesetzt den Fall, Thomas und ich würden uns doch noch entschließen, miteinander zu feiern. Ohne, dass sich einer von uns vollgetankt hätte oder lustig weggetreten wäre? Guten Sex hätten wir ganz sicher, und danach würden wir bloß still herumliegen, wogegen nichts zu sagen ist, ich mag das, aber für Weihnachten ist mir das eine Spur zu, zu, zu… na ja ich weiß auch nicht. Ich wäre zu Freunden eingeladen, wie jedes Jahr, sagte ich, und wenn er gerne mitkommen wolle, wäre es mir eine Freude, wenn nicht, nicht. Thomas hat, bis auf eine einzige Ausnahme, keine Freunde. Meine gehen ihm allesamt auf den Nerv, aber na ja, manches, was dem einen Freude macht, erfüllt den anderen mit Ekel. Scheiß-Wechselwirkung. Einmal, in einer Winternacht, als wir nach einer Party, ziemlich angetrunken durch dichte Flocken, die uns in den Wimpern hängen geblieben sind, gestapft sind, hat er gesagt, dass ihm die Freunde von mir vorkämen, als würden sie zu einer Generation gehören, die stolz auf ihre Seichtheit wäre, und das einzige, was sie untereinander freudig teilen würden, die Kultur der Dämlichkeit wäre. Eigentlich wollte ich die Generation, der ja auch ich angehöre, verteidigen, aber ich bin mir plötzlich blöd vorgekommen. Auch deswegen, weil sich die Menschen, mit denen ich befreundet bin, in Thomas Gegenwart ständig so benehmen, als würden sie sich auf einem Langstreckenflug befinden, gelangweilt auf einen Bildschirm starren, der ihnen mit nie enden wollenden Fluginformationen verrät, wie weit man schon gekommen ist und wie viele endlos langsame Kilometer noch vor einem liegen. Dass dieser Freundeskreis, mit wenigen Ausnahmen, aus lockeren Jungs ohne Freundinnen besteht, die durch Drogen einfach besser mit ihren Problemen zurechtkommen, ist mir, bevor ich Thomas kennen gelernt habe, nicht unanständig vorgekommen. Aber er findet das total abartig. Dass jemand ihn abartig finden könnte, auf die Idee käme er gar nicht. Unser Altersunterschied, beteuert er immer wieder, wäre doch bloß eine Zahl. Auf die wir vergessen, wenn wir nur zu zweit sind, was ich ohnehin gern bin, weil mir dann seine gesamte Aufmerksamkeit zuteil wird oder Thomas zumindest überzeugend so tut als ob. Alles, was ich tue oder denke, interessiert ihn, und umgekehrt hätte das natürlich auch so sein sollen. Aber, abgesehen davon, dass an mich gestellte Erwartungen mich dazu veranlassen, das Gegenteil zu tun, passieren unter Druck auch Fehler. Und Thomas glücklich zu machen, war und ist wirklich kein einfaches Projekt. So happy er und ich manchmal miteinander sind, so egal kann er mir am nächsten Morgen sein. Als wäre es eine körperliche Realität, die irgendwo in mir lauert, wenn es zu Unstimmigkeiten kommt und nur folgendes zu sagen hat: Leck mich. Alles Weitere später. Thomas typische Reaktion darauf ist, für ein paar Wochen von der Bildfläche zu verschwinden, völlig abzutauchen, bis meine Ohren- abgesehen von ein paar Abenden, in denen die Welt kein bisschen mit sich im Einklang ist, was nur allzu leicht passieren kann -vor dem Getöse der Stille um mich herum, langsam das Bewusstsein verlieren. Und dann fehlt er mir, bis es wieder losgeht. Ein Frequenzseismograph für Beziehungen, der voraussagen könnte, wie lange man zu zweit glücklich sein kann, und wann es anfängt, gleichgültig zu werden, wäre neben dem Internet echt kein schlechter Fortschritt. Besonders für Menschen wie mich, die ich weit davon entfernt sind, in irgendetwas fortgeschritten zu sein. Nichts bindet Thomas und mich aneinander, kein gemeinsames Heim, kein Konto, keine Kinder. Jeder kann machen, was er will, und es ist einfach, das garantiere ich, in Situationen, die brenzlig werden, am Absatz kehrt zu machen, im guten Gefühl, Unangenehmen entgangen zu sein. Anstatt ein Geheimnis nach dem anderen zu teilen, eine Haut nach der anderen abzustreifen, eine Maske nach der anderen fallen zu lassen und immer noch angebetet zu werden… Den Weihnachtsabend verbrachten wir dann, wie vorausgesehen, jeder auf seine Weise und am nächsten Tag sahen wir uns wieder. Als Thomas mit seiner üblichen Verspätung bei mir eintrifft, ist um seinen Mund herum der trotzige Zug, den ich nicht mag. Einen Tick zu lange stehen wir unschlüssig im Vorraum herum, und es ist, als hätten wir in der Türöffnung ein Rendezvous. Ich spähe in das Halbdunkel hinter ihm, fahre mir mit der Hand hastig durchs Haar und frage, vielleicht ein bisschen zu laut, wie lange wir hier noch stehen wollen. Was? Oh. Aber ja, sagt er, und hebt einen Korb auf den Küchentisch, vollgefüllt mit Fressalien. Dein Weihnachtsgeschenk. Nichts darin ist verpackt, und je hoffnungsvoller ich mich durch den verdammten Korb wühle, umso verzweifelter werde ich: Spaghetti, Marmelade, zwei Antipasti, Artischocken und Shrimps, die mir den Tag versauen. Freude heuchelnd, zerre ich Thomas ins Wohnzimmer, wo die am Vorabend verpackten Geschenke immer noch strahlend auf der Couch Vergib mir hauchen. Er lässt sich Zeit. Ich erzähle vom gestrigen Abend, soweit ich mich noch daran erinnern kann. Der Mensch braucht nun mal Pillen für die Welt und Wein für die Pillen, und Thomas hasst, bis auf wenige Ausnahmen, beides, also verschweige ich ein paar Details, an die ich mich jetzt doch erinnere, und er erzählt mir, dass der Besuch in dem Heim, wo sein geistig behinderter Sohn lebt, recht eigenartig verlaufen sei, weil dort auch seine Exfrau überraschend aufgetaucht ist und ein bisschen geweint hat. Alex, so sagt Thomas, hätte in den letzten Monaten schwer abgebaut, nicht mehr imstande, selbstständig zu essen oder auf die Toilette zu gehen. Ich kenne die beiden nur aus Erzählungen, aber plötzlich fühle ich mich so kraftlos, dass ich nicht einmal den Rand von etwas festhalten kann, so sehr schäme ich mich jetzt für die gestrige rasende Nacht, die immer weiter geflogen ist, auf irgendeinen imaginären Fluchtpunkt zu, und ich mitten hindurch schnell und wild. Bis irgendwann ein schwarzer Morgen, schnipp und aus, dem ganzen ein Ende bereitet hat. Und wenn ich nicht noch von gestern high gewesen wäre, hätte ich Thomas gefragt, ob man irgendwie ein anderer Mensch werden kann, der sich um etwas kümmern würde, und wie das dann wäre, wenn man im Dienst am Nächsten so richtig aufgehen würde, aber mein Leben ist total durcheinander, obwohl ich es gar nicht so richtig wahrnehme und nur ganz selten darüber nachdenke. Thomas, das weiß ich, ist da anderer Meinung. Er meint, ich sei zwar wohlstandsversaut, aber nachdenklich. Und das gibt mir Berge, wenn jemand von mir annimmt, es gäbe in mir noch etwas, was man retten könnte. Meine Eltern haben das auch geglaubt, doch nicht lange genug, weil ihnen dazu die Zeit gefehlt hat, damals, als sie in ein Flugzeug gestiegen sind, das hoch in einen fernen, blassen Himmel geflogen ist, und sie nicht ahnen konnten, dass unter ihnen ein Leben zurückbleibt, das nie wieder ein Flugzeug besteigen wird. Aber das ist ein anderes Kapitel, über das ich eigentlich nicht reden mag. Ich war garantiert schon als Kind scheiße, deswegen bitte ich auch heute noch unnötig oft um Entschuldigung, für den ehemaligen Haufen im Sandkasten, der dann allzu rasch ich geworden ist, dem Zwerg entwachsen, in dem kein Teilchen recht gewusst hat, was es da, wo es ist, eigentlich sollte. Aus diesem Grund bin es dann meistens ich, die Beziehungen nach einem Streit wieder aufnimmt, ob ich nun die Schuldige gewesen bin oder nicht. Findest du, dass ich eine gute Erwachsene abgebe, frage ich Thomas. Aber Thomas prustet bloß in seine Kaffeetasse, und sagt, dass ich die albernste Person bin, die er kennt. Stimmt, sage ich und sehe vor meinem inneren Auge, wie ein Flugzeug über die Startbahn rollt. Genau in diesem Moment blicke ich hinter die Zeit. Unweit von meinem Herz pocht- ich nenne es das Kalte- ein eisiger Kern, der über die Jahre nie geschmolzen ist. Eine Art Schwindelgefühl erfasst mich, ganz anders als gestern, und mir ist, als könnte ich den Geruch langsam verwesenden Fleisches riechen. Mann! Diese elenden twilightmäßigen Sinnestäuschungen. Noch ist in dieser Wohnung niemand gestorben. Thomas. Hier und jetzt. Ich stürze meinen Kaffee zu schnell hinunter, und verbrenne mir den Mund. Dann denke ich an das kommende Jahr und an das alte, und dass ich schon zu lange immer dasselbe denke. Als Thomas seine Geschenke endlich auspackt, überrascht mich sein kindliches Erstaunen. Während er die Dinge ungläubig hin und her dreht, immer wieder beteuernd, dass das viel zu viel für ihn sei, wirft sich mein Herz, ich kann es richtig krachen hören, in die Strömung warmer Gefühle, die mich, von Wonnen umgeben, schlagartig erfasst, ganz im Gegensatz zu gestern, wo ich von Tabletten und Was-weiß-ich-noch-allem zugedröhnt, versucht habe, aus einer schlampig angerichteten Platte mit Oliven und Ziegenkäse schlau zu werden. Und weil plötzlich keiner von uns mehr etwas zu sagen weiß, und die für Verblödung zuständigen Hormone ihren Einfluss auch auf Thomas noch nicht ganz verloren haben, gehen wir, da ja jetzt unser kleine Unstimmigkeit echt gegessen ist, miteinander ins Bett. Sein Geruch nach Walnüssen und frischen Pilzen. Bei Thomas brauche ich, auch während wir vögeln, keine Phantasien über das Vögeln, weil dieser Sex endlich etwas ist, was man tun muss, und nicht etwas, was man tun soll. Später trinken wir den Rotwein, den mir gestern einer von den Jungs geschenkt hat, und ich denke doch glatt, man könnte viel einfacher leben, wenn es immer so wäre. Drei Wochen nach Weihnachten, die Tage wurden wieder länger, obwohl es sich trotzdem so anfühlte, als säße man in einem Provinznest in Sibirien fest, wo sich alle Nase lang jemand erhängt, stellt Thomas, wie gewohnt, zuerst seinen Rucksack im Vorzimmer ab, in dem er dann gerne eine Weile herumzukramen pflegt. Vielleicht nur, um sich kurz zu akklimatisieren. Zwei aufwendig verpackte Gegenstände, die säuberlich aufeinander aufgestapelt neben dem Rucksack am Boden stehen, fesseln meine Aufmerksamkeit. Was ist denn das? Frage ich. Was? Na die beiden silbernen Schachteln. Sorry, Schiffchen, aber das gehört dir nicht. Wem gehören sie denn, frage ich neugierig. Du weißt, doch, ich habe Romana ihre Geschenke noch nicht gegeben, und da dachte ich, ich nehme sie gleich mit, wenn ich sie am Montag sehe. Romana. Beim Arsch. Die Frau, die ich Napffrau getauft habe, weil sie, wie mir Thomas erzählt hat, ständig in Afrika unterwegs ist, wo sie für ihr Studium eine Sprache erforscht, die im Aussterben begriffen ist. Drei Näpfe aus Blech, so male ich mir aus, neben ein paar Wanderschuhen und einem Rucksack im Sand. Eine napfende Romana an einem Lagerfeuer, irgendwo in Afrika, wo sie sich mit stoischer Ruhe strammen Stammeshäuptlingen hingibt, was die Feldforschung für ihr Studium sicherlich zusätzlich bereichert. Autsch. Romana, Thomas einziger Freund. Beinah alles ist mir äußerst unsympathisch: Aussterben, Wanderschuhe, Studium, Campen, Napfen, die völlig unbekannte Romana und Lagerfeuer. Thomas hat auch so einen Napf bei sich zuhause, und ich habe mitansehen müssen, wie er daraus Kaffee mit Milch getrunken hat, wenn ich, was oft vorkommt, bei ihm übernachte. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist, aber plötzlich erscheinen mir die beiden Silberlinge in all ihrer billigen Harmlosigkeit unermesslich schön. Das ist aber besonders nett, sage ich, dass du dir solche Mühe mit der Verpackung gegeben hast. Schiffchen, es ist billiges Zeug, das ganze kostet nicht mehr als drei Euro. Ach so, sage ich. Wir stehen wieder einmal in der Diele herum und starren einander an. Zwischen uns besteht ein Größenunterschied von zwanzig Zentimeter, ein in Jahren gleichbedeutender Altersunterschied- und tiefste Abneigung. Ich muss mir schnell noch Zigaretten holen, sage ich. Um dann für immer zu verschwinden. Auf der Bewusstseinsstufe einer Sechsjährigen stürze ich wie eine Hollywood- Irre aus dem Haus und ein Taxifahrer, der rauchend vor seinem Wagen steht, sieht eine heulende Frau in Pyjamahosen mit verstrubbelten kurzem Haar, wie sie umständlich eine Zigarettenpackung aus dem Automaten zieht, und dabei einmal sogar mit zittriger Stimme, Scheißverdammtnochmal, ruft. Als die Wohnungstüre wieder hinter mir ins Schloss fällt, ist es totenstill. Thomas sitzt im Wohnzimmer auf der Couch, und ich heule mir die Seele aus dem Leib. Warum Weiber eigentlich immer heulen müssten, und dass ihm das unglaublich auf die Nerven ginge, sagt er streng. Aber anstatt ihm zu antworten, dass Frauen einfach gern heulen, reiße ich mich zusammen, und höre damit auf. Und dann brüllt er los. Dass er alles für mich machen würde, er sich Tag ein Tag aus bemühe, mir alles zu sein und ich nie zufrieden mit etwas sei. Mir immer alles zu wenig sei, ein verzogener Fratz sei ich, dessen Eltern zu früh gestorben sind, welche mich viel zu sehr verwöhnt hätten. Und nachdem er das gesagt hatte, stürzt er aus dem Zimmer, kommt aber sofort wieder, wirft die beiden Päckchen auf den Boden und trampelt solange darauf herum, bis sie total platt sind. So, ruft er, bist du jetzt zufrieden? Sag es mir, bist du jetzt zufrieden? Und dann kracht die Türe ins Schloss. Die Slippers mit den Totenköpfen vorne drauf, der rote Schreibblock, und die Sudelbücher von Lichtenberg I + II. Und die platten Päckchen. Wenn der Tod, wie er zu meinen Eltern in dieses Flugzeug gekrochen ist, irgendwann zu mir käme, werde ich mich dann noch an diese Geschichte hier erinnern? Augenblicklich fühle ich mich steinalt, auch weil es lange sehr still in der Wohnung ist. Bis ich ein Blatt der Zimmerlinde auf den Boden fallen höre, und, obwohl ich weiß, dass es das Geräusch eines fallenden Blattes ist, laufe ich zum Fenster, in der Hoffnung, jemand hätte ein Steinchen geschmissen. Der alte Code. Natürlich steht niemand auf der Strasse. Kein Auto, und nichts. Es wird bloß langsam dunkel, und ich kann dem Licht zusehen, wie es zum Fenster zurückfließt, da wo es hergekommen ist. Es gibt kaum Menschen, die den Winter mögen, und jetzt, Mitte Jänner, fällt mir auf, dass ich wie alle bin, ich mag ihn auch nicht.
Sechzehnter Platz: „Muzzle“, Charlotte Gäbler-Goes I. Ich schieße hoch, weil es hell ist. Schweißverklebt. Es ist Morgen, denke ich. Ich muss aufstehen. Ich hab den Appell verpasst und sie werden mich umbringen. Aber Ray hat nur vergessen, seinen Computer auszuschalten. Er liegt mit dem Kopf auf dem Tisch, in der Dämmerung des Bildschirms, und schnarcht. Es ist erst 3. Du kannst atmen. Sie wollen, dass du immer bereit bist, falls was passiert. Sogar wir Nerds. Wach um vier auf. PT Formation. Persönliche Hygiene. Essen. Um den Block laufen. Ray ist die Art von Typ, die maßgeschneidert ist um Panzer zu fahren. Er ist ein Zwerg, aber einer mit großen, fleischigen Armen, die aussehen als wären sie aus Tonklumpen gemacht. Er macht hundert Klimmzüge vor dem Frühstück. “Du musst nicht so viel Gewicht ziehen wenn du so klein bist”, sagt Ray. Alle nennen ihn “den Golem”. Und wenn er so auf dem Tisch liegt sieht er tot aus. Alt. Ich weiß nicht mal, wie alt er ist. Ray ist viel zu schlau um Panzer zu fahren. Wir Kellerkinder sind der Zweig des Militärs, der für Kryptographie und Computersicherheit zuständig ist. Ray ist ein Zwerg. Ich habe ADHS. Willkommen im Kuriositätenzirkus. Es wird ein neuer, langer Tag. Arbeit. Abendessen. Licht aus. Zieh einen Hebel, drück einen Knopf. Mach Männchen. Gib Pfote. Selbst wenn ich aufhören würde, ich glaub nicht, dass ich die Kommandos wieder aus meinem Blut bekomme. Sag, Ja, Sir. Nein, Sir. Salutiere. Du bist aufgereiht, auf dem ausgeblichenen Feldcamp, deine Zunge trocken und hängend. Das Gras ist ein pissfarbenes Gelb. Sergeant geht an dir vorbei und du hoffst, dass er dir nicht in die Eier tritt. Rotkopf! Steh gerade! Er klingt wie Mrs Harley, die bucklige Schabracke, die zu viele Kinder wie mich gesehen hat. Hühnerbein, Skelett, Vielfraß. Aber ich hab angesetzt. Egal was irgendwer sagt, der Fraß beim Militär ist ein Segen. Ich hab Dosen voll Bohnen, Schinken und Kartoffelbrei runtergekippt. Zuerst ist mein Bauch rausgeklappt als hätte ich eine Abrissbirne gefressen. Aber nachdem man sich durch Matsch und Gestrüpp schleift, über Mauern und in Seen gestoßen wird, bleibt niemand lange fett. Du stehst in Reihe und wartest auf deine Kelle Bohnen. Du stehst in Reihe um gezählt zu werden. Du stehst in Reihe um zu Sterben. Die meiste Zeit ist Warten. Wenn nicht aufs Essen, dann auf Krieg. Ray schnarcht laut. Ich denke nicht, dass ich noch eine Stunde schlafen kann. Ich bin es gewohnt, zu warten. Manchmal wartest du auf Dinge, die nie passieren. Du sitzt den ganzen Tag rum, wartest auf diese eine Chance die deinem Leben vielleicht irgendwie Bedeutung gibt. Und bevor du es merkst liegst du unter der Erde und alles was du hinterlassen hast ist der Abdruck deines Arsches auf einem Stuhl. Der Alarm klingelt um 3:30. Es ist nicht der Weckruf. Es ist ein schrilles whiiiiiiiii-oh-whiiiiii-oh in meinen Ohren. Ray wacht erst auf, nachdem ich ihn schüttle. Das ist keine Übung. Ich wiederhole, das ist keine Übung. Wir schwärmen aus den Kasernen, nach draußen, Männer mit Schlaf in den Augen und Gewehren auf dem Rücken. Ray’s Heckler & Koch ist fast so groß wie er, so dass er aussieht als wäre er an einen Marterpfahl gebunden, statt ein Gewehr auf seinen Rücken. Mein Gewehr ist ein Fremdkörper, der mir zwischen die Schulterblätter drückt. Präriehunde zu den Kampfflugzeugen, Kellerkinder in den Keller. Startet die Systeme. Du nicht, Rotkopf. Nein, ich nicht, denn ich gehöre zu Krypto Team A. Ray und ich steigen in den Helikopter, der für uns reserviert ist. Er hebt ab und lässt das Camp hinter uns. Ich weiß nicht, wohin wir fliegen, aber auch das ist nichts Neues. Das Erste, was sie dir in der Army beibringen ist keine Fragen zu stellen. Kann ich vermeiden, solang ich meine Medikamente nehme. Wind schlägt durch die offenen Fenster des Helikopters. Tryker, dieses gigantische Weißbrot, sitzt hinter der Gatling und starrt raus in die Dunkelheit, mit Nachtsichtgerät auf dem Kopf. Wenn irgendjemand hier ist, wird er ihn nicht verfehlen, aber offener Kampf ist für uns ungefähr so unwahrscheinlich wie Weltfrieden. Meistens blockieren wir die gegnerischen Kommunikationssysteme. Internet, Telefon, Radio Netzwerke. Manchmal platzieren wir Malware die uns ermöglicht die Industrie des Ziellandes zu sabotieren. Das erste große Virus hieß Stuxnet. Was wir jetzt haben ist viel effektiver, denn hundert Jahre Krieg sind hundert Jahre Zeit für Forschung. Niemand nennt es Krieg. Offiziell ist es der Kampf gegen den Terrorismus. Es funktioniert so: Als Erstes setzt die Regierung eine Kampagne an, um die Menschen über die bestehenden Gefahren des Terrorismus zu informieren. Als Zweites führen wir eine Anzahl von Luftangriffen auf Strukturen unseres Ziellandes aus. Wenn es da noch keinen Terrorismus gab, dann spätestens jetzt. Betreten wir einen Teufelskreis der Provokation und Reaktion. Das Zweite, was sie dir in der Army beibringen ist, keine Meinung zu haben. Sergeant beäugt uns, dann öffnet er eine Box und drückt jedem ein MRE in die Hand. Das Equivalent zu Fast Food. Es wird nicht schnell gemacht, sondern schnell gegessen. “Esst.” Für echtes Frühstück ist heute keine Zeit. Es gibt keinen Mangel in der Army, aber ich bin immer hungrig. Ich hab gelernt, um Essen zu kämpfen. Kau und schluck. Früher habe ich zugesehen, wie ein Junge im Waisenhaus verhungerte. Wir haben es alle gesehen, wie die Haut sich straff über seine Knochen spannte. Und alles was ich dachte war: Besser er als ich. Der Helikopter senkt sich leise wie ein Vogel. Ein paar dünne Staubwolken steigen in die Luft und Sand sticht meine Augen. Wir laufen über offenes Gelände. Boden, Staub, dann das Zelt des Commanders. Briefing. Sobald die Öffentlichkeit sich der Gefahr bewusst ist, die unser Zielland darstellt, können wir einmarschieren. In den meisten Fällen stürzen wir eine tyrannische Diktatur und führen Demokratie ins Zielland ein. Im Moment ist unser Zielland politisch entzweit. Auf der einen Seite kämpft die Regierung, um die Diktatur aufrecht zu erhalten. Auf der Anderen kämpfen die Rebellen für die Freiheit, oder was auch immer sie darunter verstehen. Es ist jedes Mal das Gleiche. Auf dem Bildschirm ist eine Karte des Terrains. Commander geht mit uns den Plan durch. Das hier ist Manöver Net-Attacks. Kellerkinder hinter die Bildschirme. Verkabelt euch. Ladet die Missionsdaten. Virusattacke startet in 5, 4, 3… Ich bin hinterm Keyboard, Finger auf den Tasten. Das Dritte, was sie dir in der Army beibringen ist eine Liste der Dinge, die die Army für unser Zielland erreicht. Wenn jemand fragt: das ist, was du ihnen erzählst. Infrastruktur. Brunnen graben. Zivilisten beschützen. Zu Deutsch: Erzähl niemals irgendjemandem von der Scheiße, die du da abziehst. Sie würden dir niemals sagen, wie viele Zivilisten wir jedes Jahr umbringen. Ich hab keine Ahnung. Das Erste, was sie dir in der Army beibringen ist keine Fragen zu stellen. Virusattacke startet in 2, 1… Krieg ist ein Geschäft. Ich fange an, meine Finger ins Keyboard zu hacken. Ich bin schneller als irgendein anderer. Tipp stundenlang, und du wirst deine Fingerkuppen nicht mehr spüren. Auf meinen ist eine dicke Schicht Hornhaut. Zuerst hab ich Blasen bekommen. Dann riss die Haut ab. Im Einstufungstest hab ich mit einem Ergebnis von 100% bestanden. Ich denke, man könnte sagen ich habe Talent. Oder vielleicht ist es das ADHS. Wenn ich hacke vergesse ich manchmal zu blinzeln. Erst nachher merke ich, wie trocken meine Augen sind. Im Zelt ist Nichts zu hören außer den Fingern, die auf die Tasten regnen, und die Stille unseres zurückgehaltenen Atems. Wir sind drin. An der Front schießen die Präriehunde irgendwen voll mit Löchern, reißen sie zu Fetzen. Wir sehen nichts davon. Manchmal ist mein Job nur das Drücken eines Knopfes. Drück diesen kleinen roten Knopf und eine Bombe geht hoch. Du hast 1372 Leute eliminiert. Und die Waffenindustrie hat ein Vermögen gemacht. Das was sie dir in der Army nie beibringen ist, für wen wir eigentlich arbeiten. II. Ich hab die Schule ohne einen Penny in der Tasche abgeschlossen. Bis dahin schleifen sie dich mit. Dann hält der Zug an, die Türen öffnen. Du hast kein Ticket, du wirst rausgeworfen. Nächster Halt: Jobsuche. Ich hatte Glück, dass ich meine Krankenversicherung bezahlen konnte. Eine Wohnung? Wem hätte ich was vorgemacht. Seit die Geburtenrate auf 0.7 gesunken ist werden die meisten Waisen adoptiert. Ich nicht. Ich habe darauf gewartet, dass sie auftauchen, jedes Jahr. Ein normales Mittelschichtpärchen. Ein Zahnarzt und eine Krankenschwester mit einer Sardinenboxwohnung. Zur Hölle damit, von mir aus hätten sie auch Müllsammler sein können. Die meiste Zeit hab ich gewartet. Und nach meinem achtzehnten Geburtstag fand ich mich damit ab, dass es nicht passieren würde. Ich stand mit meiner Tasche über die Schulter geschlungen und dem Abschlusszeugnis in der Hand, mit dem Rücken zum grauen Block Beton, der meine Schule gewesen war. Niemand hatte Fotos von mir gemacht. Da war kein Auto um mich abzuholen. Einen Monat hatte ich, um aus meinem Zimmer auszuziehen. Seltsam. Ich hätte gern auf Nimmerwiedersehen gesagt. Aber Mrs Harley war der einzig feste Punkt in meinem Leben. Diese Hexe, die wie Hundert aussah und nicht sterben wollte. Ich hätte mich auch nichtsdankend von den Lehrern verabschiedet, die mich zwölf Jahre lang verachtet hatten. Es gibt Rechtschreibkorrekturprogramme, zum Teufel noch mal. Die dachten, ich sei dumm, weil ich keine Sätze bilden konnte und aus dem Fenster glotzte, wenn sie redeten. Der Army ist es egal, selbst wenn ich Mist mit zwei “s” schreiben würde. Sie geben mir meine Medikamente und ich funktioniere. Scheiße, ich funktioniere so gut, ich könnte in einem Jahr im Triagon sitzen. Aber dann kommt dieser Tag. Sie sagen: Muzzle, Ray, Tryker. Sie sagen: Ihr müsst da rein. And die Front. Commander klopft dir auf die Schulter und sagt ihr bekommt Geleitschutz. Es ist Nacht als wir aufbrechen. Nacht ist kalt. Tage sind unerträglich heiß, und die Dog-Tags um deinen Hals kleben an deiner schwitzigen Brust. Jetzt ist dein Schweiß kalt und du zitterst. Irgendwo in einer Wellblechhütte steht ein lokaler Computer. Ein alter IBM. Niemand weiß was drauf ist. Nicht ich, nicht Tryker, nicht Ray. Wir befolgen nur Befehle. Präriehunde sichern das Terrain. Schalldämpfer auf den Waffen. “Ruhig, Muzzle,” sagt Ray. Ich sage: “Du hast gut reden, du gibst als Zielscheibe ja nicht viel her.” Wir bleiben eng zusammen, wie ein Rudel Tiere. Nähern uns der Hütte in völliger Dunkelheit. Aber wenn ich stolpere ist Ray da, und zieht mich hoch. Das einzige Licht in der Hütte kommt vom Bildschirm. Tryker stöpselt uns ein. Ich schwinge meinen Hintern vor den Computer und bereite mich vor, mich durch die Sicherheitsvorkehrungen zu schlängeln, um unser Virus zu platzieren. Werfe einen nervösen Blick über die Schulter, gehe sicher, dass Ray und Tryker da sind, und noch am Leben. Ich übertrage die Daten auf die Festplatte als wir von Draußen Geschrei hören. Eine Sekunde später ziehen die Präriehunde einen von uns ins Zelt. Er blutet. Jemand hat ihn angeschossen. Genau in den Hals. Einer der Hunde presst seine Hand darauf um die Blutung zu stoppen und innerhalb von Sekunden ist auch seine Hand rot. Ray schaltet den Bildschirm aus. Für einen kurzen Moment sehe ich nichts, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. “Was ist passiert?” schreit Tryker. Jeder hat seine Gewehre gegriffen. “Kontakt”, schreit einer der Hunde. Schüsse bohren sich in die Wellblechtür. Die Tür verschwindet schneller als ein nasses Pflaster. Wir pressen uns auf den Boden. Stell dir das vor. Du liegst auf dem Boden in irgendeiner Hütte und wartest darauf, dass sich ein Streuschuss in deinen Kopf schraubt. Ich schiele zur Seite und sehe, dass der Hund auf dem Boden langsam verblutet. Seine Augen sind weit und er ringt nach Luft. Sein Mund öffnet und schließt sich. Ich glaube er will etwas sagen, aber außer dem Lärm der Schüsse höre ich nichts. Die Anderen schießen zurück, durch die schmalen Lücken in der Wand. Ich sehe hinüber zu Ray, der sein Gewehr umklammert, als wollte er sich dahinter verstecken. Wir sind nicht für den offenen Kampf gemacht. Wir sind die Art Leute die komfortabel aus der Distanz arbeiten, und zehnmal so tödlich sind. Aber wenn das so weiter geht sind wir nicht mehr tödlich sondern nur noch tot. Und dann fällt die Tür auseinander, und ich kann für einen Augenblick in die Nacht hinausblicken, bevor ich mich außer Sicht rolle. Alle schreien durcheinander. Irgendwas kommt in die Hütte gerannt. Die anderen schießen sie nieder, aber ein paar kommen durch. Rottweiler so groß wie Kälber. Ich kann das Funkeln in ihren Augen sehen bevor einer von ihnen sich auf mich stürzt. Ich kenne Schmerz. Hungerschmerz, wenn du seit Tagen nicht gegessen hast. Schmerz durch Schläge und zu enge Orte. Gebrochene Arme. Aber das hier ist anders. Es ist ein Schmerz wie Rasierklingen in der linken Seite deines Schädels. Der Schmerz eines abgerissenen Ohres, zerfetzt, weg. Endlich finden meine Finger das Messer in meinem Gürtel und ich stecke es tief in die Seite des Rottweilers, ramme es zwischen seine Rippen, zieh es wieder raus. Steche, schneide, schlage. Zuerst heult er. Dann fiept er. Die anderen haben den Rest erschossen, und unsere Feinde sind entweder eliminiert oder geflohen. Mir wird schwindelig und mein Kopf summt, als ich mich aufsetze. Der Hund ist tot. Seine Augen sind immer noch offen, und sein leerer Blick schaut mich an.
Siebzehnter Platz: „Erzwungene Perspektive“, Philipp Maehr Sarah mit „h“ am Ende ist die Neue auf Palliativ und mit 34 schon selbst am Ende: Lungenkrebs, Haare weg, austherapiert. Sarah ist zum Sterben hier. Für Hannes – Mountainbiker, blonde Locken, Zweimetermann – ist es Arbeit. Er hat ihr Zimmer gerichtet, hört sich ihre Geschichten an, hält ihren Kopf über die Schüssel. Vor dem Krebs war Sarah eine schöne Frau. Das Foto auf ihrem Nachtkästchen zeigt Sarah am Strand. Sie steht auf einem Bein, das andere waagerecht ausgestreckt, den Kopf voller Leben in den Himmel gereckt – eine anmutige Arabesque. Mit der rechten Hand hält Sarah die rote Sonne vom Untergang ab. So sieht es zumindest aus. Erzwungene Perspektive wird das in der Fotografie genannt, wenn die Figur im Vordergrund mit einem Teil des weit entfernten Hintergrunds scheinbar in eine enge Beziehung tritt. Sarah und die Sonne. Was ein Leben. Jetzt liegt Sarah verkabelt im Krankenbett, den Tod im Nacken. Auch so eine erzwungene Perspektive. Allerdings keine, die weit in die Zukunft weist. Ein Jahr bleibt ihr sicher nicht, eine Handvoll Wochen vielleicht, mit Glück. Mit dem Glück, das aus Abwesenheit von Unglück besteht, eingehüllt in einen wohligen Mantel aus Mitteln gegen Schmerz und Angst und Atemnot. Mit dem Glück, das Menschen wunschlos werden lässt. Ganz so weit ist Sarah nicht. Einen letzten Wunsch hat sie. Sie flüstert ihn Hannes nach einer Woche auf Station ins Ohr: ficken. Einmal noch: ficken. Das letzte Mal soll auf keinen Fall ihr letztes Mal gewesen sein. Das letzte Mal mit dem Arsch, der sie danach verlassen hat, weil er ihren Verfall nicht ertragen konnte. Sarah will, dass ihr der Arsch aus dem Hirn gefickt wird, will feucht werden, einen pochenden Schwanz lutschen und dann von ihm gefickt werden. Vom Schwanz, nicht vom Mann. Der ist egal. Verlieben muss sie sich sicher nicht. Nicht mehr, nicht noch mal, wozu. Sarah hat trotz Stahl, Strahl und Chemie den Kampf gegen den Krebs um ihr Leben verloren. Jetzt will sie wenigstens noch ihr Sexleben mit einem Erfolg abschließen. Sie will einen gerechten Ausgleich zum verpatzten Einstieg damals auf Klassenfahrt mit 14 mit Arne im Keller der Jugendherberge. Schummerlicht, Schimmelflecken, Modergeruch. Die alte Matratze da drüben kommt ja wie gerufen, hahaha. Hastige Zungenküsse und dann schnellschnell, linksrechts unterm T-Shirt die Brüste begrabbeln, unbeholfen an den Nippeln herumkneten. Geil. Du bist so geil. Geile Brüste. Hose runter, Spucke drauf – rein, das Ding. Sie: aua, aua. Er: ja, jaa, jaaa. Fertig. Das stand so nicht in der Bravo. Diesmal soll alles anders laufen. Ganz besonders soll er sein, der finale Fick. Vollgepumpt mit einer doppelten Dosis Morphin aus Apotheke und Hypophyse. Schmecken, riechen, Farben und Figuren, wild und geil, Haut in Haut. Ein letzter leidenschaftlicher Kampf – rein, raus, rein, raus, rein. Dann ablassen, aufgeben, abtauchen, auflösen. Die Franzosen nennen den Orgasmus: kleiner Tod. Für Sarah wäre er ein großer Sieg. Hannes ist ratlos. Einerseits: ja, warum nicht. Trotz Glatze und Knochigkeit ist Sarah eine attraktive Frau, ein echter Schuss. Und Beziehungsstress ist ebenfalls nicht zu befürchten. Ein unverbindlicher GV, vielleicht zwei, allerhöchstens drei, dann hat sich das Beziehungsthema schon rein biologisch erledigt. Sehen wir uns morgen?, Marmeladenbrot im Bett, ich glaub, ich hab mich in dich verliebt, im Schnee über den Weihnachtsmarkt bummeln, gemeinsame Wohnung und Freunde, irgendwann: fremdgehen, Arschloch, du bist für mich gestorben! – alles ausgeschlossen. Todsicher. Plus: Der Sex mit Sarah würde seine Bettbilanz aufhübschen. Hannes war bis jetzt in weniger Frauen, als Männer auf dem Mond. Seine wildeste sexuelle Erfahrung: Betriebsfeier im Krankenhaus, die Kleine aus der Pathologie holt ihm unterm Tisch mit ihren Füßen einen runter. Schon ganz geil, aber reichlich wenig Abenteuer für einen Mann Mitte zwanzig. Und hey, wie hört sich das denn bitte an: Ich habe eine Todkranke gevögelt. Das hört sich nach einer 1-a-Geschichte für die besten Kumpels beim dritten Bier hinter vorgehaltener Hand an, schwer zu toppen. Andererseits. Was, wenn sie mittendrin stirbt? Voll durchziehen und in eine Leiche abspritzen? Wäre das dann Totschlag? Oder Nekrophilie? Hannes muss fast lachen. Ernsthaft: Wie sieht es mit Schutz aus? Kondome kommen ihm bestimmt nicht über sein Ding, von wegen gefühlsecht. Ganz kurz überlegt er, ob er sich bei ihr anstecken könnte. Aber nein. Lungenkrebs, Metastasen im Hirn – keine Gefahr. Für ihn. Bleibt das Risiko einer Schwangerschaft. Hannes hat in Sarahs Medikamentenbox keine Pille gelegt, die wäre neben den Herz-, Schmerz- und Hustenmitteln ohnehin wirkungslos. Nur mal so ins Blaue gedacht: Sie haben Sex, sie wird schwanger, lebt noch sechs Wochen – mit Glück. Dann stirbt in ihr ein richtiges Kind. Nicht ein rudimentär organisierter Zellklumpen, sondern ein kleines Wesen mit Herz und Hirn und Hannes als Vater. Medizinisch gesehen zumindest. Und moralisch. Einerseits, andererseits, linke Hand gegen rechte Hand, schnick, schnack, schnuck. Ha! Schwanz sticht Hirn. Es ist entschieden. Hannes erfüllt der sterbenden Sarah ihren letzten Wunsch. Klingt echt heldenhaft. Super-Hannes sagt: Okay, bin dabei. Wo und wann? Sarah ist alles recht, Hauptsache sie wird bald gefickt. Und gut. Hoffentlich hält der Schwanz, was sein Hannes verspricht. Rein äußerlich – Länge, Dicke, Härte, Technik, Durchhaltevermögen und so. Schlampengedanken! Egal. Was die Leute von Sarah halten könnten, kümmert sie nicht. Auf ihren guten Ruf muss sie auf den letzten Metern nun echt nicht mehr achten. Hannes schon. Er hat sein Leben noch vor sich, ist auf sein Image angewiesen. Geschlechtsverkehr mit einer todkranken Patientin – wenn das rauskommt. Abartig. Drecksau. Weg mit dem. Hannes denkt nach. Die beste Zeit für unauffälligen Sex im Krankenhaus ist eindeutig beim Nachtdienst morgens um 4 Uhr 30. Die Bereitschaft pennt um die Zeit meist fest, die neue Schicht kommt frühestens um halb sechs. Eine gute Stunde für Sex, das reicht selbst ihm. Hannes ist nämlich nicht gerade der schnellste Hengst auf der Bahn. Unter optimalen Bedingungen (eine Woche Enthaltsamkeit im Vorlauf, geiler HD-Porno auf 60 Zoll, dann unter die warme Dusche, linke Hand zur Faust um sein Ding, Zeigefinger und Daumen Richtung Bauch, schnell vor und zurück, mit der rechten Hand an den Eiern spielen) braucht er mindestens zehn Minuten, bis er kommt. Hannes hat sogar schon mal dran gedacht, deshalb zum Arzt zu gehen. Aber Frauen stehen ja angeblich drauf, wenn Männer länger können. Halb fünf also, aber wo? Raus aus der Klinik ist keine Option. Großartig herumlaufen kann Sarah nicht, schon gar nicht frisch gevögelt und mit Tropf im Arm. Im Zimmer können sie auch nicht bleiben: Die Wände sind dünn, das zu erwartende Gerumpel und Gestöhne könnte die Halbtoten nebenan aufwecken. Und laut darf es gerne werden, soll es sogar. Vielleicht schreit und tobt Sarah ja beim Sex. Geil wäre das. Schrei, du Schlampe. Ich fick dich, bis du schreist. Ich fick dich … Im Bettenlager! Genau. Ich fahr sie in ihrem Bett runter in den Keller ins Bettenlager. Nachts ist da niemand, der Aufzug hält direkt vor der Tür und kein Fenster lässt Geräusche nach draußen. Perfekt. Es ist außerdem sicher nicht das erste Mal, dass es hier voll zur Sache geht. Tief unterm Krankenhausbetrieb geht bestimmt öfter mal eine hübsche Schwester vorm großen Herrn Dr. zu Boden. Ja, leck ihn, gut so. Ich sorg dafür, dass du Pflegedienstleitung wirst. Ich verlass meine Frau für dich. Bald. Ganz bald. Versprochen. Hör nicht auf. Ja. Wow. Die goldenen Knöpfe am Kittel sehen richtig geil aus, gute Wahl. Drei Tage später, halb fünf Uhr morgens. Hannes fährt Sarahs Bett in den Keller, will Konversation machen: Matratzen haben wir auf jeden Fall genug da unten, hahaha. Hannes schiebt Sarah in den unreinen Teil des Bettenlagers, steckt das Nachtlicht in die Steckdose. Um sie herum stehen etwa zwanzig andere Krankenbetten. Die Menschen, die in ihnen lagen: tot, verlegt oder entlassen. In den Laken, Kissen und Decken: Schweiß, Blut, Pisse, Kotze, Kacke und Kaffee. Es stinkt aber nicht, nicht sehr zumindest. Hannes arretiert das Bett, Sarah setzt sich auf. Das Nachtlicht schimmert gelblich, spiegelt sich in den Kacheln an den Wänden bis zur Decke. Dieses Licht ist zwar auch nicht gerade ein Kompliment für die Haut, aber in ihrem Zustand schmeichelhafter als das Brachialgrünblau der Energiesparlampen an der Decke. Komisch, dass es ihr noch immer wichtig ist, wie sie aussieht. Vielleicht stirbt ja in Wahrheit die Eitelkeit zuletzt, nicht die Hoffnung. Die Hoffnung – Gott hab sie selig – ist bei ihr lange schon unter der Erde, verreckt in einer Sekunde an „erneut Metastasen im Gehirn“. Aber egal, wer und was wann stirbt, jetzt bitte Kopf aus und Unterleib an. Sarah sagt: Ausziehen, zieh die Hose aus. Los. Zeig mir deinen Schwanz. Komm aufs Bett, beug dich über mich und schieb mir deinen geilen steifen Schwanz in den Mund … Dirty talk – das fängt ja sehr gut an. Hannes holt sein Ding wie gewünscht aus der Hose und steigt aufs Bett. Pass auf, die Infusion. Ja, so. So geht’s. Sein Schwanz gefällt ihr auf Anhieb. Groß, hart, leicht nach oben geschwungen. Er schmeckt nach Mann und nicht nach mangelnder Hygiene. Geht doch, trotz Vorhaut. Alles in allem keine Zehn, aber wenn er souverän und abwechslungsreich damit umgehen kann: mehr als okay. Sarah hatte schon Schlechteres. Oft, um ehrlich zu sein. Während sie an ihm herumlutscht, werden ihre Nippel hart, die Möse feucht und prall. Haarlos ist sie ohnehin seit einiger Zeit – einer der wenigen Vorteile der Chemo. Jetzt fick mich. Hannes steigt runter von Sarahs Gesicht, stellt sich neben das Bett. Er fasst sie an den Beinen, dreht ihren Unterleib zu sich, zieht ihn an den Rand. Sarah liegt jetzt quer auf der Matratze. Ihre Beine stehen nach oben, ruhen auf seiner Brust, die Füße neben dem Kopf. Eine praktische Position. Sie muss einfach nur daliegen und sich entspannt ins Irgendwann und Nirgendwo ficken lassen. Er kann mit voller Kraft aus Bauch, Beine, Po beliebig tief in sie eindringen. Den Reibungsgrad reguliert er über die Stellung ihrer Beine (zusammen oder auseinander), den Eindringwinkel durch mehr oder weniger starkes Beugen seiner Knie. Sex ist letzten Endes eine Mischung aus Grob- und Feinmechanik und Hydraulik. Hannes nimmt sein Ding mit links, legt es zwischen Sarahs Schenkel und dringt in sie ein. Langsam, ruhig, kontrolliert, bestimmt, männlich, machtvoll. Er fühlt sich wie beim Downhill-Fahren gleich nach dem Start auf den ersten Metern, wenn er sich von oben in den Berg stürzt – den langen Ritt vor Augen und im Kopf. Kurz in die Pedale treten, dann bremsen, lenken, in die Kurven legen, über Wurzeln springen und unter Ästen wegducken. Was ein Film. Am liebsten hätte Hannes jetzt seine Helmkamera dabei. Das hat dem Internet noch gefehlt: Inmitten von versauten Betten wird eine Frau gevögelt, die am Tropf hängt. Voll draufgehalten, weitwinklig, hochauflösend. Er stöhnt auf. Geil, eine mehr auf der Uhr. Sarah kippt ihr Becken leicht nach oben. Das bringt mehr Wumms an die richtigen Stellen in ihr. Minimale Bewegung, maximaler Nutzen. Das erinnert sie an ihren letzten Job als technische Zeichnerin. Damals, als sie mit dem vorgesetzten Arsch noch glücklich war und Krebs die Krankheit von anderen, älteren. Ständig wurde in der Firma ein Prozess optimiert, Feintuning betrieben, Effizienz gesteigert, Potential genutzt, das letzte Promill rausgeholt. Sarah hat das Spaß gemacht. Sie hat in der Firma und vom Arsch gelernt: Alles geht immer noch einen Tick besser, sogar Sex. Tick, tack, tick, tack – Sarah wird jetzt im Takt der Wanduhr gefickt. 4 Uhr 42 und 23. Gut so. 4 Uhr 47 und 10. Weiter so. 4 Uhr 50 und 17. Schneller, schneller. 18, 19, 20. Kommen, kommen, ich will kommen. Kommenkommenkommen. Ihre Atmung wird heftiger, flacher, rasselnd. Sie stöhnt auf – und hustet. Luft, ich bekomme keine Luft. Sarah hatte völlig vergessen, wie wenig Sauerstoff die halbe Lunge liefern kann, die ihr geblieben ist. Der rechte Flügel trägt seit drei Monaten schon nichts mehr zum Atemgeschäft bei, liegt längst neben einer fremden Leiche im Sarg, tief verbuddelt in geweihter Erde. Der Lungenrest reicht gerade so für leichtere Tätigkeiten, für das Nötigste zum Leben. Sex gehört offenbar nicht dazu. Also: langsamer atmen, nicht so viel atmen, auf keinen Fall laut werden. Und trotzdem dranbleiben, zum Ende kommen. Kommen. Sinnlos. 4 Uhr 51 und 36. Hannes vögelt derweil eine ganz andere Sarah. Nicht die mit dem Krebs, der Glatze und den OP-Narben auf der Brust. Hannes vögelt die Sarah von früher. Hammerfrau: sonnengebräunte Haut, pralle Titten, ein Arsch zum Niederknien. Hannes vögelt die Sarah, die am Strand die Sonne in der Hand hält. Erzwungene Perspektive, denkt er noch. 4 Uhr 51 und 49. „SUDEP – meint die Chefin“, erzählt die Kleine aus der Pathologie beim Mittagessen, „Ziemlich selten, Ursache unbekannt. Die Palliativ-Patientin, mit der er es da unten getrieben hat, die hatte mehr Glück, die war bloß bewusstlos und liegt jetzt wieder auf ihrem Zimmer. Um ihn ist es schade, wenn ihr mich fragt. Das war ein süßer Schnuckel. Pervers, aber ein Schnuckel.“
Achtzehnter Platz: „Vitality“, Christian Stahl So lange man nicht tot ist, muss man leben. Muss essen, schlafen, atmen, fühlen, Sätze formulieren und anderen auf die Nerven gehen, das volle Programm. Und auch wenn die Tante lieber tot sein will, das behauptet sie zumindest, ist sie es doch derzeit nicht. Trotz Herzschwäche wacht sie täglich auf, schlurft durch die Küche, liest Zeitung, bekommt Hunger, muss mit dem Notwendigen versorgt werden, damit sie durchhält, bis es soweit ist, bis sie ihr Leben hinter sich hat. Eigentlich paradox, denke ich: sterben wollen, aber dann doch weitermachen und lebenserhaltende Maßnahmen wie eine Fahrt zum Supermarkt fordern, den Prospekt mit den Sonderangeboten studieren und gleichzeitig so tun, als habe man mit dem Leben abgeschlossen. Die Tante möcht halt mal raus, sagt Patzak und bietet sich als Chauffeur an, leichtsinnig wie er ist, weil er keine Ahnung hat von Großtanten. Rauswollen, ein kleiner Ausflug in die Stadt, ein paar Stunden nicht daheim hocken, im Lehnstuhl neben dem Ofen, auf den Tod warten, während das Feuer ein Holzscheit nach dem anderen frisst und man das Knacken hört als einziges Geräusch, wenn es draußen langsam dunkel wird, aber der Tag noch immer nicht zu Ende gehen will. Kann nicht zu viel verlangt sein, einer alten Frau eine Freude machen, denkt Patzak und hält mich für einen Rabenneffen, weil ich mich sträube, weil ich gegen den Ausflug bin, gegen den Supermarkt, weil die Tantenbetreuung mich schon etwas porös gemacht hat. Ich will Patzak nicht tiefer als nötig in die Sache hineinziehen. Soll ruhig im Wagen warten, während ich bei den Abreisevorbereitungen Hand anlege. Die nicht enden wollende Ankleideprozedur, mein Nervenkostüm schon fadenscheinig. Die arthritischen Gelenke der Tante lassen vieles nicht mehr zu, was im Alltag erforderlich, das Sonntagskleid anziehen, die Strumpfhose, die Schuhe, auch die Haare frisieren und den Dutt für den Ausflug auf Vordermann bringen, die Gehhilfe bereitstellen, gleich ist es soweit, gleich wird es losgehen, denke ich, während Patzak draußen im Wagen seine Geduld aufpoliert und einen Radiosender sucht. Die Tante kommt mir in ihrem Lehnstuhlthron im Sonntagskleid vor wie eine verarmte Königin mit einem Reich, das kleiner und kleiner wird und sich zugleich ausdehnt. Allein der Weg durch den Garten zum Gartentor ein halber Tagesmarsch. Zur Tür immerhin unfallfrei hinaus, die Treppenstufen können nur rückwärts bezwungen werden, die Tante umklammert den Handlauf und lässt sich zentimeterweise in die Tiefe, während ich hinten sichere. Die Entdeckung der Langsamkeit. Es müsste eine Zeitschleuse geben, denke ich, die einen von der Normalzeit auf die Tantenzeit herunterbremst. Heute ist Patzak auch noch hochtourig hergebraust, als wären wir in Verzug, als gelte es, etwas lange Versäumtes nachzuholen. Ich berühre den Arm der Tante, wie ein magisches Ritual, ein paar Zentimeter oberhalb der Ellenbeuge, damit sie weiß, dass ich sie halte im Fall des Falles. Ganz warm ihre Haut dort auf der Innenseite des Oberarms, so weich, dass ich zurückzucke, wie die Haut eines Mädchens. Wir altern nicht in einem Stück, denke ich, das Herz und die Gelenke sind kurz vor dem Aufgeben, aber die Haut an einer verborgenen Stelle ist noch wie neu. Die Königin durchschreitet ihr Reich, begleitet von ihrem treuen Lakaien. Auch wenn das Schreiten kein majestätisches ist, vielmehr ein Schleifen von kaum mehr beweglichen Fußapparaten, während oben noch forsch geklammert wird, die Griffe der Gehhilfe ums Verrecken nicht loslassen, nicht fallen, nicht aufgeben. Aber auch kein Fortkommen, zumindest kein merkliches. Die Tante längst reif für den Rollstuhl, denke ich. Sie weiß es selber. Will aber nichts davon wissen. So wie sie vor zwei Jahren nichts davon hat wissen wollen, einen Stock zu brauchen, erst einen, dann einen zweiten, dann die Gehhilfe. Jetzt wartet der Rollstuhl. Wenn es nach ihr geht, kann der bis in alle Ewigkeit warten. Sterben wollen ja, aber nicht in einem Rollstuhl. Der körperliche Verfall ist immer schneller als die Bereitschaft, sich diesen einzugestehen. Eine Art Wettlauf, bei dem der Verfall uneinholbar in Führung liegt. Weitermachen, denke ich, wieso immerzu weitermachen. Aber selbst die Lebensmüden und Totkranken machen weiter, kämpfen sich voran und schleppen sich durch die Tage. Die Apfelbäume machen weiter, das Unkraut zwischen den Gehwegplatten macht weiter. Die Inkontinenz, die Arthrose und die Herzschwäche machen weiter. Die Gene machen weiter, die Evolution macht weiter, Lokalredaktionen und die Werbetexter. Die Hormone und die Aminosäuren machen weiter, die Wolken und das Wetter machen weiter, die Sonne macht weiter, die schwarzen Löcher, die Galaxien, das Universum. Und die Tante macht weiter auf dem langen Weg. Zum Gartentor, zu Patzaks Wagen, zum Supermarkt, zum Friedhof. Auch wenn sie dabei kaum voranzukommen scheint. Wenn uns ausgerechnet jetzt die Kräfte verlassen und jedes Schrittchen noch kleiner wird als das vorhergehende, wird die Zeit eindicken wie sich abkühlender Schokoladenpudding, wird die Tante nicht sterben, aber auch das Gartentor nie erreichen. Und Patzak dort in seinem Auto, der unseren Zeitlupenmarsch tatenlos ansehen muss, würde in der sich blähenden Gegenwartsblase wahnsinnig werden. Hält es jetzt schon kaum mehr aus, hat genug davon, ungeduldig aufs Lenkrad zu trommeln, ist kurz davor, ein kleines Anfeuerungshupen loszulassen. Jetzt steigt er aus, läuft um den Wagen, öffnet Gartentor und Beifahrertür, als könne das den Gang der Dinge beschleunigen. Irgendwann doch: die Tante sitzt, ich lasse mich von der Langsamkeit entkräftet auf die Rückbank fallen, Patzak drückt aufs Gas, als könnten wir die Zeit einholen oder sogar überholen. Das Autoradio, ein Sänger mit Schmelz in der Stimme schluchzt, das weiße Schiff habe den Hafen verlassen. Vielleicht glaubt Patzak, dass Tanten Schlagermusik mögen. Ich bin zu schwach für Protest und frage mich, was so schlimm ist, wenn das weiße Schiff den Hafen verlässt. Das Schluchzen wird noch weinerlicher, vielleicht quält den Sänger der wummernde Synthesizer gegen den er ansingen muss. In der nächsten Strophe gibt der Sänger zu, alles habe in der Bar angefangen, wo dieser Manolito nicht aufgehört habe nachzuschenken. Eng umschlungen hätten sie durch die Nacht getanzt. Ich denke an betrunkene und verliebte Matrosen auf Landgang. Dann nahm das Unglück seinen Lauf: Das Schiff legt ab, das übliche Trennungszeug, einer fährt weg, der andere bleibt, die Sehnsucht beginnt unverzüglich zu brennen. Doch wer weiß, wohin der Wind dich weht. Am Ende kämpft sich die Stimme eine Oktave hinauf, wiederholt die Frage noch zweimal, dann ist es überstanden. Ich denke an die Sehnsucht der Matrosen, ich denke an Fräulein Hilde im weißen Kittel hinter der Brot-und-Kuchen-Theke, ich denke an ihr Lächeln. Aber mit einer Tante im Schlepptau will ich ihr partout nicht unter die Augen. Ich stecke den Kopf zwischen die Vordersitze, wie ein Kind, das mit den Eltern einen Sonntagsausflug macht. Ich sage zu Patzak und der Tante wie beiläufig, dass der Superkauf an der Umgehungsstraße so verkehrsgünstig liege und dort unglaublich nah am Eingang geparkt werden kann. Beim Frischkauf in der Innenstadt gäbe es überhaupt keine Parkplätze, gar nicht Parken könne man da, schreie ich gegen die Schlagermusik an, und sehr schlecht stehen bleiben und aussteigen und alles. Die Tante sagt nur So?, als fahre sie überhaupt zum ersten Mal in die Stadt und wäre von der Thematik total überrascht. Patzak aber kann man mit so etwas nicht kommen, das hätte ich wissen müssen. Ein hilfloser Versuch mit der Parkplatzproblematik vom Supermarkt Fräulein Hildes wegzulenken. Mit Parkschwierigkeiten darf man Patzak nicht kommen, er hat Allrad und Rundum-Power-Sound und fährt überall hin, je schwieriger die Bedingungen, desto reizvoller. Des wirst gleich sehn, du, da gibt’s nix. Direkt vor der Tür werde er halten, auf dem Bürgersteig, wenn’s sein müsse. Im Radio singt wieder jemand laut von der Liebe, ich lasse mich nach hinten fallen, ins weiche Leder der Rückbank, das ganz neu riecht. Es ist noch gar nicht ausgemacht, ob ich in Fräulein Hilde verliebt bin, auch wenn sie die schönsten und geschicktesten Hände hat. Wie sie die Waren handhabt und eintütet und lächelt dabei und ihr Pferdeschwanz gut gelaunt wippt. Die Tante erzählt Patzak, sie höre neuerdings so schlecht, dass es ganz furchtbar sei, und dass es früher keine so schönen Autos gegeben habe, überhaupt keine Autos hätten sie gehabt. Aber heutzutage sei ja alles anders. Früher war alles anders, und heut is alles anders, schreit die Tante. Und übermorgen wird wieder alles anders sein, denke ich, dann werde ich alt sein und lahm und schwerhörig und genug haben vom Leben, jemand wird mir den Arsch wischen und Nahrung zuführen und genervt die Augen verdrehen. Wer hat sich das alles bloß ausgedacht, denke ich und hole die Gehhilfe aus dem Kofferraum. Patzak hat direkt vor dem Eingang gehalten, zwei Räder auf dem Trottoir, vom Fahrersitz aus stützt und drückt er von hinten, während sich die Tante mit meiner Hilfe ins Freie wuchtet. Frischkauf, halb elf, die Dinge beschleunigen sich, es kommt Bewegung in die Sachen. Sogar die Müslipyramide kommt ins Rutschen, nicht für die Ewigkeit gebaut, denke ich, konnte auch keiner erwarten, aber muss sie ausgerechnet jetzt das Gleichgewicht aufgeben. Und ich sage mir, wie blöd kann einer sein, die Situation entgleitet, kommt ins Rutschen, vermutlich durch deine Schuld, ganz sicher durch deine Schuld, und du hast nichts Besseres zu tun als Worte auf Müslipackungen zu lesen. Aber nichts zu machen, ich lese von Super Knusper Crunchies und Knusperspaß pur, ich lese Für die anregenden Momente im Leben, wo es momentan auch gerne weniger an- und aufregend hätte sein dürfen. Im Konvoi unterwegs, vor dem Frühstücksregal, wo wir gar nichts zu suchen hatten, die Tante über die Gehhilfe gekrümmt, für ihre Verhältnisse flott unterwegs, der glatte Untergrund, die ganze Umgebung wie dafür gemacht, mit Gehhilfen befahren zu werden, die Regalreihen geben den Kurs vor, das strahlende Licht, das den Raum wie Energiebahnen durchzieht, eine allgemeine Buntheit, die belebend wirkt. Die Tante steuert voraus, ich mit dem Einkaufswagen knapp hinterher, nichts soll uns trennen. Die Tante deutet ins Ungefähre, wenn etwas aus dem Regal in den Wagen soll, aber es ist bekannt, dass es nicht ums Einkaufen geht, ums Einkaufen geht es nicht, denke ich, ich bringe der Tante ja alle paar Tage alles, was sie braucht. Es geht um die Vergewisserung: die Welt da draußen, hinter ihrer Küchentür existiert noch. Man kann wirklich vor einem Regal mit 37 oder 48 Müslisorten stehen, auch wenn man gar nicht vorhat, jemals im Leben Müsli zu essen. Meine Schuld auch, weil ich die Tante in diese Regalreihe gelockt habe, möglichst weit weg von Fräulein Hildes Brot-und-Kuchen-Theke, mir gleichzeitig aber einreden wollte, sie habe ausgerechnet heute ihren freien Tag, auch ein Fräulein Hilde braucht einen freien Tag. Das Müsli der Müslipyramide heißt Vitality, und die Pyramide ist im Weg oder zumindest mit einem Rollator und derartiger Gehschwäche kaum zu umkurven, aber die Tante müht sich, rangiert hin und her mit ihrem Gefährt. Erste Packungen lösen sich aus der Konstruktion und fallen, die Tante versucht sie wie ein Schneepflug einfach mit sich zu nehmen, rangiert dann für ihre Verhältnisse energisch mit den grauen Vollgummirädern vor und zurück, und merkt dabei offenbar, dass noch ganz anderes in Bewegung gerät. Die Tante streckt eine Hand nach hinten, hilfesuchend in die Richtung, wo sie den Neffen vermutet, wo ich in meiner ganzen Neffenhaftigkeit tatsächlich bin und nicht weiß, was tun, und noch darauf hoffe, dass es irgendwie weitergeht, dass es vorübergeht, der Supermarkt, der Vormittag und alles. Jetzt also die Strumpfhose. Jene Strumpfhose mit eingeschränkter Dehnbarkeit, die ich eben noch vor dem Lehnstuhl der Tante anzuziehen geholfen, hochzuziehen versucht habe, ausreichend hoch, hatte ich geglaubt, diese Strumpfhose ist jetzt an diesem strahlenden Ort des Konsums und der Selbstvergewisserung schon wieder auf dem Weg nach unten, was aber gar nicht der Schwerkraft anzulasten ist, sondern meiner Unfähigkeit, sie unter Aufbietung aller Kräfte so hoch zu ziehen, den Tantenhintern hinauf, das Tantenhinterngebirge nicht nur hinauf, sondern den Bund der Strumpfhose, der sich der Grenze seiner nicht endlosen Dehnbarkeit angenähert hatte, noch über den Scheitelpunkt der Hinterngebirgsflanke hinüber, über den Scheitelpunkt hinweg, hinunter in das Tal oder zumindest die talähnliche Gegend der Taille, wo er verschnaufen hätte können, wo die Dehnung ein wenig nachlassen, wo der Strumpfhosenbund hätte Halt finden können, wenn ich in meiner Nachlässigkeit die Sache so weit befördert hätte. Bittschön! Die Hand der Tante winkt steif nach hinten, ohne dass ich schon ganz begriffen habe, was jetzt zu tun sie von mir erhofft. Kein Fräulein Hilde weit und breit, denke ich, um mich wenigstens an einem positiven Gedanken aufzurichten. Möchte aber dennoch im Boden versinken, mich zumindest für einen Moment ganz dem Gefühl des Im-Boden-versinken-wollens hingeben. Aber dafür ist keine Zeit. Zuzupacken gilt es, hier und jetzt zwischen Cerealien und Fruchtaufstrichen. Ich schiebe tatsächlich, nicht ohne mich dabei in alle erdenklichen Richtungen umzublicken, zuerst den Einkaufswagen aus dem Weg und dann das Kleid, ergreife mit beiden Händen, fast als würde ich diesen Akt regelmäßig in der Öffentlichkeit vollführen, den Bund der Strumpfhose, der wirklich dramatisch tief hängt, dort am Ausläufer des Hinterngebirges. Wieder sehe ich mir über die Schulter, ob uns jemand beobachtet, ein Fräulein Hilde vielleicht oder Müslikäufer auf der Suche nach Knusperspaß, aber da kommt niemand. Bloß aus unsichtbaren Lautsprechern dröhnt eine Stimme: „Frau Berger ins Büro, Frau Berger“, und ich ziehe und zerre an der Strumpfhose als gehe es um mein Leben, die Tante wankt unter diesem Ansturm jugendlicher Kraft, mit dem sie nicht gerechnet hat, sie wankt, fällt aber nicht, sondern greift mit einer Hand ins Regal, weitere Packungen von Frühstücksmischungen fallen zu Boden, ich zerre und ziehe und ächze, das Kleid bis zur Hüfte hochgeschoben, die Tante eng von hinten umfassend, wie ein Ringer in der falschen Gewichtsklasse. Als sich endlich ein Erfolg an der Strumpfhosenfront abzuzeichnen beginnt, ist es mir, als fange die Tante zu kichern an, ganz leise zuerst, als ich mit rotem Kopf das Kleid wieder nach unten ziehe, dann deutlicher kichert sie, schüttelt den Kopf und sagt Imma noch netter, kichert wie ein Mädchen fast und sagt wieder und wieder, schreit es dann schon halb in mein Ohr hinein, Imma noch netter. Ich schließe die Augen und stelle mir Fräulein Hilde vor, wie sie an ihrem freien Tag durch eine Landschaft radelt, an blühenden Bäumen vorbei, wie in einem Werbefilm, in dem man den Leuten das pure Glück verkauft. Dann drängt sich ein dicker, mürrischer Mann ins Bild, in einer trüben Kammer sitzt er vor Monitoren, sein Blick schweift über die Bildschirme, bis etwas seine Aufmerksamkeit bannt. Er drückt Knöpfe, zieht an einem Hebel und stiert auf einen der Bildschirme, als hätte er die ganze Zeit darauf gewartet. Er zoomt sich heran, näher und näher, bis ein kleines, kurzes Lächeln über sein Gesicht huscht.
Nehnzehnter Platz: „Frontbericht“, Andreas Glumm Der Versuch, für den Rest des Lebens stoned zu bleiben, war nach hinten losgegangen “Mann.., dass du so dämlich bist, hätt ich nicht gedacht..!” Es war meine Schwester, die so aufrichtig reagierte und es kaum glauben wollte, als ich ihr von meiner Heroinsucht erzählte. Und obwohl Sucht mit dämlich wenig zu tun hat, musste ich lachen. Sie hatte ja recht. Ich war nicht siebzehn gewesen, als ich mit Heroin zu experimentieren begann, mit siebzehn war Kiffen meine Dienstmarke, sondern Ende Zwanzig, und da weiß man eigentlich, was man tut. Da kennt man das Dorf, in dem man sich bewegt, sein Pappenheim. Ich war überrascht, dass sie überrascht war. Dass sie bis zu diesem Moment offenbar nichts von meiner Sucht bemerkt hatte. Es musste sie doch stutzig gemacht haben, wie schlecht ich aussah, wenn wir uns im Kreis der Familie begegneten: fahle Haut, Mundwinkel im Keller, verkniffener Blick. Heroin und Gesichtszüge, auf Dauer eine tragische Liaison. Die Folge: ein träger alter Hund, hinterm Ofen hervor gezerrt. Kriegt der arme Kerl das falsche zu fressen? Selbst meine Mutter hatte mich schon auf den Kopf zu gefragt, “sag mal.. nimmst du Heroin?” Es war diese Direktheit gewesen, die mich so perplex machte, dass ich es glaubhaft leugnen konnte, Heroin zu nehmen, jedenfalls hat sie mich nie wieder darauf angesprochen. Dabei war ich in diesem Augenblick lediglich konsterniert, mit welcher Hellsichtigkeit Mutter erkannt hatte, dass ich weder Schnaps, Koks oder Pillen konsumierte, sondern tatsächlich Heroin. Schore. Material. Golden Brown. Wir betraten ein überfülltes spanisches Lokal am Grünewald und mussten auf einen freien Tisch warten, meine Schwester, ihr Mann, die Gräfin und ich. Ich hatte schon einiges an Bier und warme Osborne intus. Irgendwann war ein Tisch frei, und die Zeit reif für eine Heroinbeichte. Meine Schwester brach in Tränen aus, als ich ihr von dieser Desasternacht erzählte, wo ich im besoffenen Kopf zu viel Pulver geschnupft hatte und in Karlos’ Wagen bewusstlos weggesackt und beinah verlorengegangen war, auf dem Weg ins Klinikum. Es waren zornige aufgebrachte Tränen. Für die Abhängigkeit von Drogen gibt es im Holländischen den Begriff Versklavung. Die Versklavung beginnt streng genommen mit dem Zeitpunkt der Geburt, wenn man brutal dem Fruchtwasser entrissen wird, Mutters Schutzzone, in der es behaglich warm gewesen war. Eine typisch männliche, kitschige Vorstellung, und dennoch: Das erste Mal Heroin gleicht der Rückkehr in den Mutterschoß. Ein Empfang mit Tschingderassa und Jubelchören im Blut, und wenn dir die Hitze des Opiats erstmals das Rückgrat hochkriecht, fühlst du dich angekommen, alles Suchen hat ein Ende. Es ist, als zöge die Brandwehr einen Ring Warmwasserschläuche um deinen Körper, ohne einen Fingerbreit auszusparen. Hier ist sie nun, die ewige Plazenta. Ein Gleiten durch tiefe See, eine Tauchfahrt, ähnlich der Vorstellung, die mich schon als Kind sanft in den Schlaf brachte, wenn ich abends im Bett lag und mir vorstellte, ich würde in einem kleinen gläsernen Unterseeboot durch den Ozean tauchen, geschützt von Panzerglas, während um mich herum die prächtigste Unterwasserwelt vorüberzog, blau und warm, tonnenschwer und tief. In unseren Träumen und auf Opium kehren wir ins Universum zurück, leicht wie Kosmonauten, der Ewigkeit entgegen. Mitte der Neunziger hatte ich eine neue Stammdealerin, die Unke. Selbst in der Szene war sie kaum bekannt. Sie belieferte exakt drei Kunden, damit kein Gerede aufkommen konnte. Da sie einem regulären Büro-Job nachging, empfing sie uns erst nach Feierabend, einen nach dem anderen. Eins, zwei, drei. Sie wohnte im zweiten Stock eines Mietshauses im Stadtzentrum. Wenn alles seinen gewohnten Lauf nahm, saß sie Punkt halb sechs in Shorts auf ihrer Couch und arbeitete auf der elektronischen Feinwaage die Bestellungen ab. Sie hatte stämmige, ungeheuer weiße Schenkel, und in der Wohnung hing der schwere süßliche Geruch von zu viel Patschuli. In ihren erlauchten Kundenkreis war ich gerutscht, nachdem sich ex-Kunde No. 3 für vierundzwanzig Monate in den Bau verabschiedete. Man hatte ihn aufgrund irgendwelcher Aussagen verknackt, die andere Süchtige in U-Haft gemacht hatten. Es war immer das gleiche Spielchen, aber ein Spielchen, an dessen Ende ein Suchtkranker ins Gefängnis wanderte. Auf dem Präsidium ließ man die Junkies so lange ohne ihren gewohnten Stoff zappeln, bis es ihnen schlecht genug ging und sie jedes belastende Papier unterschrieben, das man ihnen vorlegte – wenn man ihnen nur etwas gegen die Entzugserscheinungen versprach. Heroin war Krieg an allen Fronten. Jeder Junkie führte einen privaten Weltkrieg gegen sich selbst, der Staat führte Krieg gegen die Süchtigen. Was bei jedem anderen Delikt kaum zur Eröffnung eines Strafverfahrens geschweige denn zu einer Verurteilung reichte, wurde bei Rauschgift durchgewunken. Es wurde alles abgenickt, alles ging durch, die lächerlichsten Beschuldigungen, bloß weil so viele vom Elend der Junkies profitierten. Die Kette der Profiteure war eine Kette ohne Ende, und niemand lehnte sich dagegen auf, die Junkies zuallerletzt, sie hatten andere Probleme und keinerlei Lobby. Junkies versorgten ein ganzes Füllhorn aus jungen Kripobeamten, die sich ihre ersten Sporen verdienten, desillusionierten Drogenberatern, Gefängniswärtern, Psychologen, Bewährungshelfern und Ärzten, überforderten Ärzten, Arzthelferinnen, Apothekern, Gesundheitsamtsmitarbeitern, Justizangestellten, Zollbeamten, Ladendetektiven und Berufs-Mafiosi. Jeder wollte ein Stück abhaben vom Junkie, der nichts anders tat, als sich selbst zugrunde zu richten. Und dafür steckte man ihn am Ende in eine Zelle. Es war beschämend. Es war zum Kotzen. Die Preise für illegales schmutziges Straßenheroin blieben so hoch, weil der Staat sich anmaßte, die eine Droge dem Schwarzmarkt auszuliefern, während die andere Droge, Alkohol, billig und sauber in jedem Dorfkiosk zu kaufen war. Es war grotesk. Ein Gramm gepanschtes Heroin mit einem Reinheitsgehalt von 10 Prozent kostete auf der Strasse 100 Mark, für die Süchtigen war es ein ständiges Vabanquespiel mit der Intensivstation. Ein Gramm sauberes, vom Statt lizenziertes Heroin hätte vielleicht fünf Mark gekostet, vielleicht zehn Mark, und dabei hätten Hersteller und Zwischenhändler immer noch ihren Schnitt gemacht. Aber Junkies hatten keine Lobby, es kümmerte niemanden, was mit ihnen geschah. Junkies kümmerten sich nicht mal um sich selbst, und sie steckten ständig in der Scheiße. Kunde No.3 war weg vom Fenster. Die Unke erkundigte sich bei ihren beiden verbliebenen Kunden, wer die neue No.3 werden sollte. Sie war eine altgediente Gewerkschafterin, der das Mitspracherecht der Arbeitnehmer noch etwas galt. “Hat einer ne Idee?” Mitch schlug mich vor, weil er wusste, dass ich auf der Suche nach einem neuen Dealer war. Mitch, gelernter Werkzeugmacher, hatte riesige Pranken, mit denen er in den späten Siebzigern zum inoffiziellen Flipper-König der Stadt aufgestiegen war. Zwanzig Jahre später war er schwerst alkohol- und heroinabhängig, und er ging niemals ohne Taschenbuch aus dem Haus. Es mussten ordentlichen Schinken sein, Fantasy-Romane nicht unter 700 Seiten. Die Exemplare waren komplett zerlesen und voller Eselsohren, die Cover faltig, eingerissen, doch für Mitch war ein Buch in der Hand überlebenswichtig. Ein Buch in der Hand half ihm, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Er legte lange Strecken mit dem Schmöker in der Hand zurück. Genau genommen war Mitch heroin,- alkohol- und lesestoffsüchtig. “Voll polytoxikoman, Alter.” Die laufende No.1 im Kundenkreis der Unke war ein schmächtiger Junge mit krausen Haaren, ein ex-Liebhaber der Unke. Er machte nicht viel Worte, ein sanfter naiver Hippie, irgendwie übriggeblieben. Er kam mit harten Drogen nicht zurecht und wurde immer sonderbarer. Zuletzt war er davon überzeugt, dass sein Handy überwacht wurde, er konnte nachts nicht schlafen und glaubte den Funkverkehr der Bullen unter seinem Fenster zu hören. Schon beim fernsten Getrappel im Hausflur zitterte er am ganzen Leib und schmiss sein letztes Pulver ins Klo und zog ab. Es hatte ihn voll erwischt. “Glaubst du, ich bin langsam panne?” fragte er mich, und ich antwortete lange nicht darauf. Zehn Tage drauf ließ sich ins LKH einweisen, freiwillig, bevor andere es für ihn getan hätten. Es ging abwärts und jeder von uns wusste, unten angekommen wartete nur noch der Schanzentisch und man hob ab ins Nichts. Und dennoch – wir wollten es nicht anders. Es war genau das, was wir wollten, wir wollten süchtig sein. Ich wollte Abhängigkeit kennenlernen, ich wollte wissen, wie es ist, morgens affig aufzuwachen, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche. Ich wollte mich selbst erobern, ich wollte mich kleinkriegen, ich legte alles daran, mich zu foltern, zu desillusionieren, zu töten. Warum? Woher soll ich das wissen. Frag mal die großen Kriegsherren, warum sie Kriege führten. Weil sie Sieger sein wollten. “Was glaubst du, was an der Front für ein Durcheinander herrscht. Jeder hat die Hosen voll, jeder sieht zu, dass es nicht ihn trifft. Melder zu sein war mein Glück. Weil ich ständig in Bewegung war, bot ich kein Ziel. Die Kameraden dagegen, die vorn an der Maschinenpistole saßen, die hatten Pech. Ich war der Einzige aus meinem alten Zug, der überlebte.” Nachdem ich es ins Stadtzentrum geschafft und bei der Unke geklingelt hatte, schob ich das Rad in den Hausflur und lief die drei Stockwerke hoch. Oben angekommen drückte ich die Klingel. 1x kurz, 1x lang. “Die Tür ist offen!” hörte ich das Näseln der Unke. Ihre Nasenscheidewand war vom jahrelangen Sniefen porös geworden. “Komm rein.” Sie saß am Wohnzimmertisch, der übersät war mit Zigarettenfiltern, Aluminiumfolie und anderen Utensilien. Ich ließ mich keuchend in den Ohrensessel fallen, ein gemütliches Altertümchen, das sie auf dem Flohmarkt erstanden hatte, als sie noch clean und ansehnlich gewesen war. Keine Schönheit, aber wild, eine Art Büro-Janis Joplin. “Willst du dich was frisch machen..?” fragte sie. Es dauerte, bis mir aufging, wie sie das meinte. Es bedeutete: Junge, ich streu dir erstmal ne Line. Zieh das erst mal weg, komm erst mal zu dir, und dann sehen wir weiter. “Mann.. du schwitzt ja wie ein Schwein..”, nuschelte sie und reichte eine Illustrierte rüber, auf der etwas Pulver zu einer kleinen braunen Pyramide aufgeschichtet war. Daneben lag der übliche McDonalds-Strohhalm. “In zehn Minuten musst du dich aber vom Acker machen…” Ich schnupfte die Portion weg, die sie mir auf der Zeitschrift rübergereicht hatte, und blinzelte zu ihr rüber. Ihre Augen waren zugefallen, der Mund stand offen. Sie befand sich im Dämmerschlaf Sudden death. Heroin, feucht geworden vom Schleim, sickerte als brauner Rotz aus ihrer Nase. Sie war breit wie tausend Russen. Als sie anfing leise zu schnorcheln, nahm ich das Holzbrett ins Visier, das vor ihr auf dem Tisch lag. Den Hügel Pulver darauf schätzte ich auf fünfzig Gramm. Ich beugte mich leise über den Tisch und schnupfte weg, was auf der Schnelle reinging. Ich hatte Gänsehaut, mir klebte Pulver an der Nasenspitze, mir wurde kotzübel, ich war überglücklich. Ich lehnte mich zurück. Solche Momente waren an der Front rar gesät. Vom nahen Busbahnhof hörte ich das Surren der startenden Oberleitungsbusse, Geschrei von Teenagern. Ich schielte immer noch auf das Holzbrett. Ich saß da und starrte den Pulverhügel an, Terrain, von dem es noch mehr zu erobern galt. “Wie viel?” hörte die Unke plötzlich murmeln. “Was..?” “Wie viel willst du?” Aufgeschreckt kramte ich die Geldscheine aus der Hosentasche. So plötzlich, wie sie weggesackt war, war sie auch wieder zu sich gekommen. “Zweihundert”, sagte ich. Ich wusste nicht, was sie mitbekommen hatte und was nicht. Mein Herz schlug wie verrückt. Auf dem Heimweg legte ich an der Florastrasse ein Stopp ein. Ich hatte kaum mein Rad abgeschlossen, schon riss Felix das Fenster auf. “Komm rauf, Alter..!” Ich wurde schon sehnsüchtig erwartet. Ich war überfällig. Das Geld, das ich bei der Unke gesetzt hatte, hatte ich zuvor in der WG eingesammelt. Zwei Jungs und ein Mädel, Anfang Zwanzig, auf dem Weg in die Sucht. Ich lieferte gut 1,4 Gramm ab. Für zwei Blaue. Was ein mieser Kurs. Die Unke war von ihrem Lieferanten beschissen worden, dann hatte sie mich beschissen, nun beschiss ich die Greenhorns von der Florastrasse. Es war eine einzige große Bescheisserei, nirgends Ende in Sicht. Ich zog Leine. Noch im Hausflur begegnete mir ein verschwitztes junges Ding, dem es nicht gut ging. Es hechelte die Stufen hoch, und drückte die Klingel. “Ist offen..!”
Ich bin mit den Kriegserzählungen meines Vaters aufgewachsen. 1944 gehörte er als 17jähriger zu Hitlers letztem Aufgebot. Und wie mein Vater als Melder hinter den feindlichen Linien agierte und dem Gemetzel an der Front ausweichen konnte, so ging ich der Einwegspritze aus dem Weg, der Maschinenpistole der Drogenszene. Ich rauchte und schniefte das Pulver in nicht haushaltsüblichen Mengen, injizierte es aber nicht ein einziges Mal, ich verweigerte mich der MP. Ich agierte wie Vater in geschützter zweiter Reihe.
Zwanzigster Platz: „Aber wir“, Birgit Birnbacher Ich weiß nicht, ob das Rotz ist oder Blut oder Spucke, was dir da aus dem Gesicht kommt. Ich seh nur dicke Tropfen auf dem Pflaster unter deinem vornübergebeugten Gesicht, Tropfen, die nicht zerlaufen dort unten, die fest sind, stehen, wie Honig, aber schwarz. Noch ist es nicht hell geworden. Ich bin ratlos und fahr dir, weil mir nur das einfällt, mit der Hand unter deinen Schal hinein, in den Nacken, was normalerweise unpassend wär, weil wir Mannfraukumpel sind, aber dann stimmt es doch auch wieder –situationsangepasst. Ich frag mich, warum ich das tu, und überhaupt, warum ich so blöd dasteh, hinter dir und mit der Hand in deinem Schal, während du spuckst und schnaufst. Das ist wegen dem Stoppen, denk ich, das sagt man doch immer so: was Kaltes hinten drauf, wenn man blutet. Ist sowieso so eine kalte Nacht. Wären wir in der Bar geblieben, da hätten wir es warm und es wär nichts passiert. Aber das ist zu spät jetzt, denn die Tropfen werden dicker und die Abstände, in denen sie fallen, kürzer, und das mit dem Kalten, das hilft überhaupt nicht. Während du dich an der Mauer abstützt und schnaufst und heulst (zum zweiten Mal heute), denk ich, das ist wohl eher zum Stoppen von Nasenbluten gedacht, und weniger für dein Bluten, also das Bluten, wenn einer eins auf die Fresse kriegt, aber voll. Sowas hab ich noch nie gesehen, und sicher, ganz sicher, nie vorher gehört. Wie das klingt, wenn einer eins mit der Faust kriegt, in die Mitte vom Gesicht, zwischen Nase und Mund hinein. Die nackte Nora, also unser Thema von vorhin in der Bar, wenn das das Konzept ist vom „Haus 25“, okay, das ist das eine. Ich brauch ja nicht immer so zu tun, du hast ja Recht. Ich brauch mich da gar nicht so moralapostelmäßig aufspielen, das stimmt. Aber das hier – das ist echt zu viel. Wie die das machen in den Filmen, frag ich mich, während du etwas ausspuckst, von dem ich hoffe, dass es kein Zahn ist, wie die das also machen, wenn da einer dazwischen geht. Naja aber die rechnen schon damit, dass da gleich was passiert. Aber hier, in der Bergstraße, zwischen der Karlsbar und dem Bergerbeisl, da rechnet kein Mensch damit, dass es gleich knatscht wie wenn einer in Kies steigt. Ich weiß schon, warum ich diesen Gewaltscheiß so hasse. Und überhaupt diese Nacht, dein Geschwafel über den Havel, mit dem alles angefangen hat, und dass du dann eh immer nur redest und nie was tust, und die nackte Nora ist ja sowieso. Ist mir doch egal, ob das zum Konzept gehört. Früher am Abend bestellen wir zwei Bier und du sagst, dass du ein Thema hast, dein Thema ist der Bettler von vor deiner Hausecke, er heißt Havel. Aber vorher, sagst du, musst du mich kurz was fragen: Also wie ich da so wär, also wegen dem „Haus 25“. Weil die Nora, die hätte das eben gern, dass ihr zusammen da hin geht, sagst du schulterzuckend. Und dass eben da alle nackt sind, also nicht kommunenmäßig nackt und dass es da überhaupt nicht um Sex geht, und auch nicht um Wohnen und auf Dauer und so, sondern nur darum eben, dass alle nackt sind und Bier trinken und nicht wegen sonst was, nur deswegen. Und ich frag, sie auch, und du schaust beleidigt den Bierdeckel an und sagst, klar, sie auch, das ist ja das Konzept. Aber angefangen hat es mit dem eigentlichen Thema, dem Havel. Noch bevor ich in dieser Nacht überhaupt in den Schuhen steh, hast du nasse Augen und redest vom Havel: Dass der Havel schon ewig da ist, dass der zuhause sechs Kinder, dass du ihm immer nachts das Treppenhaus, aber die Berger vom zweiten Stock, dass der auf Styropor sitzt wegen den Hämorrhoiden, dass der nur Tee und keinen Kaffee, dass der gern zu dir, aber nie will, und dass der eben jetzt, aber das weiß ich schon aus der Zeitung und vom Telefon, abgebrannt ist der ganze Platz, der Schlafplatz, Wohnplatz und Musizierplatz, das ganze, wie sie bei uns in der Stadt sagen, „Bettlerlager“. Dass das angezündet worden ist, dass alles gebrannt hat und alles hin und verkohlt ist, alles total kaputt. Und den Schluss, das Alles total kaputt, sagst du gleich zwei Mal hintereinander, bleibst sogar stehen dabei, lässt die Arme hängen dabei und schaust mir gerade ins Gesicht. Und dass der Havel seitdem nicht mehr, und du weißt nicht wo, hast auch in den Nebenstraßen, hast auch in Schallmoos, aber nichts, auch keine Spuren. Wir könnten jetzt suchen, sagst du, und ich sage genau, und wir sind entschlossen, wollen überall suchen, die ganze Nacht, zwei Straßen lang, zwei Zigaretten später auch noch, wild entschlossen alles absuchen, mit Lampen zur Not, bis wir ihn finden, den Havel, und dann, dann fällt uns schon. Oder rächen! Vielleicht sollen wir ihn rächen, und die Familie, der hat sechs Kinder, der Havel. Dann kommt eine sms von Nora, und sie ist spontan im „Haus 25“ und ob du auch- aber du sagst, sicher nicht und wir reden und gehen, und du sagst nochmal, was der Unterschied zur Kommune und dass das ja nur für einzelne Abende und warum ich nur immer gleich so schau, dass du selber auch weißt, dass das irgendwie. Aber dass ich ja da sowieso ein Problem, also quasi auch mit der Offenheit und Lebensformen und überhaupt. Und dass die Nora da eben anders, also lebensformenmäßig. Offen halt. Und dann stehen wir schon vor der Bar, und wo wir jetzt schon mal da sind, gehen wir auch rein. Wir bestellen zwei Bier, und du sagst, aber nochmal wegen dem Havel, und dass man da einfach mehr machen, und ich sage wie, und du sagst, einfach so, und ich sage, wie, und du sagst, Aktionen, es gehören einfach mehr Aktionen gesetzt. Das kommt auch langsam, das weißt du, also ins Bewusstsein von allen, quasi. Da brauchst du ja nur mich nehmen oder die Tina oder den Breitenfelder Barmann oder den von der Karlsbar. Jeder den du kennst, will die Schweine erwischen, die das angezündet haben. Und die Nora sowieso, und die vom „Haus 25“, weil, das sagt die Nora, die sind voll okay, das sind Hippies. Die sind da dagegen, gegen so einen, rein lebensformenmäßig passt das denen überhaupt nicht in den Kram, wenn da einer so anzündmäßig daherkommt, das ist doch total daneben, das ist sowieso voll außer jeder dings. Und überhaupt, das weiß doch jeder, dass jetzt dann, dass wir da was, dass wir morgen schon, dass wir eigentlich heute noch. Wir bestellen zwei Bier und ich sag, was das überhaupt für ein Name ist, „Haus 25“, und du sagst, pfff, und ich sage, ob das bei dir überhaupt nervenmäßig, wegen früher auch, und ob die Nora das, und du sagst, ach was, und ich sag, und- gehst du mit, und du, nur mal so zum schauen und wegen ihr, weil ihr das halt so, und ich sage nichts mehr und du sagst, egal jetzt, weil so, wie ich schau, mir kann man ja sowieso nichts. Wir bestellen zwei kleine Bier, und du sagst, Drecksstadt, Rattenloch, Provinznazis, braune Suppe, Antiziganisten, Dreckschweine. Wenn schon die Armen einfach ver, wer so überhaupt noch leben und das, bei dem wie es uns. Ich sag, dass die sowieso ausgrenzen, wo es nur, und von denen geht das aus, immer die Gleichen, dass die noch einer wählt. Und du sagst „Zaungast“ zu mir, ich bin ja auch nur so ein Zaungast, anstatt dass ich was, steh ich da und schau blöd, schau auch nur, wie sie einen anzünden, den Havel zum Beispiel anzünden, ob ich dann auch steh und schau. Und ich sag, dass ich einen Scheiß schau. Nie schau ich. Aber dann fällt mir ein, dass ich doch schau, vom Fahrrad aus, wenn die Geschäftsleute in der Linzergasse die Bettler verjagen und vertreiben, ihnen die Fäuste in den Anzügen nachschütteln. Anzugtragen und Fäuste schütteln, das geht bei uns in der Stadt gut zusammen, seit das mit den Bettlern ist, seit Havel und seine Leute, oder auch nicht seine Leute, hier sind und da sitzen, wo andere, die in den Anzügen, lieber den Blumenschmuck und die Aufsteller für die Hundegassisäcke hätten. Dass ich also doch schau, fällt mir ein, wenn sie ihnen lautstark Worte nachbrüllen, die niemand wiederholen will, und mit der Zornader auf der Stirn und der Spucke vorm Mund schreien, dass die weg sollen, dann schau ich. Du sagst, dass wir alle aufhören sollen zu schauen, dass wir was machen, dass wir Aktionen, dass man die, die sowas tun, dass man die ja eigentlich selber, dass es dir langsam einfach mal, wenn man nur wüsste wer. Und ich sage, ja, wenn man das nur wüsste, und dass wir das schon könnten, also dass man das schon könnte, irgendwas machen, also mit Aktionen, konkret. Und dass man da eben jetzt dann auch mal aktiv, also mit anderen, organisiert. Im Kollektiv also, wozu kennt man denn die ganzen Leute von der Uni, wozu geht man denn auf deren Demos, wenn die dann nicht auf die unseren gingen, und eben. Und sich versammeln auch, sagst du, man müsste sich überhaupt einmal mehr versammeln wieder. Wir bestellen zwei kleine Bier, und du sagst, ach was, ich nehm ein Großes und ich nehm auch noch ein Großes, und du sagst, dass das mit den Nackten dich auch deswegen so, rein eifersuchtsmäßig auch, wenn da jeder dann die Nora, also jeder von den anderen Typen auch. Und ich sag, naja, dass die ja dich auch, und du sagst: ach, und ich sag, na dann nicht, und du sagst, das ist doch ganz was anderes. Draußen steht der Nachtnebel und wir rauchen in die Luft und gehen nebeneinander. Mal stößt du mich an und mal ich dich oder bist es immer du. Du sagst, dass der Havel ja selber ein voll Guter, also Familienvater. Wenn den mal einer fragt, der ist sowieso bereit, der gibt auch noch sein Letztes. Zum Zigarettenanzünden bleiben wir stehen, und als wir wieder in Bewegung sind, sagst du, wenn den einer fragt, den Havel, der hilft. Da bist du dir einfach, das siehst du irgendwo auch. Das weißt du. Der hilft auch noch denen, die ihm jetzt in den Becher spucken, der Havel. Und ich sag, du kennst den doch gar nicht richtig. Und wir biegen in die Glockengasse ein, zwei Ecken vorm „Havel Eck“, und du sagst, scheiße, und ich sag, das ist doch. Und du sagst, das gibt’s nicht. Und ich seh Nora – jetzt deutlich, seh auch die zwei Hippietypen, seh sie in der Mitte, seh ihren weißen Körper unter dem offenen Wintermantel, die weiße nackte Haut, ganz nackt, nur den Mantel darüber, und der ist echt offen. Die kleinen Brüste, die dunklen Haare, die glimmende Zigarette, den eingehakten Arm. Und ich sag, lass uns. Und du sagst, wart jetzt. Und Nora sagt, David, und du sagst, wie jetzt. Der Typ sagt, hey. Und du sagst, spinnst du? Und er sagt, wie jetzt. Und du sagst, Pisser. Und Nora sagt, he. Und ich sage, komm. Und Nora sagt, misch dich. Und du sagst, Schlampe. Und Nora sagt, was. Und der Typ sagt, wie bitte? Und ich sag, komm. Und du sagst, ist das jetzt deine Show für alle, oder was? Ich dachte nur privat und kleiner Rahmen und Hippies und wegen dir und lebensformenmäßig, und weil du das halt so. Und der Typ sagt: Jetzt heult er, und du heulst wirklich und ich zieh an deinem Ärmel und du schnippst die Kippe, es ist seine Richtung, und das nimmt er ernst, er rempelt dich an, du taumelst zurück. Du sagst, Scheißtypen, und einer holt aus und kracht dir mit der Faust ins Gesicht, und ich denk mir im Schock, das sind Hooliganhippies. Und jetzt stehst du, vornübergebeugt, die Tropfen fallen aufs Pflaster und du sagst: Scheißstadt, Dreckshippies, Kackloch, Nazibucht, hier ist doch alles total kaputt. Und du heulst, dass das ja überhaupt alles, dass wir mehr, soviel mehr machen, dass wir, aber wir. Ich schau die Straße runter. Nora geht immer noch eingehakt in der Mitte, und ich denk mir, dass sie von hinten aussieht wie angezogen, mit den Stiefeln und dem offenen Mantel. Und ich seh, dass sie torkelt und denk, dass ihr das morgen bestimmt leid tut, und sie dann bei dir anrufen und sich für den ganzen Lebensformenkram und das Weggehen ohne sich umzudrehen und überhaupt das alles, entschuldigen wird bei dir. Obwohl, das Weggehen ohne sich umzudrehen, das siehst du nicht, weil du dich nach vorn beugst und blutest, und das wiederum sieht sie nicht, weil sie sich ja nicht umdreht. Und ich schau ihr nicht mehr nach, schau dich von hinten an, steh da, mit der Hand in deinem Schal. Spür, dass meine Hand kalt ist und dein Hals heiß. Schau ratlos auf die Straße, erahne einen Zahn in deinem Spuckefleck und kram ein Taschentuch heraus. Steck ihn ein und zieh dich am Ärmel und sag: Komm, wir gehen zu dir, und wir gehen. An der Ecke sitzt einer auf Styropor, es ist Havel. Und du sagst: Havel, Havel, und Havel kennt sich nicht aus, warum dir ein Zahn fehlt, warum du so aussiehst, warum du weinst. Du gibst Havel schwankend die Hand und ziehst ihn hoch zu dir, du sagst, warum er nichts anhat, aber zumindest, denk ich, hat er einen Pullover an. Und bevor du anfängst, zu erzählen, denn du bist in Redelaune, wartest nur, bis du einem, am besten dem Havel, mit deinen nassen Augen alles sagen kannst, und der Havel wartet irritiert mit seinen offenen Augen auf das, was jetzt kommt, wenn du erstmal das Gleichgewicht in der Mitte und einen festen Stand hast, wenn du erstmal anfängst. Und bevor das soweit ist, sag ich: Komm, wir gehen heim, aber du lässt seine Hand nicht los und sagst: Havel, Havel, und ich lass deinen Ärmel nicht los und du heulst wieder und packst Havel am dünnen Pullover und rüttelst daran und heulst. Havel kennt sich nicht aus und legt dir eine Hand auf die Schulter und sucht wieder deine Augen, und dein Gesicht ist nass und verschmiert, und Havel sagt: Der Pullover ist gut, und nochmal: Der Pullover ist gut. Und du sagst, Havel, Havel, und einer von euch beiden sagt als Erster, dass alles kaputt ist, und dann wechselt ihr einander ab.
Einundzwanzigster Platz: „ Feindberührung“, Gabriele Witt „Doch, die kennst du, Chess, das ist die Folge, in der die Kinder alle einen Dollar nach Afghanistan schicken und dafür eine Ziege kriegen.“ Chess zuckt die Achseln, dabei kennt er die Folge, das weiß ich genau. Ist Jahre her, aber ich kann mich noch erinnern, wie wir vorm Fernseher saßen und lachten und Bier verschütteten. „Weißt du das nicht mehr, Chess? Wie wir über den Basketballkorb gelacht haben?“ Chess schüttelt den Kopf und sieht auf die Uhr. Wir müssen rein, unsere Schicht fängt gleich an. „Die Kinder werfen den Ball in den Korb, und grade als er drin ist, kommt ein Flieger vorbei und bombt ihn weg, samt Korb.“ Ein Wurf, und mein leerer Kaffeebecher landet im Müll. „Bam!“ Ich hebe die Hand, aber Chess schlägt nicht ein. „Also, Korb weg, Ball weg, die Kinder sind richtig mies drauf, aber dann laufen sie rüber zum Kino, um sich einen Film anzugucken. Klingelt da was?“ Chess verzieht keine Miene und hält mir die Tür auf; drinnen ist es angenehm kühl. „Und als sie grade reingehen wollen, wird auch das Kino plattgemacht, und die Kinder sind doppelt mies drauf, und dann…“ Chess bleibt stehen. „Halt die Klappe, Eric. Kinder und Bomben, Herrgott nochmal.“ „Komm schon, Chess“, sage ich und boxe ihm gegen die Schulter. „Das ist South Park. Zeichentrick, Mann!“ Chess stößt die nächste Tür auf und geht weiter, ohne sich umzudrehen. Früher hätte er gewartet. Hätte gelacht. Stattdessen wartest du, Kenny, aber lachen tust du auch nicht. Wir setzen uns auf unsere Plätze, und du bist schon da. Ob du willst oder nicht, du bist in jeder Folge dabei. Ich sehe dich. Jeden Tag sehe ich dich und zwischen uns nicht mehr als Glas. Als würdest du im Fernsehen laufen, wir schalten dich ein, schalten dich aus. Du holst deine Ziegen aus dem Stall, kochst dein Lamm mit gelben Erbsen, wäschst Hände und Gesicht und kniest dich draußen in den Dreck. Die Sonne brennt dir ins Genick, aber du bleibst liegen und glaubst, all die Gebete würden helfen. Sieh dich doch um. Deine Welt ist Staub und stumm, jede Farbe sieht aus wie ihr eigener Knochen. Ist das nicht genug? Mich erinnert das an Opas Haus, an die sommerbleiche, öde Gemütlichkeit am Saum von Carson City. Hartgetretener warmer Sand, Kieselsteine auf leere Konserven, ein Splitter im Finger und die Veranda, wenn die Sonne tiefsteht. Ich war elf, als er starb. Auf dasselbe Alter schätzt Chess deinen Sohn, Kenny. Er schwört darauf, dass es Fußball ist, was ihr da spielt, abends hinter dem Haus. Der Ball ist ockergelb und vor der Wand stehen zwei Kanister. Das ist das einzige Tor, deshalb schießt ihr beide darauf. Vielleicht hat Chess recht, und es ist Fußball. Vielleicht spielt ihr beide im selben Team. Danach esst ihr Datteln und Bananen und du spielst auf deiner dürren Gitarre. Ich wüsste gern, wie das klingt. Vielleicht hat Chess recht, und du bist gar kein Terrorist. Wahrscheinlich hat deine Frau dich einfach sitzengelassen. Jemand tippt mir auf die Schulter, löst mich ab. Schichtwechsel, ich fahre nach Hause, Chess will keinen Kaffee mehr, nicht einmal Bier. Zum Abschied hebt er die Hand und startet den Wagen. Ich sage dir gute Nacht, Kenny, und du legst dich zu Bett, direkt unter meiner Schädeldecke. Deine Stimme ist die Tinte, mit der mein Kopf mir schreibt, deine Sprache Rauch und hohler Gaumen. Chess behauptet, er könne inzwischen ein Wort vom andern unterscheiden. Er weiß auch, wie man deinen Namen spricht. Er kann nicht mehr schlafen. Ich schalte den Fernseher ein, mache South Park an. Als ich zur nächsten Nachtschicht komme, wartet Chess draußen auf mich, wie immer. Die eingesunkenen Wangen, das graue Gesicht; er sieht aus, als warte er seit Jahren. „Kenny hatte Besuch“, sagt er anstelle einer Begrüßung; seine Stimme klingt dumpf. „Das bedeutet gar nichts“, sage ich, und kaue auf meiner Zigarette. „Wie die letzten Male.“ Chess sieht mich mit trüben Augen an. „Da hat es ja auch nichts bedeutet, sechs Mal nichts.“ Sein Kaffeebecher zittert. Ich habe sechs immer für eine kleine Zahl gehalten. „Vielleicht müssen wir ja bloß eine Ziege entschärfen“, sage ich, aber Chess lacht nicht. „Du weißt schon, Chess.“ Ich nehme ihm den Kaffeebecher aus der Hand. „Wie in der Folge, in der die Kinder die afghanische Ziege kriegen.“ „Kenny hat auch Kinder“, sagt Chess. „Eins“, sage ich, und lege den Kopf in den Nacken. „Ein Kind.“ Der Himmel so ausgehöhlt wie Chess` Gesicht. Vielleicht gibt es gar keine kleinen Zahlen. Chess folgt meinem Blick. „Was siehst du, Eric?“ „Dass die Sterne vielleicht noch rauskommen.“ Der Kaffee auf meiner Zunge ist nicht mal lauwarm, Chess muss schon eine ganze Weile hier stehen. Ich kippe den letzten Schluck hinunter und trete die Kippe mit der Ferse aus. „Na los, Chess. Reißen wir den verdammten Himmel auf.“ Die Tageszeiten geraten durcheinander. Es ist hell, als wir dich wiedersehen, und du sitzt mit einem Klappstuhl auf dem Hügel. Dein Haus steht im Tal wie ein Sandkuchen. Ich weiß es, Kenny, du bist dort, um eine Entscheidung zu treffen. Ich hoffe, es geht um die Ziegen. Gleich hinter dir steht dein Sohn im roten Hemd, rot wie die Erde im Valley of Fire. Dein Sohn wird das Valley wohl nie betreten, und meiner vielleicht auch nicht, dabei sind es von hier aus nur 50 Meilen. Ich wollte es ihm zeigen, dem Jungen, aber Hannah hat ihn in den Van gesetzt und mitgenommen, vor Jahren schon. Deinen setzt du auf ein Maultier und gibst dem Vieh einen Klaps. Der Junge wird immer kleiner, ein Punkt am Horizont. Ich weiß, wie das ist. Vorm Ziegenstall drückst du dein Telefon ans Ohr. Deine Stimme ernst und knapp und anders als sonst. Sie zittert. Chess kneift die Lippen zusammen. Du öffnest die Tür, tauchst in den Stall. Ein paar Ziegen laufen voraus, du schiebst eine Schubkarre ins Freie. Was du da hast, frage ich Chess, und er beugt sich vor. „Sieht aus wie eine Ladung Waffen. Gewehre, irgendwelche Kartons. Munition vielleicht.“ Das war die ganze Zeit im Stall? Wieso kommst du jetzt damit, Kenny, Waffen? In einer Schubkarre? Was ist mit deinem Jungen? Chess sieht mich aus halben Augen an. „Du bist Vater, Eric, du weißt, wie das ist.“ Schreib einen Brief, immer wieder hat Chess damit angefangen, einen Brief an deinen Sohn, etwas zum Anfassen. Ich schrieb; von Nevada und dem Fliegen und dem Valley of Fire. Von den Sommern bei Opa in Carson City. Es dauerte Wochen, bis eine Antwort kam. Nicht von dem Jungen, sondern von Hannah. Mein Sohn sei zu jung, schrieb sie. Zu jung für meine Briefe, für jemanden wie mich. Sie werde ihm nicht vormachen, ich sei Soldat. Ich schickte ihr das Foto mit der Offiziersuniform; es kam zurück. So etwas hast du nicht, Kenny, einer wie du hat keine Uniform, aber dein Sohn hält dich gewiss für einen Helden, Terrorist oder nicht. Mit etwas Glück bist du nur Waffenschieber. Chess meint, wir reißen den Himmel auf und finden es heraus. Er glaubt, du hast nicht nur sieben Leben, sondern mehr, aber er selbst, sagt er, habe nur eins. Ein klappriger Jeep biegt um die Ecke, hält vor deiner Schubkarre an. Ein Mann springt raus und lädt alles hinten rein, Gewehre und Kartons. Chess beobachtet euch mit bleicher Faust. Mein Gaumen fühlt sich an wie Schmirgelpapier. Steig nicht in den Jeep, Kenny. Geh zurück zu deinen Ziegen, setz dich auf deinen Klappstuhl, schlaf auf deinem Dach; hast du nicht jeden Tag Carson City? Du steigst auf den Beifahrersitz. Chess schlägt mit der flachen Hand auf die Lehne; ich hänge mich an deinen Jeep. Du trägst mich so lange über die Straßen, dass mein Knie schon zittert, gleich muss es so weit sein, gleich tippt mir jemand auf die Schulter, löst mich ab. Stattdessen der Abschussbefehl. Feuer frei. „Das ist zu früh“, sagt Chess und wirft den Kopf zu mir herum, aber mein Nacken ist eingerastet, ich starre weiter auf den Jeep. Aus dem Kopfhörer schießt mir eine Stimme ins Ohr, weist uns zurecht. Dass es nicht zu früh sei, sondern zu spät. Dass deine Fahrt eine Finte war, Kenny, ein Ablenkungsmanöver, die Handvoll Waffen nur ein Köder. Wir haben ihn geschluckt, sind dir die ganze Zeit nach Süden gefolgt, und du schießt uns im Norden in den Rücken. Ein Sprengsatz im Asphalt, unser Konvoi getroffen, ein Tanklaster in Flammen, zwölf von uns tot. Du warst doch hier, Kenny, bist es noch. Wie kann der Sprengsatz von dir kommen? Das Maultier, antwortet der Kopfhörer, die Satteltaschen. Du hast deinen Sohn geschickt. Chess atmet schwer durch die Nase, die Lippen sind festgezurrt. Er bewegt eine Hand, markiert mit dem Laser deinen Jeep. Das Fadenkreuz klebt auf dem Dach. Waffensystem bereit. Meine Faust spannt sich um den Joystick. Ich drücke auf den Knopf. Zähle bis sechzehn. Mehr braucht es nicht, damit die Rakete einschlägt. Damit deine Welt ihren Staub in den hohlen Himmel spuckt. Alles stumm. Satt und träge kriecht der Qualm von deinem Körper. Auf Wiedersehen, Kenny. Du stirbst zum siebten Mal. Zum siebten Mal sendet die Kommandozentrale ihre Glückwünsche zu uns ins Cockpit. Chess nimmt den Kopfhörer ab. Legt ihn behutsam auf die Konsole, als dürfe man nichts verschütten. Steht auf und geht, ohne ein Wort. Ein Dutzend Bildschirme schnurren mich an. Die Kameras, die Sensoren, dafür ist Chess zuständig. Ohne ihn fliege ich blind. Die Augen, haben sie damals gesagt, damit wirst du kein Pilot. Bei mir war es Kurzsichtigkeit; bei Chess das Herz. Jemand kommt und tippt mir auf die Schulter. Feierabend, ein Schritt vor die Tür, Nevada blickt mich schweigend an. Hier ist es noch dunkel. Das Cockpit drückt seine Mauern in mein Rückgrat. Ich sehe in den Himmel und finde ihn leer. Am anderen Ende der Welt, irgendwo im pakistanischen Grenzgebiet, gleitet mein Vogel zurück in sein Nest. Genau in diesem Augenblick. Für dich ist es eine Drohne, Kenny, ein schäbiges Wort. Drohne klingt nach Automat, nach Automatik, nach Autopilot. Auf dem Highway eine Zigarette und deine Tintenstimme, sieh auf die Straße, Eric, sieh auf die Straße. Ich sehe dich, Kenny, deine Köpfe wachsen nach. Dieser hier ist Nummer acht. Mit dem hast du gestern auf der Straße den Reifen abgebrannt, den Sprengsatz in den Asphalt gegraben. Hast Sand darauf geschaufelt und dich mit dem Maultier aus dem Staub gemacht. Wie viele Leben hast du noch, Kenny? Dein achtes ist keine zwölf Jahre alt. Hat unsere Jungs auf dem Gewissen. Aber ich bin noch hier. Guten Morgen, Pakistan. Guten Morgen, Kenny. Ob du willst oder nicht, du bist in jeder Folge dabei. Ich warte. Zur Beerdigung deines Vaters wirst du kommen. Chess kommt nicht, der Arzt hat ihn krankgeschrieben. Er darf erst wieder ins Cockpit, wenn er anfängt zu schlafen, mehr als vier Stunden jede Nacht. Eine lange Schicht, Kenny, eine verdammt lange Schicht. Wir töten dich zum achten Mal. Du wirst schneller. Als ich das Cockpit verlasse und ins Auto steige, flüsterst du schon hinter meiner Stirn. Ich rufe Chess an und sage ihm, dass du es wusstest. Du wusstest, es ist Krieg. Du bist Soldat, Kenny. Egal, wie alt du bist. „Wessen Soldat?“, fragt Chess. Der Motor dreht auf, ich schalte hoch. „Er hat uns angegriffen“, schreie ich, „der miese kleine Terrorist!“ Chess schüttelt den Kopf, ich kann hören, wie seine Haare am Kunststoff reiben. „Er hat nur getan, was sein Vater wollte, Eric.“ „Aber Chess!“ Ich wechsle die Spur und überhole einen Jeep. „Er hat sie verdammt nochmal in die Luft gesprengt, zwölf von unseren Jungs!“ Ob ich wisse, wie Blut riecht, fragt Chess, die Stimme verschlissen. Ob ich Blut in der Nase hätte und Dreck in den Adern und eine Naht im Trommelfell. Ja, vielleicht habe ich kein Foto von mir und meinen Jungs vor einem Black Hawk, Kenny. Vielleicht habe ich nicht einmal Jungs und keine Ahnung, wer meine Predator auf der anderen Seite der Welt in den Hangar schiebt. Vielleicht haben sie recht, vielleicht bin ich das, ein Pilot mit Beton unter den Sohlen und Fernbedienung in der Hand. Aber wenn wir mehr Soldaten hätten wie mich, und wie Chess, dann müsste keine Mutter mehr Angst vor dem Postboten haben, nur weil in irgendeinem Teil der Welt gerade Krieg ist. „Das weißt du doch, Chess! Und weißt du, was sie am Ende der Folge sagen? ‚Wenn du dein Team nicht anfeuern willst, dann schieb deinen Arsch aus dem Stadion‘!“ „Das ist South Park“, sagt Chess. „Die meinen das nicht…“ Ein Schild rast vorbei, das wäre meine Ausfahrt gewesen. Wo siehst du hin, Eric? Im Hörer rauscht es lauter als auf dem Highway um mich herum. „Hast du was gesagt, Chess?“ Ich drücke das Telefon fester ans Ohr. „Chess?“ Es knistert, die Leitung wird wieder besser. „Sag mal, Eric, auf wie alt schätzt du eigentlich deinen Sohn?“ Chess hätte gelacht, Kenny, früher, du weißt, was ich meine, einer wie du. Ich kippe die Zigarettenpackung über dem Beifahrersitz aus und stecke mir eine in den Mund. „Auf jeden Fall ist er zu jung, um seinen Vater zu begraben.“ Ich trete aufs Gas. „Das sagst du doch selbst immer, Kenny-“ „Chess.“ Die Leitung knackt. „Mein Name ist Chess.“ Ich schnalze mit der Zunge. „Du sagst, Helden sterben einen frühen Tod.“ „Das tun sie auch, Eric. Aber dafür hören sie dann wenigstens auch auf zu atmen.“
Zweiundzwanzigster Platz: „Davongekommen“, Christoph Schröder Fritschi gleitet er durch die städtischen Ströme. Er treibt den Umsatz hoch wie ein Zocker am Groschengrab die Risikoleiter, aber er stürzt nicht ab. Kleine und große Gewinne kassiert er, muss nur abwarten und sie einfangen. Mit träger Aufmerksamkeit lässt er sich die Bismarckstraße hochschwemmen, hüpft in Lücken auf Nachbarspuren, ein Tippen ans Pedal aktiviert die Schnellkraft der Limousine. Die Oper, Betonmonolith, ist lange schon dunkel, der Halteplatz am Sophie-Charlotte voll besetzt. Um diese Zeit, spätabends an einem Wochentag, sind sie viele, zu viele; im 30-Sekunden-Rhythmus flitzen die Kutschen den achtspurigen Fahrdamm entlang, zischen über bereits rot geschaltete Ampeln, um einen winzigen Vorteil zu ergattern, falls an der nächsten Ecke ein Fahrgast winkt, den man nicht dem Kollegen überlassen möchte. Aber heute bleibt Fritschi immun gegen den Stress; fährt den Kaiserdamm hinauf, wendet vorm Theo und rutscht die andere Seite wieder hinab. Einer winkt am Bordstein. So sieht Kutscherglück aus: Immer wieder eine Anschlusspartie zu fangen, Zeit in Geld zu verwandeln ohne diese Absacker von einer halben, Dreiviertelstunde an Halteplätzen. Ihm, Fritschi, füllen sich die Taschen ganz von alleine, eine 20-Euro-Tour von der Luftbrücke nach Südende wird ihm von einer alten Frau Mann mit einem Zehner Trinkgeld honoriert; vielleicht, weil er ihr einfach zuhörte, freundlich nachfragte als sie von der Nachkriegszeit in Berlin erzählt. Er ist ein guter Taxifahrer. Stahlharter Profi wenn’s sein, aber auch Versteher und Kümmerer zur rechten Zeit. Doch dann reißt die Strähne ab. Zermürbender Stillstand; bis unter den den Wagenhimmel staut sich Energie, verwandelt sich in Hippeligkeit. Der Funk quäkt und dringt dann mit seinen drei immergleichen Floskeln bis in die letzte Hirnwindung und hat doch keinen Auftrag für ihn. Niemand, scheint es, will um diese Zeit in Schöneberg noch Taxi fahren und dennoch warten acht Droschken auf Fahrgäste. Kutscher, denkt Fritschi, sind wie Tiere, die dem Geruch der Herde folgen – gleich, ob es dort etwas zu fressen gibt, wollen sie sich am Körper der anderen reiben, an der Haut ihrer Artgenossen wärmen, ihre Stoßstange spüren, den Dunst ihrer Motoren einatmen. Endlich, die Erlösung: Funkauftrag für Fritschi ist das Jägerstübchen in der Naumannstraße, dort wo viele der Schöneberger Fassaden noch immer jenes Graubraun tragen, das den Altbauvierteln der Frontstadt ihre trist-proletarische Atmosphäre verlieh. Hier haben Eckkneipen wie das Jägerstübchen überlebt, in denen die Ströme von Schultheiß und Engelhard nie zu versiegen schienen. Und doch wurden in den letzten Jahren mehr und mehr von ihnen trockengelegt; die Gäste müssen nun weitere Wege zu den wenigen noch verbliebenen Etablissements machen, und das ist Fritschis Geschäft als Nachtfahrer: Wem der Heimweg mit geschlossenem Bierkopf zu mühselig ist, weil die Füße ihm nicht mehr gehorchen, der läßt sich eine Droschke kommen. Fritschi zieht die schwere Decke, die hinter der Eingangstür als Windfang dient, zur Seite und ruft sein „Taxi“ in den Raum. Die Wirtin nickt verstehend hinter ihrem Zapfhahn und Fritschi zieht sich in den Daimler zurück; er kann auf das Kneipenambiente verzichten; die braun furnierten Möbel und Wände, die Wimpel und Zinnteller, die von den ewigen Rauchschwaden vergilbten Gardinen, das Krakeelen der Trinker, die ihren besoffenen Kumpan verabschieden. Die Wartezeit könnte er sich bereits versilbern lassen, indem er sogleich die Uhr einschaltet, aber er ist da anderer Auffassung als mancher Kollege: Vier Euro kostet die Anfahrt ohnehin, da will er den Fahrgästen nicht noch die zwei, drei Minuten berechnen, bis sie tatsächlich im Wagen sitzen. Die Tür der Bierschwemme öffnet sich, und ein Männerpaar schwankt hinaus; die beiden klammern sich aneinander und stützen sich gegenseitig. Sie stolpern auf die Taxe zu, die Fritschi quer auf den Bürgersteig geparkt hat; es sind in Jahrzehnten eingeschliffene Bewegungsabläufe, die sie auch in diesem Zustand der Volltrunkenheit noch die Wagentür finden lassen. Die beiden massigen Typen lösen sich voneinander, die eine Gestalt nimmt ihren Arm von der Schulter der anderen, schubst und stößt diese ins Auto und lallt Fritschi das Fahrziel zu: Bergfriedstraße sieben in Kreuzberg, am Wassertorplatz. Ein schnaufendes, krankes Tier hängt auf der Rückbank. Das billige lila Seidenhemd ist verrutscht und steht bis zur Brust offen. Schlimmstenfalls wird Fritschi diesen Brocken aus dem Wagen hieven müssen. Noch in der Naumannstraße knickt der schwere Rumpf zur Seite, die Augenlider klappen zu. „He, nicht einpennen!“ ruft Fritschi nach hinten, aber seine Stimme wirkt aufreizend auf den Dicken. „Wo fährste’n überhaupt lang?“, knurrt er, während er sich wieder aufrichtet: Is’ doch Scheiße hier …“ Es ist schon Nacht, der Lichtschein der Bogenlampen fliegt durch das Innere des Wagen. Fritschi betrachtet den Kopf des Fahrgastes im Rückspiegel: Die robuste Stirn glänzt schweißig, das Kinn ist zurückgesunken in die Hautlappen des Halses, kurze, graue Borsten sprießen auf den Wangen, dem runden Schädel; ein Rammbock sitzt da hinten, ein Kampfschwein, das auf seinen Einsatz wartet. „Alles klar, Chef, du bist ein cooler Typ“, versucht Fritschi ihn zu beruhigen; er ist angewiesen auf jeden Kunden, auch auf diese Knaben, die sich vollkübeln bis Oberkante Unterlippe und dann anfangen rumzuzicken. „Mutantenwege mögen wa nich“, tönt es von hinten. „Guck mal, das hier ist die Dudenstraße, das ist der allerkürzeste Weg, wir fliegen praktisch über die Stadt, Chef.“ Vom Rücksitz kommt keine Antwort mehr, dem Dicken ist der Borstenkopf diesmal in den Nacken gekippt, ein Röcheln entweicht dem klaffenden Mund. In der Bergfriedstraße zeigt der Taxameter 17,60 Euro. Fritschi steuert in eine Lücke vor einer Ausfahrt und dosiert den Tritt aufs Bremspedal so, dass der Kopf des Betrunkenen nach vorne pendelt; als der, geweckt durch den Ruck, die Augen aufschlägt, dreht Fritschi sich um und sagt den Fahrpreis an. „Det bezahl ick doch nich!“ „Dann muß ich die Polizei rufen.“ „Bist du’n Türke oder wat, du stinkst nach Knoblauch, du Strolch!“ Fritschi wendet sich nach vorne und greift nach dem Mikro. Ausgerechnet jetzt ist der Kanal dicht, ein Auftrag reiht sich an den anderen. „Zentrale für Taxe 3482“, versucht Fritschi sich dazwischenzuklemmen. „He, Türke.“ Fritschi zieht den hingehaltenen Zehn-Euroschein zwischen den dicken Fingern heraus. „Das reicht noch nicht.“ „Mehr ha’ck nich mehr, du bist doch Mutantenwege jefahr’n.“ So schwer wie er die Worte herausstößt, liegt er im Rücksitz. Fritschi erinnert sich einer Kutscherregel: Gelegentliche Verluste sind im Gewerbe unvermeidlich, aber gering zu halten; wirf nicht gute, weil noch verfügbare Zeit bereits verlorener, schlechter hinterher. Die restlichen sieben Euro sechzig schreibt er sich als Fehlfahrt auf und dann nichts wie weiter, Polizei bringt nichts. Er steigt aus, geht um den Wagen und reißt die hintere Tür auf, die Innenbeleuchtung springt an und wie er von oben auf den Dicken herabsieht, ist ihm, als steckte in dessen Brusttasche noch ein Zwanzig-Euroschein. „Raus jetzt, Mann, ich will weiter“, preßt er hervor, aber der Betrunkene glotzt hinter halb verhangenen Lidern bewegungslos ins Leere. Einzig seine Unterlippe schiebt sich waagerecht hin und her. „Mann, raus!“ Fritschi rüttelt an der massigen Schulter, er ekelt sich vor der Feuchtigkeit des Stoffes. So über den Fahrgast gebeugt, sieht er deutlich den grünen Zwanzig-Euroschein. „Du hast doch hier noch Kohle“, zischt er und unwillkürlich zuckt seine Hand in Richtung der Brusttasche – und zurück, denn der schwere Kopf fährt herum und läßt ein aggressives Schnauben los, die Pranke wischt unvermittelt in Fritschis Richtung, als wolle sie eine Wespe verjagen. Der Dicke faßt den Beifahrersitz und wälzt sich herum, schiebt seinen Rumpf nach vorne und zwängt seine Fettmasse durch die enge Tür. Aus sicherer Entfernung beobachtet Fritschi ihn. Er kann sich nicht lösen von der Empörung über den Betrüger, der sich da vollgefressen und vollgesoffen aus der Taxe quält; wenn er die Grünen ruft, nehmen sie die Personalien auf und lassen den Typ laufen, selbst, wenn sie sehen, dass er noch Geld hat. Betrug wird belohnt, nur gut, dass nicht mehr Leute das wissen. Und obwohl er selbst seinen Chef, die Steuer mit Schwarzfahrten anmeiert, gefundenes Geld einsteckt, brennt Wut in ihm, wünscht er sich eine Waffe in der Hand, um zu erleben wie diesem miesen Stück das Kinn herunterklappt vor Furcht um sein armseliges Leben und er mit zitternden Fingern den Zwanziger aus der Tasche nestelt. Das gewaltige Trumm Fett schwankt und stützt sich an der Kante des Wagendachs ab, und Fritschi wägt seine Chancen ab, dem Typen in die Fresse zu hauen, nach allen Regeln der Kunst. Ob er ihn auf den Boden kriegt, mit einem Tritt in den Magen? Der Dicke seinerseits ist noch nicht fertig mit Fritschi, er hat dessen Haß gespürt und aufgenommen und erwidert ihn nun. „Du Kanakensau!“ Die Wagentür knallt zu. In Fritschi regt sich sein Sicherheitsinstinkt, er fühlt Schweiß auf den Schultern und friert zugleich; er hat nicht zum ersten Mal die Sensibilität eines Betrunkenen unterschätzt, man denkt, sie seien stumpf und reduziert, wie ihre Körpersprache, aber tatsächlich ist es umgekehrt: Hyperempfindlich reagieren sie auf jeden Unterton, verbeißen sich darin. Der Betrunkene tapst einen Schritt auf Fritschi zu, noch gut zwei Meter ist er von ihm entfernt, und dann langt er in die Hosentasche. Dunkel wie es ist, erkennt Fritschi nicht, was der andere in der Hand hält, er sieht nur blitzendes Metall, und eine viehische Angst schickt ihm einen Stromstoß durch die Nervenbahnen, seine Muskeln spannen., Die Straße ist dunkel und menschenleer wie das Weltall, in dem die Leuchtschrift einer Kneipe von einem zwar bewohnten, aber unendlich fernen Planeten kündet; in solchen Straßen im Herzen der Stadt sind schon Taxifahrer ermordet worden, für 200 Euro Tageskasse oder aus Frust über einen verkorksten Abend, die abgehauene Alte, aus Bock auf Gewalt. Ein aufgerichteter Bär, so steht der Dicke Fritschi gegenüber, bereit ihn zu zerfleischen; ein Faustschlag würde ihm nicht mehr ausmachen als ein Mückenstich. Fritschi begreift, dass er hier nur noch verlieren kann. Er geht zentimeterweise rückwärts, um seinen Gegner nicht durch ein heftige Bewegung zu reizen und wie an einer Leine geführt, vollzieht der Borstenschädel Fritschis Gang mit, dreht sich dabei wacklig um die eigene Achse; Fritschi tastet sich um den Kofferraum; der Wagen zwischen sich und dem Dicken sichert ihn; mit zwei großen Sätzen springt er zur offenen Fahrertür und ins Auto hinein. Automatisch findet sein Daumen den Schalter der Zentralverriegelung, sie rastet ein. Eine Bewegung wird sichtbar im rechten Seitenfenster, ein herabfahrender Arm, und Metall ratscht über das Glas. Eine Kratzspur, und nun sieht Fritschi, dass die Waffe des anderen ein Schraubenzieher ist. Den der Dicke wieder hinabsausen läßt und dazu ein unmenschliches Brüllen ausstößt, während Fritschi den Zündschlüssel dreht und den Wählhebel in die Rückwärtsstellung haut. Ein dritter, gewaltiger Hieb verfehlt die Scheibe, weil der Wagen bereits nach hinten springt; dann greift Fritschi um das Lenkrad und zerrt daran, tritt das Gas durch, der Daimler schießt aus der Lücke hinaus. Ein Blick über die Schulter aus zwanzig, dreißig Metern Entfernung: Die Wucht der Stöße hat den schweren Körper ins Torkeln gebracht, gerade noch fängt er sich aus einer kippenden Schräge wieder ein. Fritschis Brust flattert über dem pochenden Herz. Polizei? Eine schnelle Entscheidung ist nötig. Bis die hier sind, ist der Typ weg. Gut, er könnte ihn verfolgen. Aber er wird in irgendeinem Hauseingang verschwinden, und die Bullen werden gelangweilt abwinken, erst einmal seine eigenen Papiere sehen wollen. Er läßt den Wagen weiterrollen. Und die Kratzer auf der Scheibe? Könnten irgendwelche Vandalen dem parkenden Auto beigebracht haben, wenn der Chef danach fragt. Sein Atem geht schwer. Er will ein Profi sein? Stümperhaft wie ein Anfänger hat er sich verhalten, warum hat er keine Kollegen zu Hilfe gerufen? Niemals hätte er diesen Bullen durch eine Berührung reizen dürfen – psychologische Grundregel. Und wenn er es schon getan hat: Warum hat er nicht draufgehauen, mit allem, was er hat, statt sich demütigen und davonjagen zu lassen wie ein Straßenköter? Sei froh, dass du selbst nichts abgekriegt hast, sagt eine Stimme in ihm; eine vernünftige, du hättest ein Ding über den Schädel verdient, du Vollidiot, und eine andere Stimme, die tiefer sitzt, ringt um eine Erwiderung und findet sie: Ein Schrei löst sich aus Fritschis Brust und füllt die Blechzelle; seine Arme tun etwas, was er ihnen nicht befohlen hat – sie schlagen um sich, seine flache Hand klatscht gegen die Scheibe, das Armaturenbrett, ein Schluchzen kämpft sich durch seine Kehle und schüttelt ihn, wirft ihn übers Lenkrad, wieder und wieder. Davongekommen.
Dreiundzwanzigster Platz: „Taitinger“, Agga Kastell Das Auto röhrt den Berg hinauf und bleibt mit einem Röcheln stehen. Ein Mann steigt aus und entnimmt eine Pappkiste mit schrumpeligen Kohlrabi, schwarz-braunen Bananen und einem matschigen Salatkopf. Er erklimmt die Stufen vor der Haustür und keucht dabei leise. Taitinger beobachtet den Mann durch das Fenster. Seine Frau steht neben ihm. „Oh nein, nicht schon wieder!“sagt sie. Und: „Ist der Brief vom Anwalt schon da?“ „Er hat das Einschreiben seit einer Woche.“ „Sprich doch noch mal mit ihm,“ schlägt seine Frau im bittenden Tonfall vor. „Ich habe keine Lust, mir durch eine geschlossene Tür die Kehle wund zu schreien,“ sagt Taitinger. Er stutzt, weil ihm etwas einfällt. Er grinst. Seine Frau kennt das Stutzen und das Grinsen. „Du machst doch keinen Blödsinn?“ sagt sie. „Ich habe Hunger,“ sagt Taitinger fröhlich und küsst seine Frau, die schon so einiges mitgemacht hat und sich deshalb zu Recht beunruhigt, beruhigend auf die Schläfe. „Taitinger, mach keinen Quatsch,“ flüstert sie in sein Ohr. „Taiti kai Katsch,“ kräht sein Sohn, der ihn aufmerksam beobachtet hat. Taitinger und seine Mitmachfrau haben das Haus vor vier Monaten gekauft und mit Hilfe seiner Freunde aus dem Motorradclub renoviert. Auch wenn seine Freunde nicht mehr an erster Stelle stehen – dort steht ein Dreikäsehoch und schreit ,Taiti‛, verweigert ihm das ,Papa‘ und hat zwischen den kleinen Fingern das Vaterherz – sind sie ihm weiterhin wichtig. Das Haus zu kaufen war auch wichtig. Er möchte, dass seine Familie abgesichert ist. Und so könnte alles wunderbar sein. Aber es gibt immer eine Schlange im Paradies, einen Wurm im Apfel, einen Tropfen Wermut im Jack Daniel‘s. Seine Schlange heißt Krollmann und wohnt im ersten Stock. Seine Lebensweise ist entnervend, sein Eigenbrötlertum selbst für einen Individualisten wie den Motorradrocker Taitinger zu versponnen und der Gestank aus seiner Wohnung verätzt Nasenhaare. Der Makler hat bei der Hausbegehung nicht an Krollmanns Tür geklingelt. „Sie werden mit diesem Mieter Schwierigkeiten haben,“ hat er gesagt. Trotzdem haben er und seine Frau beschlossen, das Haus zu kaufen. Er hat bei Krollmann geklingelt. Keiner hat aufgemacht. Er hat den Finger auf der Klingel gelassen, bis eine Stimme hinter der Tür ertönte. „Gehen Sie weg.“ „Ich bin ihr neuer Vermieter,“ sagte Taitinger höflich. „Ich wollte mich vorstellen.“ Es raschelte. Taitinger machte sich Hoffnungen, was gutes Benehmen bewirken kann, aber umsonst. „Sie müssen sich anmelden,“ sagte die Stimme. „Eine Woche vorher.“ Taitinger spürte, wie ihm vor Wut das Blut in die Füße lief. Er ließ die Faust gegen die Tür krachen. „Hiermit melde ich mich an. Für nächste Woche, und zwar für jeden einzelnen Tag,“ rief Taitinger, „damit wir sehen können, was an Renovierungsarbeiten ansteht.“ Er erhielt keine Antwort. Taitinger hat bei der Gemeinde angerufen, beim Ordnungs- und Gesundheitsamt und bei seinem Anwalt. Ohne Gerichtsbeschluss darf er nichts unternehmen. Taitinger ist wütend. Auf die Scheißpolitik, die Scheißanwälte, die Scheißwelt. Weil man der Scheißwelt schlecht ins Gesicht schreien kann, hat er Streit mit seiner Frau angefangen. Sie wollte doch unbedingt das Scheißhaus. Eine Woche später steht er vor Krollmanns Tür, noch steckt sein Blut im Kopf. Ausatmen, Taitinger, ausatmen. Die Tür geht auf! Der Mann vor ihm ist mittelgroß und grau. „Guten Morgen, Herr….?“ sagt Krollmann mit einer sehr kultivierten Stimme. „Taitinger,“ sagt Taitinger. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie meine Wohnung auf eigene Gefahr betreten.“ Taitinger nickt. In der Nähe gebildeter Menschen hat er sich nie wohl gefühlt. Gleichzeitig steht die Umgebung des kultiviert wirkenden Herr Krollmann in krassem Widerspruch zu allem, was sich Taitinger unter zivilisiert vorstellt. In den Räumen stapeln sich Sachen bis unter die Decke. Die Wände sind nicht auszumachen. Der Boden ist knöcheltief mit Dingen bedeckt. „Wie kann man nur so leben?“ entfährt es Taitinger. „Das geht Sie nichts an,“ sagt Krollmann. „Doch,“ sagt Taitinger. „Das ist gesundheitsschädlich. Es riecht wie auf einer Müllhalde.“ „Ich wohne seit zehn Jahren hier und lasse mir nicht vorschreiben, wie,“ sagt Krollmann. Mit dem Nichtbeachten von Vorschriften hat Taitinger Erfahrung. Der Widerstand gegen Regeln nötigt ihm Respekt ab. „Wir werden renovieren,“ sagt Taitinger. „Ich bin zufrieden so, wie es ist,“ sagt Krollmann. „Sie werden von mir hören,“ sagt Taitinger. „Davon bin ich überzeugt,“ sagt Krollmann. Als Taitinger nach Hause kommt – noch leben sie in einer Dreizimmermietwohnung – und seiner Frau davon erzählt, wird sie sauer. „Du hast dich doch nicht von dem Wichser einwickeln lassen?“ fragt sie. Er erschrickt. Schimpfwörter sind sonst nicht ihre Sache. „Legal können wir fast nichts tun,“ sagt er. „Äh,“ sagt seine Frau. „Seit wann stehst du auf legal?“ Er schnauft. Seine Frau, die ihm die schiefe Bahn abgewöhnt hat, die ihm sonst alles Krumme verbietet, was will sie von ihm? „Geh nochmal zum Anwalt, zum Amt und so weiter,“ sagt seine Frau. Ein paar Tage später weiß Taitinger, dass er nichts änder kann, solange Krollmann pünktlich seine Miete bezahlt. Und das tut das Sozialamt regelmäßig für ihn. Wegen des Gestanks kann er das Gesundheitsamt bemühen. Das Zauberwort ist ,Ermessensspielraum‘. Das heißt, wenn das Haus tagelang stinkt, der Beamte, der sich anmelden muss, zum Überprüfen kommt und Krollmann vorher ausgiebig lüftet, passiert nichts. Taitinger hat Biss und den braucht er jetzt auch, denn er muss in einen sauren Apfel beißen. Er, seine Mitmachfrau und das herzige Kind ziehen um. Taitinger lernt seine Nachbarn kennen. Die ältere Dame von gegenüber. Die Schulkinder. Den Porschefahrer, der jeden Morgen im Affenzahn vorbei prescht. Taitinger könnte zufrieden sein. Doch nach getanem Tagewerk steht er am Fenster und sieht den kultivierten, aber ungepflegten Krollmann. Seine Frau sagt, er soll mit ihm reden. Aber er hat keine Lust, sich vor dessen Tür die Lungen aus dem Leib zu brüllen, denn Krollmann macht nur auf, wenn er sich eine Woche vorher anmeldet. Am nächsten Tag bringt Taitinger ein Megaphon mit. Er springt die Treppe hinauf und positioniert sich vor der hässlichen Eingangstür. „Krollmann,“ ruft er, „haben Sie von den neuen Wärmedämmungsgesetzen gehört? Wir fangen nächste Woche damit an, die Außenfassade zu sanieren. Gleichzeitig werden die Fenster ausgewechselt. Diesmal sind Sie verpflichtet, uns in die Wohnung zu lassen.“ Taitinger schaltet das Megaphon aus. Er hört Krollmanns Stimme sehr gedämpft. „Für Sie immer noch HERR DOKTOR KROLLMANN.“ Das stimmt. Der Mann war Zahnarzt, und hat die Krankenkassen um hunderttausende Mark geprellt. Der Betrug wurde entdeckt, als auf den Euro umgestellt wurde. Er verlor seine Approbation, seine Praxis, sein Haus, sein Auto, seine Frau. Da ihm die Grundlage für sein altes Hobby, das Geldsammeln, entzogen wurde, sammelt er in seinem neuen Leben alles andere. Das erzählt Taitinger kopfschüttelnd seiner kartoffelnschälenden Frau in der Küche. „Tut er dir leid?“ fragt sie. „Ein bisschen schon,“ sagt Taitinger, der ohne die feste Hand seiner Mitmachfrau vielleicht auch als gescheiterte Existenz geendet hätte. „Trotzdem müssen wir ihn loswerden.“ Versonnen nimmt er eine mittelgroße Kartoffel in die Hand, wirft sie in die Luft, öffnet den Reißverschluss der Brusttasche seiner Latzhose und fängt sie damit auf. „Nochmal,“ kräht sein Sohn und er tut ihm den Gefallen. Am nächsten Abend steht Krollmanns Auto unverändert an seinem Platz. „Ist Krollmann heute nicht betteln gefahren?“ fragt er. „Er hat‘s versucht,“ sagt seine Frau. Ein Abschleppwagen kommt um die Ecke und hält vor dem Haus. Krollmann spricht mit dem Mechaniker. Der setzt sich in den Fahrersitz und dreht den Zündschlüssel. Der Motor heult auf. Keiner der beiden sieht, wie aus dem Auspuff etwas fliegt, das verdächtig einer Kartoffel gleicht. Der Motor läuft, der Abschleppwagen fährt davon. Seine Frau sieht Taitingers grinsendes Gesicht. „Pass bloß auf,“ sagt sie. Zwei Abende später holt Taitinger einen Schlüssel, für den es kein Schloss mehr gibt und schleicht sich zur Müllwohnung hinauf. Ein helles, metallisches Geräusch erklingt. Am Morgen klingelt es an der Tür. Ein Mann, auf dessen blauem Overall ,Schlüsseldienst‘ steht, sagt: „Hören Sie, der Mann da oben hat den Schlüssel im Schloss abgebrochen und sagt, er war‘s nicht. Wie der wohnt! Der gehört doch in die Klapse.“ Taitinger nickt leidgeprüft. Als der Mann weg ist, geht er hoch und klopft. „Ich habe Geld für Sie!“ ruft er. Krollmann öffnet die Tür. „3.000 Euro,“ sagt Taitinger. „Ich besorge eine Wohnung. Ich organisiere den Umzug. Das alles wird Sie nichts kosten. Und obendrein 3.000 Euro.“ „Sie wollen mich loswerden,“ sagt Krollmann. „Stimmt,“ sagt Taitinger. „Ich bespreche es mit meinem Anwalt,“ sagt Krollmann und schließt die Tür. „Was für 3.000 Euro will Krollmann nicht?“ fragt seine Frau, als sich Taitinger abends an den Tisch setzt. Er erklärt es. Sie sagt, Krollmann finde die Summe zu gering. Bei 10.000 Euro würde er es sich überlegen. Taitinger vergräbt das Gesicht in den Armen. Eine kleine Hand streicht über seinen Kopf. „Taiti is rot,“ sagt ein Stimmchen. Es stimmt. Er weiß nicht mehr wohin mit seiner Wut. „Jetzt gibt es Krieg,“ sagt Taitinger dumpf. „Er hatte die Wahl.“ „Taiti kai Katsch,“ kräht das wonnige Kind. Taitinger hebt es hoch und drückt es an sich. Am Abend wiederholt sich das Spiel mit dem Schlüssel. Nachts um halb eins werden Taitingers aus dem Schlaf gerissen. Es klopft und klingelt und hämmert an der Tür. Taitinger öffnet benommen. Dort steht Krollmann, seine Hände um ein Schriftstück geklammert, das er ihm entgegen hält. „Das ist eine richterliche Verfügung,” kreischt er. „Sie dürfen mich nicht am Betreten meiner Wohnung hindern.” Wie kommt dieses Würstchen innerhalb eines mickrigen Tages zu einer richterlichen Verfügung, während er sich seit Wochen umsonst abmüht, irgendetwas zu erreichen? Taitinger knüllt das Papier zu einer Kugel und wirft es in den Hausflur. „Das ist eine dämliche Kopie,” plärrt Krollmann und klärt ein für alle Mal die Frage nach seinem Geisteszustand. Taitinger zieht seine schweren Arbeitsschuhe an, stößt Krollmann beiseite und stampft die Treppe hinauf. Vor der Eingangstür hebt er ein Bein. „Was…was machen…” stammelt Krollmann, aber es ist zu spät. Begleitet von einem lauten Schrei tritt Taitinger die Tür ein, die nach Innen fliegt. Er schüttelt seinen Fuß aus und geht die Treppe herunter. „Halt,” schreit Krollmann, „wer … die Tür … zu?” Taitingers Blick ist mörderisch. „Davon steht nichts in der Verfügung,” brüllt er, „davon nicht.” Manchmal ist das Leben nicht schön, trotzdem will es gelebt werden. Die Gerüstbauer haben um das Haus ein Gerüst hochgezogen. Taitinger hat alle Fenster ausgemessen bis auf die von Krollmann natürlich. Morgen früh um acht verfällt das Sonderangebot, das ihm der Schreiner gemacht hat. Seine Frau verkneift sie sich jedes Wort. Sie verzieht sich mit dem Kleinen ins Kinderzimmer. Kluge Frau. Die Digitaluhr am Fernseher zeigt drei Fünfer, als Taitinger vollständig bekleidet auf der Couch erwacht. Die Wut überfällt ihn gnadenlos. Er erklimmt die Leiter des Baugerüstes, das sich rund ums Haus zieht. Er trampelt die Bretter entlang, die zu Krollmanns Schlafzimmer führen. Vor dessen Fenster greift er mit den Händen um die Metallstrebe über seinem Kopf und drückt sich über die Kante der Bretter nach hinten. Seine Armmuskeln ziehen seinen Körper hoch, gleichzeitig stößt er sich mit den Füßen ab. Der Schwung trägt ihn, Füße voran, zum Fenster. Er streckt die Beine. Glas splittert, der Holzrahmen zerbirst, Fensterteile fliegen krachend ins Zimmer. Taitinger segelt hinterher und landet neben Krollmanns Bett auf seinem Allerwertesten. Taitingers Wut ist ein bisschen verraucht und so ruft er: „Morgen, Krollmann, wollte mal nachsehen, ob Sie gut geschlafen haben.“ Krollmann hat sich zitternd an sein Kopfkissen gekrallt. Er greift vom Nachttisch eine Stabtaschenlampe. Als Taitinger versucht, auf die Füße zu kommen, haut er sie ihm auf den Kopf. Taitinger stemmt sich nach oben, er will stehend dem Unheil begegnen. Das ist ein Fehler, denn Krollmann nutzt den Schwung, hebt seine Beine vom Boden und bugsiert ihn auf das Fensterbrett. Er stemmt die Arme gegen Taitingers Leibesmitte und schiebt ihn langsam über die Fensterbrüstung. Taitinger krallt sich an Krollmanns Armen fest, dann fällt er aus dem Fenster und zieht ihn hinterher. Beide liegen auf dem schmalen Brett des Gerüstes, Bauch auf Bauch, in einer obszönen und hundert Prozent unfreiwilligen Umarmung. Sachte dreht sich das Brett und spuckt seine Last Richtung Straße. Die Körper der Kontrahenten wirbeln durch die Luft. Krollmann haut es in den Asphalt. Mit einem dumpfen Laut landet Taitinger auf ihm und macht die Sache nicht besser. Am Gartentor steht barfuß und im Schlafanzug das wunderbare Kind. „Taiti Katsch?” sagt der Kleine. Dann brüllt er los. „Papa,” heult er laut, „Papa.” Krollmann, der durch intensives Anstarren der Bürgersteigrinne sein Bewusstsein zu behalten versucht, sieht das Kind. Und weiter hinten den Porsche, der wie jeden Morgen in einem Höllentempo die Straße hinunterbraust. Das Kind rennt heulend auf die beiden Männer in ihrer befremdlichen Umarmung zu. Krollmanns Hand langt zum Rinnstein. Er hat etwas gesehen, das vielleicht hilft. Er ballt die Hand darum. Er keucht vor Anstrengung, aus seinem Mund fließt Blut. Trotzdem lässt er den Arm über den Kopf hinweg sausen und öffnet die Hand. Taitinger merkt, wie Krollmann unter ihm zappelt, aber er hat nur Augen für seinen weinenden Sohn. Als er die Augen schließen will, um das Unvermeidliche nicht mitansehen zu müssen, fliegt etwas Dunkles durch die Luft. Es prallt mit erstaunlicher Wucht auf die Windschutzscheibe und überzieht sie mit einem Spinnennetz aus brüchigem Sicherheitsglas. Die Bremsen quietschen, das Auto kommt schräg auf der falschen Fahrbahnseite zum Stehen. Der Porschefahrer springt aus dem Wagen und kreischt: „Welcher Arsch schmeißt hier mit steinalten Kartoffeln?“ Taitinger stöhnt und verliert das Bewusstsein. Taitinger ist mit leichten Verletzungen davongekommen. Eine Verfügung verbietet ihm, sich Herrn Doktor Krollmann auf weniger als fünfzig Meter zu nähern. Heute muss er zum Gericht. Krollmann, der mit Lungen- und Milzriss, drei Rippenbrüchen und Brustwirbelquetschung im Krankenhaus liegt, wird von seinem Anwalt vertreten. Der wird verlegen, als der Richter ihn darauf hinweist, wie wenig vorausschauend es von ihm war, Krollmann von den 3.000 Euro abzuraten. Der Richter spricht von zerrüttetem Verhältnis. Es fallen die Worte verantwortungslos, infantil und Gemeinwohlgefährdend. Erst zum Schluss kapiert Taitinger, dass Krollmann ausziehen muss. Er ist viel weniger glücklich als erwartet. Seine Frau hat Krollmann im Krankenhaus besucht und sich bei ihm bedankt. Taitinger darf nicht mal seinen von Herzen kommenden Dank aussprechen. Zu Hause kehrt der Alltag zurück. Sein Sohn ist durch nichts zu bewegen, das hinreißende ,Papa‛ zu wiederholen. Taitinger steht in der Küche am Fenster und starrt auf die Straße, auf der sich so gar nichts tut.